Knick in der Optik

Es ist nicht gerade einfach, im Leben immer objektiv zu sein, immer rein sachlich zu urteilen, also eine Sache genau so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit auch ist und nicht so oder nur so, wie sie mir bloß scheint oder vielleicht sogar nur so, wie ich sie mir wünsche. Nur allzu leicht mischen sich unter die persönlichen, rationalen Urteile irrationale Vor-Urteile, die den eigenen Vor-Lieben entspringen und den nüchternen Blick des Geistes trüben. Man bekommt einen „Knick in der Optik“, wie es die Alltagssprache ausdrückt. In der Schule lernt man, ein ins Wasser gehaltener Stock erscheint nicht mehr gerade, sondern geknickt, weil Wasser und Luft unterschiedliche Dichten haben, weshalb das Licht an der Übergangsfläche „gebrochen“ wird. Der Stock erscheint deshalb, sobald man ihn ins Wasser hält, als wäre er abgeknickt, obwohl er ganz gerade ist. Ebenso kann es auch beim Urteil des Menschen geschehen, daß der Blick unseres Geistes einen Knick erhält, weil die eigenen Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit im Einklang stehen. Wenn jemand sodann nicht mehr bereit ist, sich von Sachgründen korrigieren zu lassen, hat er einen dauernden Knick in seiner geistigen Optik und wird zum Ideologen, d.h. er ist fortan gewohnt, sich alles gemäß seinem eigenen Vorurteil zurechtzubiegen.

Aufgrund des im amtskirchlichen Bereich überall herrschenden Modernismus und des Fehlens von lehramtlichen, also von sachlich korrigierenden, der Wahrheit entsprechenden, wiederherstellenden Urteilen, sind die Katholiken heute in der ständigen Gefahr, sich selbst, also ihre eigene, subjektive, beschränkte und darum oft ungenügende Einsicht zur letzten Richtschnur ihres Glaubens zu erheben. In dem Augenblick, in dem dies geschieht, degeneriert ihr Glaube zum Irrglauben. Mit anderen Worten: sie bekommen einen Knick in ihrer Glaubens-Optik. Wobei die wenigsten von ihnen dies noch wahrnehmen, weshalb sie nur allzu schnell unkorrigierbar werden und sich in ihrer Ideologie verhärten.

Das in Traditionskreisen recht verbreitete Blättchen „Mysterium Fidei“ greift in fast regelmäßigen Abständen das Thema der hl. Messe des hl. Pius V. auf und argumentiert gegen jene, die sich auf den Ritus von 1962 fixiert haben. Der Herausgeber von „Mysterium Fidei“, Herr Hans Suess, beruft sich in seiner Argumentation grundsätzlich auf die Bulle Quo Primum des hl. Pius V., in der dieser betont: „Überhaupt keinem Menschen also sei es erlaubt, dieses Blatt, auf dem Erlaubnis, Beschluß, Anordnung, Auftrag, Vorschrift, Bewilligung, Indult, Erklärung, Wille, Festsetzung und Verbot von Uns aufgezeichnet sind, zu verletzen oder ihm im unbesonnenem Wagnis zuwiderzuhandeln. Wenn aber jemand sich herausnehmen sollte, dies anzutasten, so soll er wissen, daß er den Zorn des Allmächtigen Gottes und Seiner Heiligen Apostel Petrus und Paulus auf sich ziehen wird.“

Da auch viele Anhänger der Piusbruderschaft das Blättchen von Herrn Suess beziehen, fühlte sich die FSSPX-Führung schon öfter genötigt, zu dem Thema Stellung zu nehmen. Wir beziehen uns im Folgenden vornehmlich auf den „Wochenbrief des Priesterseminars Herz Jesu“ vom 18. März 2011, in dem die geläufigsten, von dieser Seite meist vorgebrachten Argumente leicht überschaubar zusammengefaßt werden. Im Vorwort zu dem eigentlichen Text, der „im Wesentlichen dem Schweizer Rundbrief der Priesterbruderschaft vom Dezember 2003 entnommen“ ist, heißt es: „Eigentlich sollte man den Aussagen von Herrn Suess keine Bedeutung beimessen, zumal er sich ein theologisches und liturgiegeschichtliches Urteil anmaßt, das er ganz offensichtlich nicht besitzt. Aber durch sein ständiges Wiederholen (ohne dass er je theologische Argumente liefert!) stiftet er bei gewissen Gläubigen Unruhe und verunsichert sie.“ Gehen wir diesem Vor-Urteil einmal nach, indem wir die Argumente der FSSPX, die hier gegen Herrn Suess angeführt werden, überprüfen.

In einem ersten Punkt geht der Wochenbrief auf die „Möglichkeit einer liturgischen Entwicklung“ ein und zitiert sodann Pius XII. mit seiner Enzyklika „Mediator Dei“: „Die kirchliche Hierarchie hat jederzeit von ihrem Recht in liturgischen Dingen Gebrauch gemacht; sie hat den Gottesdienst eingeführt, geregelt und mit immer neuer Pracht und Würde zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gläubigen bereichert. Sie hat auch kein Bedenken getragen – immer unter strenger Wahrung der wesentlichen Eigenart des eucharistischen Opfers und der Sakramente – zu ändern, was sie nicht für angebracht hielt; hinzuzufügen, was geeignet schien zur größeren Verherrlichung Jesu Christi und der Heiligsten Dreifaltigkeit, wie zur Belehrung und heilsamen Ansporn des christlichen Volkes.“

Pius XII. weist also darauf hin, daß die Kirche zu jeder Zeit das Recht und die Pflicht hat, den Gottesdienst – immer unter strenger Wahrung der wesentlichen Eigenart des eucharistischen Opfers und der Sakramente – zu regeln. Man muß wohl zugestehen, daß Herr Suess im Eifer des Gefechts in seiner Argumentation für das Meßbuch des hl. Pius V. und gegen das Meßbuch Johannes XXIII. den Bogen zuweilen überspannt und zu viel behauptet. Dennoch stellt sich uns die Frage, ob dementgegen die Darstellung der FSSPX die eigentliche Sache trifft, um die es hierbei geht? Kann der Papst ganz willkürlich die Liturgie ändern – solange er nicht das Wesen des Sakramentes antastet? So könnte man doch wohl die These der FSSPX formulieren. Um zu zeigen, um was es in der Frage nach dem 62er Ritus eigentlich geht, wollen wir dem von der FSSPX zitierten Text aus der Enzyklika Mediator Dei einen weiteren Text aus derselben Enzyklika entgegenstellen: „Denn wie kein vernünftiger Katholik in der Absicht, zu den alten, von den früheren Konzilien gebrauchten Formeln zurückzukehren, die Fassungen der christlichen Lehre ablehnen kann, welche die Kirche unter der Leitung des Hl. Geistes in der neueren Zeit mit reicher Frucht gegeben und als verbindlich erklärt hat; oder wie kein vernünftiger Katholik die geltenden Gesetze ablehnen kann, um zu den aus den ältesten Quellen des kanonischen Rechts geschöpften Bestimmungen zurückzugehen — so ist gleichermaßen, wenn es sich um die heilige Liturgie handelt, offensichtlich der von keinem weisen und gesunden Eifer getrieben, der zu den alten Riten und Bräuchen zurückkehren wollte und die neuen ablehnte, die doch unter dem Walten der göttlichen Vorsehung mit Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse eingeführt worden sind. Diese Denk- und Handlungsweise läßt jene übertriebene und ungesunde Altertumssucht wiederaufleben, der die ungesetzliche Synode von Pistoja Auftrieb gegeben hat, und ebenso trachtet sie die vielfachen Irrungen wieder auf den Plan zu rufen, welche die Ursache zur Berufung jener Synode waren, aus ihr zum großen Schaden der Seelen sich ergaben, und welche die Kirche, die immer treue Hüterin des ihr von ihrem Stifter anvertrauten Glaubensgutes, mit vollem Recht verworfen hat. Denn solch verkehrtes Beginnen geht nur darauf aus, die heiligmachende Tätigkeit zu schmälern und zu schwächen, durch welche die Liturgie Gottes Gnadenkinder auf dem Wege des Heils dem himmlischen Vater zuführt.“

Wie unschwer zu erkennen ist, geht es hier genau um den gegenteiligen Sachverhalt. Die Modernisten hatten nämlich damit begonnen, die Liturgie in ihrem Sinne zu verändern, und sie rechtfertigten alle ihre Änderungen mit der Begründung, man wolle zum Ursprung zurückkehren – wobei nach den Modernisten der Ursprung immer besser sein soll als das, was später gefolgt ist, also als „katholischer“ erscheint. Dieses Argument nennt man Archäologismus, „jene übertriebene und ungesunde Altertumssucht“, wie Pius XII. sagt. Dieser Archäologismus leugnet letztlich die ständige Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Kirche, die dieser immerwährend lenkt – ja unfehlbar lenkt, wenn es sich wie hier um allgemeine liturgische Gesetze handelt.

Wie ist das nun, ist die Reform von Johannes XXIII. im Lichte des ersten oder des zweiten Textes aus der Enzyklika Pius XII. zu beurteilen? Ging es Roncalli darum „zu ändern, was er nicht für angebracht hielt und hinzuzufügen, was geeignet schien zur größeren Verherrlichung Jesu Christi und der Heiligsten Dreifaltigkeit“, oder darum, „jene übertriebene und ungesunde Altertumssucht wiederaufleben“ zu lassen, „der die ungesetzliche Synode von Pistoja Auftrieb gegeben hat“? Offensichtlich ist die Sache durchaus nicht so einfach, wie es der Text des Wochenbriefes seinen Lesern vorgaukelt. Wenn man eine liturgische Veränderung recht beurteilen will, so muß man gut unterscheiden, welcher Geist dahinter steht. Es gilt auf den Zusammenhang zu achten, die Umstände zu erwägen und das Ziel dieser Änderung ins Auge zu fassen. Nur so kann man die Berechtigung einer liturgischen Änderung erkennen. In unserer konkreten Frage heißt das: Was geht dem Meßbuch von 1962 voraus und welche Absicht hatte Johannes XXIII., als er dieses Meßbuch einführte? Es sei hierzu auf den ausführlichen Artikel „Liturgische Metamorphose“ hingewiesen, in dem aufgezeigt wird, wie lange die Modernisten schon daran arbeiteten, den Ritus der hl. Messe abzuändern, und wie sie beharrlich versucht haben, Schritt für Schritt ihre Ziele zu erreichen.

Wenn also auch vielleicht Herr Hans Suess manchmal des Guten zu viel beweisen will, so ist doch sein grundlegendes Gespür, daß hier – also im Jahre 1962 – schon etwas nicht mehr stimmt und auch schon manch Unstimmiges geschehen ist, durchaus richtig. Es geht letztlich darum, was denn nun für einen katholischen Ritus unerläßlich gefordert ist und was nicht. Wann entspricht ein Ritus nicht mehr dem, was von Gott gewollt und gefordert wird? In der Beantwortung dieser Frage stottert die Logik der FSSPX-Ideologen erheblich. Einerseits zitieren sie das Kirchenrecht: „Die zuständige Behörde für den Erlass liturgischer Bestimmungen und die Gutheißung liturgischer Bücher ist einzig und allein der Apostolische Stuhl.“ Anderseits setzen sie sich über diesen Grundsatz sofort wieder hinweg, denn sie orientieren sich ja nicht an der zuständigen Behörde, nämlich ihrem Papst, sondern sie bestimmen willkürlich, daß für sie der Ritus von 1962 gilt und dieser allein der richtige Ritus ist. Wieso aber gerade der Ritus von 1962? Haben nicht alle vorhergehenden Bücher auch die Zustimmung des Heiligen Stuhles gehabt? Warum also den Ritus gerade im Jahre 1962 „einfrieren“, wie es ein Autor der Tagespost einmal recht glücklich und äußerst treffend formuliert hat? Das eigentliche Problem liegt doch wohl darin: Die Fixierung der FSSPX-Ideologen auf den 62er Ritus erfolgte durchaus nicht, wie in dem Text behauptet, aus theologischen Gründen, sondern allein aus pragmatischen Gründen und wohl letztlich vor allem aus kirchenpolitischen Rücksichten, ist also ihrerseits vollkommen willkürlich, wie auch Mgr. Lefebvre offen sagt und was man in dem Wochenbrief aus dem deutschen Seminar der FSSPX ebenfalls nachlesen kann: „Doch um der Konformität innerhalb der Bruderschaft willen beschlossen wir, uns den Ausgaben von 1962 und auch dem Kalender anzupassen, da wir die Vorteile als größer einschätzten als die Unzuträglichkeiten.“

Seit wann ist die „Konformität innerhalb der Bruderschaft“ ein theologischer Grund? Warum hat die FSSPX eigentlich nicht auch noch den 65er Ritus akzeptiert, der doch entsprechend der Argumentation derselben ebenfalls keine wesentliche Änderung gegenüber dem 62er Ritus darstellt? Etwa weil hier die Unzuträglichkeiten größer einzuschätzen waren als die Vorteile? Wie gesagt, wesentliche Bedenken kann es jedenfalls gegenüber dem 65er Ritus von Seiten der FSSPX ebenfalls nicht gegeben haben - schließlich wurde dieser sogar in den Anfangsjahren in Ecône noch gefeiert. Übersieht man das Ganze, dann erkennt man allmählich die Gefahr, daß man bei dieser Art der Argumentation anfängt, mit dem Begriff „wesentlich“ zu spielen, um sich damit in einen liturgischen Freiraum gegenüber dem immer noch als legitime Autorität anerkannten modernistischen Rom zu retten. Man blendet plötzlich aus, daß es immer das aktuelle, lebendige Lehramt sein muß, das den wahren, katholischen Ritus festlegt, und vergißt einfach, jede Wahl entgegen einem als legitim anerkannten Lehramt ist und bleibt immer willkürlich, ja unkatholisch. Hinzu kommt ein Weiteres: Warum sollte gerade der (vor-)letzte Ritus vor der Einführung von Montinis Neuer Messe noch der Richtige sein? Ist es nicht äußerst naiv zu glauben, die Modernisten hätten keine Vorarbeit geleistet? Ist es nicht völlig blauäugig zu behaupten, die Modenisten hätten die Neue Messe in keiner Weise vorbereitet – also gerade auch durch die vielen, schon unter Pius XII. begonnenen Reformen bis 1965 bzw. 1967? Ist denn die Neue Messe einfach vom Himmel gefallen? Gilt es deswegen nicht notwendiger Weise auch außerwesentliche Gründe zu beachten und solche ernst zu nehmen? Denn es ist doch schwer anzunehmen, daß die Modernisten sofort das Kind mit dem Bade ausschütteten.

Wie kann Mgr. Lefebvre allen Ernstes schreiben: „Denn wir halten mit Recht dafür, dass die Ordo Missae-Ausgabe von 1962 dem Ordo des hl. Pius V. und des hl. Pius X. vollkommen entspricht. Ein Aufstellen wesentlicher Unterschiede zwischen der Ausgabe von 1962 und den Ordos des hl. Pius V. und des hl. Pius X. bekundet eine formalistische und jansenistische Mentalität.“? Was heißt hier wesentlich? Und welche vernünftigen Gründe könnten den Vorwurf rechtfertigen, jemand, der wesentliche Unterschiede zwischen dem Ritus von 1962 und dem des hl. Pius V. aufstelle, bekunde damit „eine formalistische und jansenistische Mentalität“? Gilt das nicht viel eher für Lefebvre selbst?

Ja, wollte man diese Art Argumentation ernst nehmen, dann bräuchte der Priester immer nur die Wandlungsworte sprechen – nicht mehr, denn alles andere wäre ja nebensächlich und somit unwesentlich – und er hätte immer noch das Wesen der hl. Messe nicht verändert? Die hl. Kirche sagt uns jedoch, daß eine solcherart verstümmelte hl. Messe zu zelebrieren eine schwere Sünde wäre, weil das hl. Sakrament notwendigerweise einen Deuteritus braucht, also durch den Ritus theologisch interpretiert werden muß. Die hl. Messe ist keine Gnadenmaschine, die automatisch bestimmte Gnaden produziert. Wenn das Sakrament auch ex opere operato wirkt – also bei den Wandlungsworten das Wunder der Wandlung geschieht und das Opfer des Neuen Bundes vollzogen wird –, so heißt das nicht, daß nicht der ganze Ritus eine berechtigte Bedeutung hat und nicht ebenfalls notwendig wäre. Immerhin müssen selbst die FSSPX-Ideologen zugeben: „Wenn wir das Messbuch 1962 als katholisch betrachten und die Änderungen als unwesentlich bezeichnen, so wollen wir damit nicht sagen, dass wir über alles ganz glücklich sind. So kann man es z. B. bedauern, dass die Oktav von Fronleichnam nicht mehr gefeiert wird.“

Man meint, nun müsse doch die entscheidende Einsicht folgen, daß es auch eine Veränderung durch Unterlassung gibt, die durchaus auch schädlich zu nennen ist. Wollten doch die Modernisten den Ritus, wie schon kurz erwähnt, zunächst „nur“ vereinfachen, weil er damit angeblich den Ursprüngen näher kommen würde – und natürlich für die modernistische Deformation geeigneter wäre. Je einfacher der Ritus gestaltet ist, desto näher steht er schon dem Ziel, nämlich der Neuen Messe! Aber nein, keinerlei derartige Einsicht ist in Sicht, sondern: „Aber dies berechtigt uns noch lange nicht, diese Reform abzulehnen, sonst verfällt man unweigerlich einem Subjektivismus, der im Gegensatz steht zu einem wahrhaft kirchlichen Verhalten.“

Wir wollen das Stichwort vom Subjektivismus aufgreifen und versuchen diesen Vorwurf etwas zu präzisieren, also aus dem rein Gefühlsmäßigen in eine rationale Ebene emporzuheben. Gehen wir deswegen auf eine andere Aussage des FSSPX-Textes ein, mit der man letztlich obige Aussage ergänzen muß, wird sie doch durch diese notwendig bedingt. Da heißt es: „Anders verhält es sich mit der Neuen Messe Pauls VI. von 1969. Diese lehnen wir ab, weil bei der 'Reform' die hl. Messe wesentlich geändert, verstümmelt, ja sogar teilweise zerstört worden ist. Und zwar handelt es sich gar nicht um eine Reform, sondern im wesentlichen um eine Neuschöpfung, es ist tatsächlich eine Neue Messe, die wegen ihrer neuen Theologie und wegen ihres protestantischen Geistes eine Gefahr für den Glauben und folglich auch für das Seelenheil darstellt. Und deswegen müssen wir sie ganz entschieden ablehnen.“ Und weiter unten nochmals, etwas pointierter formuliert in einem Zitat von Mgr. Lefebvre: „Darum weisen wir die Neue Messe (Pauls VI.) zurück. Weil diese den Geist der Sühne und den Geist der Erlösung im Blute Christi nicht weiterführt. Dieser neue Ritus war als ein neuer gewollt. Paul VI. hat selbst gesagt: ,Wir geben den alten Ritus auf, um einen neuen zu machen.’ (Wegen dieser Neuheit) weisen wir den neuen Ritus zurück, da er den Geist der Sühne und Wiedergutmachung nicht hat und dem Geist des protestantischen Abendmahls nahe kommt. Die Neue Messe atmet den protestantischen Geist und wurde aus ökumenischen Überlegungen eingeführt. Sechs protestantische Theologen haben mitgearbeitet. Das wollen wir nicht. Wir wollen das katholische Opfer, das wesentlich ist für die Kirche.“

Nach diesen beiden Texten ist also die Neue Messe eine wesentliche „Neuschöpfung, die wegen ihrer neuen Theologie und wegen ihres protestantischen Geistes eine Gefahr für den Glauben und folglich auch für das Seelenheil darstellt“. Ja, sie ist kein „katholisches Opfer“, weshalb man sie ablehnen muß! Hierzu eine beileibe nicht unwichtige Frage: Woher wissen die FSSPX-Ideologen das denn so genau – und wie können sie so etwas behaupten, obwohl dieser Ritus doch von ihrem Papst für die ganze Kirche vorgeschrieben wurde und solch allgemeine liturgischen Gesetze unter die Unfehlbarkeit der Kirche fallen? Wie können sie die Neue Messe „eine Gefahr für den Glauben und folglich auch für das Seelenheil“ nennen und gleichzeitig die diesen Ritus für die ganze Weltkirche vorschreibende und diesen Ritus täglich zelebrierende römische Autorität als legitim anerkennen – ohne damit ihren katholischen Glauben zu verlieren, weil sie notwendiger Weise die Unfehlbarkeit der Kirche bei allgemeinen liturgischen Gesetzen leugnen und zugleich behaupten müssen, die heilige katholische Kirche könne einen Ritus haben, der „eine Gefahr für den Glauben und folglich auch für das Seelenheil darstellt“? Entspricht diese Behauptung nicht genau der auf der Synode von Pistoia vorgetragenen und von der Kirche verurteilten These, in der kirchlichen Disziplin müsse „das, was notwendig oder nützlich ist, um die Gläubigen im Geiste zu erhalten, von dem unterschieden werden, was unnütz oder lästiger ist, als es die Freiheit der Kinder des neuen Bundes erträgt, aber mehr noch von dem, was gefährlich oder schädlich ist, da es zum Aberglauben und Materialismus führt, insofern sie angesichts der Allgemeinheit ihrer Worte auch die von der Kirche festgesetzte und gebilligte Ordnung umfaßt und der eben beschriebenen Prüfung unterwirft, so als ob die Kirche, die durch den Geist Gottes geleitet wird, eine Ordnung festsetzen könnte, die nicht nur unnütz ist und lästiger, als es die christliche Freiheit erträgt, sondern sogar gefährlich, schädlich und in Aberglauben und Materialismus führend wäre, falsch, leichtfertig, Ärgernis erregend, verderblich, für fromme Ohren anstößig, gegenüber der Kirche und dem Geist Gottes, durch den sie geleitet wird, ungerecht, zumindest irrig“ (Pius VI. Bulle „Auctorem fidei” vom 28. August 1794. DS/DH 2678)?

Offensichtlich war Pius VI. noch der festen Überzeugung, daß die Kirche Gottes, die makellose Braut Jesu Christi durchaus keinen Ritus haben könne, der nicht nur „unnütz ist und lästiger, als es die christliche Freiheit erträgt, sondern sogar gefährlich, schädlich und in Aberglauben und Materialismus führend wäre“. Die FSSPX dagegen muß annehmen und lehren, die Neue Messe sei „eine Gefahr für den Glauben und folglich auch für das Seelenheil“, und der Papst, der diese Messe eingeführt und für die ganze Kirche vorgeschrieben hat, ist dennoch der legitime Papst. Auf die Folgen dieses Irrsinns, anders ist dieser Widerspruch kaum zu benennen, haben wir inzwischen schon öfters hingewiesen.

Es zeigt sich uns wieder einmal das grundlegende Vorgehen dieser Art von Traditionalisten: sie spielen gegenüber dem modernistischen Rom selbst Lehramt und konstruieren mehr und mehr ein Ersatzlehramt, dessen Urteile sie sodann blind übernehmen. Durch dieses inzwischen vollkommen eingefahrene Verhalten haben sie sich daran gewöhnt, ihr persönliches Urteil ganz selbstverständlich über das Urteil des römischen Lehramtes zu stellen, genauso wie die Gallikaner, Jansenisten und Altkatholiken. In dem Wochenbrief aus Zaitzkofen heißt es dem vollkommen entsprechend: „Auch wenn sich Erzbischof Marcel Lefebvre nie als 'Führer der Traditionalisten' sah, so kommt doch seinem Urteil, seinem Weg und seinem Beispiel ein ganz besondere Bedeutung zu, und es ist gefährlich – wie wir ja schon so oft bei Mitbrüdern und Gläubigen feststellen mussten –, sich aus subjektiven und unlauteren Gründen in Fragen, die wirklich die Kirche, den Glauben und ihre Hierarchie betreffen, über das Urteil dieser bischöflichen Stimme sich glauben hinwegsetzen zu können.“ Charismatisches Lefebvrelehramt muß man das wohl nennen.

Noch eine wichtige Bemerkung zur Neuen Messe als Neuschöpfung und der Reform der Karwoche, die sich im 62er Missale findet. In dem Wochenbrief beginnt der Schreiber direkt zu schwärmen: „Die Liturgiefeiern der Karwoche (Gründonnerstag, Karfreitag und Osternacht) würden am Morgen stattfinden; die Osternachtliturgie würde am Karsamstagmorgen gefeiert. Dann hätten wir an diesen Tagen wieder leere Kirchen ('ecclesiarum aulis saepe quasi desertis') wie vor der Reform von Pius XII. im Jahre 1955. Gerade um die Gläubigen wieder zur Mitfeier der Heilsmysterien anzuregen, hat der genannte Papst die Karwoche neu geordnet.“ Offensichtlich hat man sich im Priesterseminar der FSSPX noch niemals ernsthaft mit der Frage der Reform der Karwoche beschäftigt. Denn, „um die Gläubigen wieder zur Mitfeier der Heilsmysterien anzuregen“, wäre es in keiner Weise notwendig gewesen, die ganze Karwoche neu zu ordnen, sondern nur die Zeiten zu ändern. Dagegen wird jeder unbefangene Leser zugeben müssen, daß zumindest die Texte der Palmweihe und Palmprozession, die Liturgie des Karfreitags und des Karsamstags von Bugnini frei erfunden worden sind, also keinerlei Vorbild in der Tradition haben. Hierin gleichen diese Liturgien vollkommen der Neuen Messe! Ist nun eine solche Neuschöpfung keine wesentliche Veränderung, während sie es bei der Neuen Messe ist? Ja, kann man katholische Liturgie überhaupt am Schreibtisch neu erfinden? Es soll in diesem Zusammenhang nochmals auf den Artikel „Liturgische Metamorphose“ verwiesen werden, der sich bemüht, die ganze Tragweite dieser liturgischen Veränderungen chronologisch aufzuarbeiten.

Kommen wir noch auf ein Argument zu sprechen, das durchaus auf das Innerste der hl. Messe zielt, nämlich auf den Kanon der hl. Messe. Unter der Nummer 5 „Liturgische Änderungen bis zum Messbuch 1962“ steht: „1960 bis 1962: Der Name des hl. Josef wird in den Kanon eingefügt“. Diese Tatsache wird hier im Wochenbrief des Seminars der FSSPX einfach neben eine Reihe anderer Änderungen seit Pius V. gestellt, ohne irgendeine Bemerkung dazu zu machen! Man hätte immerhin darauf hinweisen können, daß es eine Änderung im Kanon der hl. Messe seit Pius V. niemals gegeben hat. Doch solche Bedenken übergeht man gelassen und weist als Alibi stattdessen gerne darauf hin, daß es bereits unter Pius IX. Bestrebungen gab, den hl. Josef in den Kanon aufzunehmen, und die Anhänger der FSSPX ziehen daraus den recht fromm klingenden Schluß: Der hl. Josef hat dort seinen Platz als Patron der Kirche sicher verdient.

Dieses Argument erweist sich jedoch, sobald man es als echtes Argument gebraucht und ganz einfach zuende argumentiert, als ein wahrer Bumerang. Es stimmt zwar durchaus, daß es bereits unter Pius IX. Bestrebungen gab, den hl. Josef in den Kanon aufzunehmen. Nun verschweigt aber offensichtlich die FSSPX das Entscheidende, nämlich, wie Pius IX. dieses Ansinnen beurteilt hat. Sie verschweigt das wohl deshalb, weil die Antwort des Papstes nicht entsprechend ihrer Ideologie ausfällt. Anstatt sich also zu sagen: „Das Urteil Pius IX., eines – in der FSSPX Diktion gesprochen – noch zweifellos katholischen Papstes, ist doch für mich eine echte, brauchbare und verbindliche Richtschnur, weil es noch ein wahres Urteil des Lehramtes der Kirche darstellt“, läßt man einfach nur die bloße Tatsache stehen – damals wollte man auch schon den hl. Josef in den Kanon aufnehmen – und suggeriert damit das Urteil: berechtigter Weise aufnehmen!

Nun, wie urteilte aber Pius IX. bezüglich dieses Ansinnens tatsächlich? Er sagte ganz einfach und definitiv „Nein!“ Und die Begründung ist genauso einfach und definitiv: Man ändert den Kanon, ein Jahrhunderte altes, bis auf die Apostel zurückgehendes liturgisches Gebet der Kirche nicht. Der hl. Josef hat also durchaus keinen Platz im Kanon der hl. Messe der katholischen Kirche!

Kommen wir allmählich zum Schluß unserer Erwägungen. In dem Wochenbrief aus dem Seminar der FSSPX klingt der Schluß so: „Lieben wir nicht nur die hl. Messe, sondern auch ihre 'herrliche Fassung', wie sie die heilige Kirche uns heute gibt, geordnet, geschmückt, gereinigt, erneuert, geheiligt – die immer gleiche altehrwürdige Messe des römischen Ritus.“

Bei diesen Worten fällt einem nur eines ein: Das klingt zwar fromm, ist aber völlig absurd! Denn die „herrliche Fassung“, die uns die „heilige Kirche heute gibt“, muß doch wohl für die FSSPX zunächst die Neue Messe sein, wird doch diese täglich vom Papst ihrer Kirche als „ordentlicher Ritus“ gefeiert und dazu noch von fast allen Priestern der Konzilskirche auf der ganzen Welt, wohingegen die sog. tridentinische Liturgie von ihrem Papst nur als „außerordentlicher Ritus“ wieder zugelassen wurde, wobei dieser außerordentliche Ritus nur von denjenigen gelesen werden darf, die die Theologie des ordentlichen Ritus (Neue Messe) als Grundlage beider Riten anerkennen und infolgedessen natürlich auch bereit sind, die Neue Messe zu lesen. Und das nennt man dann „geordnet, geschmückt, gereinigt, erneuert, geheiligt – die immer gleiche altehrwürdige Messe des römischen Ritus“. Da kann man nur noch erstaunt feststellen: Knick in der Optik!