Atypische Situation

Abbé Claude Barthe ist ein französischer Priester, „Journalist, Liturgiker und Essayist“, wie uns die französische Version von „Wikipedia“ zu berichten weiß. Geboren wurde er am 24. August 1947, trat 1964 in das „Seminar Pius XI.“ zu Toulouse ein, um den „kanonischen Studiengang“ in Philosophie und Theologie zu beginnen, und wurde auf diese Weise „Zeuge der Entwicklungen in der Kirche im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils“. Anschließend erwarb er einen Abschluß in Geschichte sowie ein Diplom in Zivilrecht und trat schließlich in das Seminar der „Piusbruderschaft“ zu Ecône ein, wo er 1979 durch Erzbischof Lefebvre die Priesterweihe empfing.

Mann des „liturgischen Friedens“

Irgendwie, ohne daß wir Näheres darüber erfahren, geriet er an den „Rand“ der „Piusbruderschaft“, ohne „ausgeworfen“ worden oder ausgetreten zu sein, und sogar in den Geruch, ein „Sedisvakantist“ zu sein, was er jedoch stets zurückwies. „Er blieb eine Zeit lang in einem Zustand ‚kanonischer Schwerelosigkeit‘, wie er es ausdrückte“, und wurde schließlich im Jahr 2005 „regularisiert“ und „inkardiniert“, und zwar in der „Diözese“ Fréjus-Toulon, die in den Folgejahren als Hort für „Konservative“ und „Traditionalisten“ Schlagzeilen machen sollte.

Bereits 1987 hatte er zusammen mit einem Kollegen die Zeitschrift „Catholica“ gegründet und sich in der Folge als Autor verschiedener Werke über die „Krise der Kirche“, „katholische Literatur“ und die „römische Liturgie“ hervorgetan. Er war im „Institut vom Guten Hirten“, einem „Pius“-Ableger, als Lehrer tätig und übt dieselbe Tätigkeit derzeit beim „Christkönigs-Institut“. Auch war er aktiv an der berühmt-berüchtigten „Groupe de réflexion entre catholiques (GREC)“ beteiligt, welche als multilaterale offiziöse Arbeitsgruppe in den Jahren ab 1997 den Anschluß der „Piusbruderschaft“ an die „Konziliare Kirche“ vorbereitete und betrieb, der trotz mehrerer Jahrzehnte intensiver Bemühungen auf allen Seiten schließlich scheiterte. Er ist „Aumônier“ der „Summorum-Pontificum“-Wallfahrt, die seit 2012 alljährlich Ende Oktober in Rom stattfindet, um für das „Motu Proprio Summorum Pontificum“ Ratzingers zu danken, welches die Rückkehr der „alten Liturgie in die Kirche bewerkstelligt habe. Kurz, er ist ein Promotor des „liturgischen Friedens“, der „friedlichen Koexistenz beider Riten“ (Lefebvre) in der „Konziliaren Kirche“.

„Atypische kirchliche Situation“

Als solcher hat er eine kurze Arbeit verfaßt, welche am 7. September dieses Jahres auf „Rorate Caeli“ veröffentlicht wurde unter dem Titel „Defending the Traditional Mass with Just Arguments – Theological and Legal“ – „Die Verteidigung der traditionellen Messe mit den richtigen Argumenten – theologisch und rechtlich“. Jene, welche sich der Verteidigung der „traditionellen“ Sache verschrieben hätten, als da sind Liturgie, Katechismus, Widerstand gegen zerstörerische Lehren etc., so will Abbé Barthe beobachtet haben, zögerten oft zuzugeben, daß wir gegenwärtig mit einer „atypischen kirchlichen Situation“ konfrontiert seien, besonders im Hinblick auf die Liturgie. Selbst wenn diese ihr Festhalten an der „alten Liturgie“ nicht auf Gründe des Empfindens, sondern des Glaubens zurückführten, so fühlten sie doch, daß sie ihre Position gegen die Befürworter der „neuen Liturgie“ am wirksamsten verteidigen könnten, indem sie sich auf das Recht der freien Wahl beriefen.

Nun sei es zwar richtig, daß man mit dieser Art von Argumenten angesichts der „allgemeinen katholischen Meinung“ am besten durchkomme, für welche der Liberalismus eine unüberwindliche Hürde darstelle, und das mache sie zwar als Taktik zulässig, rechtfertige sie jedoch nicht. Paradoxerweise werde sogar bisweilen die „traditionelle Lehre“ verdreht, um sich zu verteidigen. Dazu gehöre beispielsweise die extreme Reduzierung der „Lehre vom Gehorsam gegen die kirchlichen Autoritäten und deren Lehramt“. Da die Unterwerfung unter Autoritäten heutzutage dem Gewissen unzumutbar erscheine, kämen „sie“, also wohl die „Traditionalisten“, dahin, die „freie Prüfung“ als allgemeine Lehre der Kirche hinzustellen, bei der jede Person selbst entscheidet, was im Namen der „Tradition“ katholisch sei, deren Hüter letztlich jeder selber ist. Oder sie gehen sogar so weit, die Lehre der „römischen Unfehlbarkeit“ auszuhöhlen, indem sie behaupten, auch der Heilige Stuhl habe häufig irrige Lehren verkündet. Mit anderen Worten, sie übertragen das, was heute in „abnormaler“ Weise geschehe, auf die „frühere Kirche“, und so würden die Anti-Modernisten zu Modernisten. Mit seinen Beobachtungen hat der Abbé nicht unrecht. Wir haben sie auf die eine oder andere Weise ebenso gemacht. Etwas unklar ist uns, was er mit seiner „abnormalen“ oder „atypischen kirchlichen Situation“ meint, aber wir hoffen, das noch herauszubekommen.

Zwei Argumente

Er will sich in seiner Arbeit nur mit den Argumenten zugunsten der „traditionellen Messe“ befassen und besonders zwei herausheben, die oftmals gebraucht würden, um die „freie Wahl zugunsten des traditionellen Missale“ zu begründen. Das erste beruft sich die Bulle „Quo primum“ des heiligen Pius V. von 1570, in welcher festgestellt wird, daß das mit ihr promulgierte Missale „für immer“ benutzt werden dürfe. Das zweite pocht auf das Faktum, daß die Kirche zu allen Zeiten die Legitimität der Verschiedenheit von Riten anerkannt habe. „Im Prinzip sind sie alle relevant“, meint Barthe, „aber nur, wenn wir es vermeiden, sie so zu verwenden, als ob die Umstände, die ihre übliche Verwendung erfordern, die von heute wären“. Schon wieder diese „Umstände“, die „heute“ offensichtlich „abnormal“ sind.

Die Bulle „Quo primum

Das erste Argument also stützt sich auf die Bulle „Quo primum“, die den Gebrauch des „tridentinischen“ Missale „für immer“ legitimiert. Doch müsse, insistiert Barthe, diese Anordnung „im Kontext“ gesehen werden. Ah, ja, wegen der „abnormalen“ Umstände heute, oder? Die „beiden Bullen“ des heiligen Pius V., die eine „Quod a nobis“ vom 7. Juli 1568 betreffend das Brevier, die andere vom 14. Juli 1570 „Quo primum“ über das Missale, seien erfolgt als Antwort auf den Wunsch des Konzils von Trient und sollten die „Vorrangstellung der Bücher der Römischen Kurie vor allen partikulären Gepflogenheiten der lateinischen Welt“ begründen, die nichtsdestotrotz erhalten bleiben durften, sofern sie eine mindestens 200jährige Tradition nachweisen konnten. „In perpetuum“, also „für immer“ wurde es allen römischen Geistlichen erlaubt, das Missale und das Brevier zu benutzen, welches vom Papst promulgiert worden war, und auch in den Kirchen mit eigener mindestens 200jähriger Tradition sollte der Gebrauch der römischen Bücher „in perpetuum“ gestattet sein.

De facto, weiß Claude Barthe als professioneller „Liturgiker“, seien die meisten in der lateinischen Welt gebräuchlichen örtlichen Liturgien bis weit vor das 14. Jahrhundert zurückzuführen, hätten also aufgrund einer über 200jährigen Tradition aufrechterhalten werden können. Dennoch hätten die meisten „Bischöfe und Kapitel“ es vorgezogen, das „neue“ Römische Missale und Brevier zu übernehmen – wenn auch vielleicht manchmal aus rein praktischen Gründen, weil es zu aufwendig und teuer gewesen wäre, eigene Bücher zu drucken, während die römischen verfügbar waren. So wurden die römischen Bücher mehr oder weniger allgemein angenommen, sogar in Frankreich – was in der Tat ein Wunder ist –, bis dort Ende des 17. Jahrhunderts die „neo-gallikanischen“ Diözesanbücher auftauchten, beginnend mit dem „Brevier von Vienne“ im Jahr 1678.

Abgesehen vom visigothischen und mozarabischen Ritus, die an wenigen Orten in Spanien erhalten blieben, gab es kaum lateinische Riten, die nicht römisch waren. Lediglich der ambrosianische Ritus hatte sich in Mailand erhalten, der zwar dem römischen im vielem glich, doch ausreichend viele Eigenheiten hatte, um als eigener Ritus zu gelten, anders als der Ritus von Lyon, die Riten der Kartäuser, Dominikaner oder Prämonstratenser, die nicht wesentlich vom römischen Ritus abwichen. Dasselbe galt für andere Eigengebräuche in diversen Kathedralen, Heiligtümern oder Orden, die ihre eigenen Meßformulare, Präfationen, Hymnen und Sequenzen hatten, während alles andere mit dem römischen Ritus übereinstimmte.

„Für immer“

Barthe zitiert die Bulle „Quod a nobis“ vom 7. Juli 1568, mit welcher der heilige Pius V. das Römische Brevier promulgierte: „Abgesehen von der oben erwähnten Einrichtung oder dem Brauch, der zweihundert Jahre übersteigt […], sind alle, die das kanonische Stundengebet nach dem Brauch und Ritus der römischen Kirche zu beten und zu singen haben […], von nun an auf ewig absolut verpflichtet, das Stundengebet bei Tag und bei Nacht zu beten und zu singen, gemäß den Vorschriften und der Ordnung dieses Römischen Breviers“ (Hervorhebung von uns, ebenso im folgenden). In der Bulle „Quo primum“ vom 14. Juli 1570 zur Promulgation des Römischen Missale heißt es entsprechend: „Ebenso setzen Wir fest und erklären: Kein Vorsteher, Verwalter, Kanoniker, Kaplan oder anderer Weltpriester und kein Mönch gleich welchen Ordens darf angehalten werden, die Messe anders als wie von Uns festgesetzt zu feiern, noch darf er von irgendjemandem gezwungen und veranlaßt werden, dieses Missale zu verändern, noch kann das vorliegende Schreiben irgendwann je widerrufen oder modifiziert werden, sondern es bleibt für immer im vollen Umfang rechtskräftig bestehen.“

Der Vollständigkeit halber fügen wir noch die folgenden Stellen hinzu: „Und daß sie in allen Kirchen bei der gesungenen oder gelesenen Messe ohne Gewissensskrupel oder Furcht vor irgendwelchen Strafen, Urteilen und Rügen von nun an ausschließlich diesem Missale folgen, es unbefangen und rechtens zu gebrauchen imstande und ermächtigt sind, dazu geben Wir kraft Unserer Apostolischen Vollmacht für jetzt und für ewig Unsere Bewilligung und Erlaubnis.“„Damit aber alle das von der Heiligen Römischen Kirche, der Mutter und Lehrerin der übrigen Kirchen, Überlieferte überall erfassen und beachten, setzen Wir durch diese Unsere ewig gültige Konstitution unter Androhung Unseres Unwillens als Strafe fest und ordnen an: fürderhin soll in allen kommenden Zeiten auf dem christlichen Erdkreis in allen Patriarchalkirchen, Kathedralen, Kollegiaten und Pfarreien, in allen weltlichen, klösterlichen – welchen Ordens und welcher Regel sie auch seien, ob Männer- oder Frauenklöster – in allen militärischen und ungebundenen Kirchen oder Kapellen, in denen die Messe des Konvents laut mit Chor oder still nach dem Ritus der Römischen Kirche gefeiert zu werden pflegt oder gefeiert werden sollte, nicht anders als nach dem von Uns herausgegebenen Missale gesungen oder gelesen werden, auch wenn diese Kirchen irgendwelche Ausnahmen genießen, durch ein Indult des Apostolischen Stuhles, durch Gewohnheitsrecht oder Privileg, ja durch Eid oder Apostolische Bestätigung oder irgendwelche andere Besonderheiten bevorzugt sind – außer wenn sie gleich von ihrer vom Apostolischen Stuhl gutgeheißenen Errichtung an oder aus Tradition bei der Meßfeier einen mindestens zweihundertjährigen Ritus in eben diesen Kirchen ohne Unterbrechung eingehalten haben.“

Reformen der „tridentinischen“ Bücher

Trotz dieser Bestimmungen „für immer“ und trotz der Ergänzung, daß „nichts hinzugefügt, weggenommen oder verändert“ werden dürfe, fühlte sich „Rom“ stets frei darin, diese Bücher, gewöhnlich in sehr maßvoller Weise, zu modifizieren, wenn es angebracht erschien. Dennoch betrachtete man sowohl Brevier als auch Missale weiterhin als wesentlich dieselben wie die „tridentinischen Ausgaben“ des heiligen Pius V., was schon daraus hervorgeht, daß „Quod a nobis“ und „Quo primum“ stets als Vorwort abgedruckt wurden. Erst im „Missale von 1965, der ersten Ausgabe der Reform von Paul VI.“ hatte man bezeichnenderweise auf den Abdruck der Bulle „Quo primum“ verzichtet.

Schon die ersten Nachfolger des heiligen Pius V., Clemens VIII. (1592-1605) und Urban VIII. (1623-1644) nahmen Änderungen vor, indem sie etwa die Vulgata-Übersetzung für die Lesungen und Evangelien vorschrieben und neue Offizien einsetzten. Bei der Einführung neuer Heiligenfeste wurden bisweilen neue Meßformulare oder Präfationen verfaßt. So kamen beispielsweise die Präfation für die Verstorbenen, die vom heiligen Joseph, vom heiligsten Herzen Jesu oder vom Christkönig hinzu. In Frankreich existierten bis zur Revolution viele Meßtexte und Hymnen, die in lokalem Gebrauch waren. Erst im 19. Jahrhundert beanspruchte „Rom“ die ausschließliche Zuständigkeit für Änderungen und Hinzufügungen in der Liturgie.

Die einschneidendsten liturgischen Änderungen fanden im 20. Jahrhundert statt. Der heilige Papst Pius X. unterzog das Brevier einer umfangreichen Reform, indem er die Rezitation sämtlicher 150 Psalmen pro Woche und den Vorrang des Kirchenjahres über den Heiligenkalender wiederherstellte. Papst Pius XII. reformierte die Karwoche durch eine „Vereinfachung der Zeremonien und die Wiederherstellung der ‚Wahrheit der Stunden‘ (Messe am Gründonnerstag am Abend, Karfreitagsfeier am Nachmittag und Feier der Osternacht am Samstagabend statt Donnerstagmorgen, Freitagmorgen und Samstagmorgen), die durch die Lockerung des eucharistischen Fastens ermöglicht wurde“.

„Theologische Rechtfertigung“

Durch diese beiden Reformen, so Barthe, seien womöglich einige ehrwürdige Texte und Zeremonien verschwunden, und doch habe nie jemand behauptet, daß Brevier und Missale keine „tridentinischen Bücher“ mehr seien. Das „auf ewig“ oder „für immer“ der Bullen von Pius V. sei kein Hindernis für Reformen gewesen, von denen einige einschneidend waren, aber nicht revolutionär. Somit könne man für die Weigerung der Verwendung der „Neuen Messe“ nur eine theologische Rechtfertigung“ (Hervorhebung original) vorbringen, indem man darauf hinweise, „daß die neue Messe den Ausdruck des eucharistischen Opfers und insbesondere den Ausdruck der Lehre von der Messe als Sühneopfer schwächt“.

Dies, ist Abbé Barthe überzeugt, sei auch der Grund, warum „Joseph Ratzinger“ (warum nennt er ihn nicht „Benedikt XVI.“?) „den Fortbestand der alten Liturgie legalisiert“ habe, „die durch die Texte von 1984 (Quattuor abhinc annos), 1988 (Ecclesia Dei adflicta) und 2007 (Summorum Pontificum) sanktioniert wurde“. Ohne es allzu klar zu sagen (wie es immer schon Ratzingers Art war), habe er „die gewaltsame und radikale Art und Weise“ kritisiert, in welcher „der Umbau durchgeführt wurde“. „Das alte Gebäude wurde abgerissen, um ein neues zu errichten, allerdings unter weitgehender Verwendung von Material und Plänen des alten“, zitiert er aus Ratzingers „Mein Leben“. (Deshalb wohl „Joseph Ratzinger“, weil die „theologische Begründung“ nicht vom „Papst“ stammt, sondern vom Theologen Ratzinger, ehe er noch „Papst“ war, und das noch dazu in einem privaten Buch über „sein Leben“.)

„Andere Messe“

Hinzu komme eine „juridische Begründung“, nämlich die, „daß der Novus Ordo Missæ keine lex orandi im strengen Sinne des Wortes“ sei, „kein Gesetz im strengen Sinne des Wortes“, und das „ganz einfach deshalb, weil dieser neue Ordo, der in hohem Maße variabel und so wenig ritualisiert wie möglich ist, für sich selbst nur eine relative Autorität anerkennt (was an sich schon ein grundlegendes Problem ist)“. In der Tat beinhalte er „eine unendliche Anzahl von möglichen Variationen und Wahlmöglichkeiten in seinen Riten und Formeln, einschließlich der wichtigsten, dem eucharistischen Gebet“.

Insgesamt müsse man feststellen, daß es sich beim „Novus Ordo“ um eine „andere Messe“ handle, die in vielen wichtigen Hinsichten von der „traditionellen römischen Messe“ abweiche. Auf dieser Grundlage sei es durchaus zulässig, das „traditionelle römische Missale“ „für immer“ zu gebrauchen, obwohl der Kontext ein ganz anderer sei als der von 1570 und „Quo primum“ eine solche Verwendung gar nicht vorgesehen hatte – jedenfalls nicht für das römische Missale, sondern nur für die anderen lateinischen Riten, von denen oben die Rede war: der ambrosianische, mozarabische usw. Es sei „höchst wahrscheinlich“, daß Ratzingers „Summorum Pontificum“ vom Jahre 2007, in welchem die „alte Liturgie“ als „usus antiquior“ charakterisiert worden sei, sich implizit auf jene in „Quo primum“ gegebene Regel beziehe, welche die mindestens 200jährigen Traditionen bestehen lasse. Nur daß es in diesem Fall „nicht um das Überleben einer bestimmten Teilkirche oder einer Gruppe von Teilkirchen“ gegangen sei, „sondern praktisch um das der gesamten römischen Kirche“. „So war es das durch Quo primum promulgierte Messbuch, das seinerseits von der in dieser Bulle vorgesehenen Ausnahme der Antike profitierte…“

„Quo primum“ unter den heutigen „Umständen“

Wir wollen hier innehalten und erst einmal sortieren. Wenn wir den Abbé recht verstanden haben, will er zwei Argumente „nachbessern“, die für die Beibehaltung der „Traditionellen Lateinischen Messe“ vorgebracht werden, jedoch den „Umständen“ unserer „abnormalen“ Zeit nicht genügend Rechnung tragen, weshalb man letztlich auf eine theologische Begründung zurückgreifen müsse. Das erste dieser Argumente ist die Bulle „Quo primum“, in welcher der heilige Pius V. bestimmt hatte, daß der „tridentinische“ Meßritus „für immer“ Geltung habe und man ihn niemandem verbieten dürfe. Dieses „für immer“, so Barthe, dürfe man nicht im engen Sinn auffassen, so als ob „Rom“, d.h. der Papst, nichts an diesem Meßritus ändern dürfe. Tatsächlich habe sich „Rom“, d.h. der Papst, stets frei gefühlt, trotz des „für immer“ liturgische Reformen vorzunehmen, seien es kleinere wie bei Clemens VIII. und Urban VIII., oder sogar größere wie bei Pius X. und Pius XII. Das habe niemanden gehindert, diese reformierte Liturgie als „tridentinisch“ aufzufassen. Ganz anders beim „Novus Ordo“, der eine „andere Messe“ sei, die erheblich von der „traditionellen Messe“ abweiche.

Die Bulle „Quo primum“ lasse sich nur insofern unter den heute veränderten Umständen anwenden, als sie einen Freiraum lasse für ältere liturgische Traditionen, die mindestens zweihundert Jahre zurückreichen. Allerdings sei dieser Freiraum gerade nicht für die römische Liturgie gewährt worden, sondern für andere lateinische Riten. Insofern könne man sich heute nur mit den nötigen Modifikationen „mutatis mutandis“ auf jenen Passus beziehen, insofern eben die „Neue Messe“ eine „andere Messe“ sei, der gegenüber die „TLM“ ihre Rechte aufgrund der längeren Überlieferung behaupten könne, wie es Ratzinger durch die Blume angedeutet zu haben scheint. Außerdem könne man ein rechtliches Argument vorbringen und sagen, daß der „Novus Ordo“ angesichts seiner enormen Variablität gar kein „Gesetz im strengen Sinn des Wortes“ und mithin keine eigentliche „lex orandi“ sei. Kurioser Weise profitiere auf diese Weise gerade das „tridentinische“ Missale und damit das „Überleben der gesamten römischen Kirche“ von der Ausnahme, die der heilige Pius V. für die überlieferten Meßbücher von „Teilkirchen oder einer Gruppe von Teilkirchen“ gemacht hatte.

Die Reform des heiligen Pius X.

Soweit Abbé Barthe. Gehen wir seine Aufstellungen ein wenig durch. Er hat vollkommen recht damit, daß das „für immer“ des heiligen Pius V. keineswegs bedeutet, daß künftige Päpste an der „tridentinischen Liturgie“ keine Änderungen vornehmen dürften. Wie seine Beispiele zeigen, haben die Päpste das auch tatsächlich getan, wobei die einschneidendste Reform sicherlich die Brevierreform des heiligen Pius X. war. Er ordnete die Psalmen für das Breviergebet völlig neu an, indem er sie neu verteilte oder auch aufteilte, wenn sie zu lang waren, wie er überhaupt das Stundengebet deutlich kürzte. So wurde etwa die Matutin von 18 Psalmen am Sonntag und 12 Psalmen an Ferialtagen auf jeweils 9 Psalmen gekürzt. Insgesamt kam er so auf eine einigermaßen gleichmäßige Anzahl von Psalmversen, die täglich zu beten waren, nämlich zwischen 360 und 497, während davor das Samstagsoffizium 792 und das vom Sonntag 721 Verse aufzuweisen hatte. (Für diese Angaben stützen wir uns auf die englische Version von „Wikipedia“, die einen eigenen Artikel über die „Reform of the Roman Breviary by Pope Pius X“ hat.)

Der Sinn dieser Neuordnung war die Wiederherstellung der alten Praxis, jede Woche den gesamten Psalter (alle 150 Psalmen) zu rezitieren, weshalb zusätzlich eine Rubrikenänderung erfolgte, welche die Rangfolge zwischen den Sonn- und Ferialtagen sowie den Heiligenfesten regelte. Da seit dem 16. Jahrhundert, in welchem der heilige Pius V. sein Missale und Brevier herausgegeben hatte, die Zahl der Heiligenfeste explosionsartig angewachsen war (es kamen in diesen 400 Jahren mehr Heilige hinzu als in den 1600 Jahren davor, wobei besonders Papst Leo XIII. den Kalender noch fleißig aufgefüllt hatte), und fast alle dieser Heiligen den Rang von Duplexfesten hatten, wurden kaum mehr irgendwelche Sonntage oder gar Ferialtage gefeiert und die entsprechenden Psalmen nicht mehr gebetet. Dank der Reform des heiligen Pius X. kehrten diese Psalmen zurück, und es konnte wieder der gesamte Psalter gebetet werden, und das, ohne ein Heiligenfest aufzuheben.

Der eigentliche theologische (und rechtliche) Grund

Wir können und wollen hier nicht weiter auf die Details jener Brevierreform eingehen. Doch blieb sie seinerzeit nicht unwidersprochen und ohne Kritik, zumal der heilige Pius X. in seiner Konstitution „Divino afflatu“ vom 1. November 1911 dazu rigoros bestimmt hatte: „Daher erklären Wir vor allem in Kraft dieses Rundschreibens die Ordnung des Psalteriums, wie sie gegenwärtig im Römischen Brevier vorliegt, für abgeschafft und verbieten seinen Gebrauch vom 1. Januar 1913 an ganz und gar.“ Und das trotz der Anordnung des heiligen Pius V., „daß dieses Brevier zu keiner Zeit in seiner Gesamtheit oder in Teilen davon verändert wird, daß niemand etwas hinzufügen oder entfernen kann“ und daß diese Verpflichtung „fortan und für immer“ gelte! Dann fügte er seinerseits die Schlußformel zu seinem Dokument, das er im Brevier hinter dem des heiligen Pius V. abdrucken ließ: „Dies aber verfügen, erklären und bekräftigen Wir, indem Wir zugleich anordnen, daß dieses Unser Schreiben immer gültig und wirksam ist und sein wird. Keine apostolischen Konstitutionen und Anordnungen, weder im allgemeinen noch im besonderen, sollen dieser Gültigkeit entgegenstehen, noch sonst irgend etwas gegen sie in Kraft bleiben. Keinem Menschen also soll es erlaubt sein, diese Unsere Urkunde über die Abschaffung und Zurücknahme, Gewährung, Befehl, Vorschrift, Festsetzung, Nachsicht, Auftrag und Willensäußerung zu durchbrechen oder ihr in frevelhaftem Unterfangen zuwiderhandeln. Wenn aber sich jemand dazu erdreisten sollte, dann soll er wissen, daß er den Unwillen des Allmächtigen Gottes und seiner heiligen Apostel Petrus und Paulus auf sich laden wird.“

Ja, ein Papst – aber auch nur er – kann und darf liturgische Veränderungen vornehmen, auch größere, und er kann und darf sich dabei über die Verfügungen seiner Vorgänger hinwegsetzen. Papst Pius XII. schreibt in seiner Enzyklika „Mediator Dei“ vom 20. November 1947 (Nr. 58): „Deshalb steht nur dem Papst das Recht zu, eine gottesdienstliche Praxis anzuerkennen oder festzulegen, neue Riten einzuführen und gutzuheißen, sowie auch jene zu ändern, die er für änderungsbedürftig hält.“ Abbé Barthe hat also recht, auf das „für immer“ des heiligen Pius V. kann man sich zur Verteidigung der „Traditionellen Messe“ nicht berufen, aber auch nicht auf die „200jährige Tradition“, denn diese gilt, wie er richtig sagt, nicht für den Römischen Ritus. Sie läßt sich, anders als er meint, auch nicht „analog“ anwenden wegen der heutigen „Umstände“. Denn ein Papst kann, wie wir bei Pius X. gesehen haben, auch eine mehr als 200jährige Tradition abschaffen, und „Paul VI.“ hat genau das getan, als er seine „Neue Messe“ einsetzte und wollte, daß fortan diese als die „Römische Messe“ gefeiert werden sollte.

Es können demnach nur theologische Gründe beigebracht werden. Auch darin hat Barthe recht. Allerdings sind seine „theologischen Gründe“, „daß die neue Messe den Ausdruck des eucharistischen Opfers und insbesondere den Ausdruck der Lehre von der Messe als Sühneopfer schwächt“, völlig unzureichend. Besser ist schon sein Befund, daß der „Novus Ordo“ eine „andere Messe“ sei. Der eigentliche Grund ist jedoch der, daß die „Neue Messe“ gar keine Messe ist. Sie ist eine „Anti-Messe“. Sie ist nicht dem Opfer Abels, sondern dem Opfer Kains nachgebildet. Doch auch dieser theologische Befund reicht noch nicht aus. Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und die „juridische“ Schlußfolgerung ziehen, die uns einzig berechtigt, den „Novus Ordo“ abzulehnen, und die besteht nicht darin, daß wir ihm die Gesetzeskraft absprechen, weil er allzu viel Variationsmöglichkeiten beinhaltet. Nein, vielmehr müssen wir den Schluß ziehen, daß ein „Papst“, der uns einen solchen „Anti-Ritus“ als „Römische Messe“ vorschreibt, nicht der Papst sein kann. Hier erst liegt der eigentliche Grund, das eigentliche Argument, warum wir uns mit vollem Recht weigern, diese „Messe“ zu feiern, die gar keine Messe ist, sondern an der Gesetzgebung festhalten, wie sie uns die Kirche gegeben hat, als sie noch von den Päpsten geleitet wurde und bevor diese unselige Zeit des papstlosen „Interregnums“ und der „Konziliaren“ Scheinpäpste mit ihrer „Anti-Messe“ begann.

Anmerkung zur Karwochen-Reform von Pius XII.

Wir müssen hier noch eine kleine Anmerkung machen zu der Karwochen-Reform von Pius XII., die Barthe ebenfalls als Beispiel erwähnt. Im Gegensatz zur Brevierreform des heiligen Pius X. ist diese nicht unproblematisch, da zum damaligen Zeitpunkt, Anfang der 1950er Jahre, die „Liturgische Bewegung“ bereits viel durcheinandergebracht hatte und zum Sekretär der Kommission, die Pius XII. zum Zweck einer allgemeinen liturgischen Reform 1948 eingesetzt hat, der damals junge Lazaristenpater Annibale Bugnini ernannt wurde, der zwanzig Jahre später zu trauriger Berühmtheit als „Architekt“ des „Novus Ordo“ gelangen sollte. Tatsächlich enthielten bereits die ersten Produkte dieser Kommission, jene „Neuordnung der Karwoche“, Keime und Anklänge, die später den „Novus Ordo“ prägen sollten (Liturgische Metamorphose 2,Protoyp der Neuen Messe). Allerdings waren diese damals nur für „Eingeweihte“ erkennbar, zumal man sie geschickt unter dem Mäntelchen der Sorge für die „Wahrheit der Stunden“ verborgen hatte. In Wirklichkeit ging man weit darüber hinaus und brachte ein „Gemisch aus Rationalismus und Archäologismus mit zuweilen phantasievollen Beigaben“ (R. de Mattei) hervor, das gleichwohl von Pius XII. approbiert wurde, obwohl es einigen seiner klar geäußerten Grundsätze widersprach. So hatte er in „Mediator Dei“ genau jenen „Archäologismus“ verworfen, der nun zutage trat. Noch am 2. November 1954 betonte er in einer Ansprache (Allokution „Magnificate Dominum“), daß Christus nur die Apostel, „und nicht alle Gläubigen, … zu Priestern geweiht und eingesetzt“ habe. Nur „ihnen gab er die Macht, Opfer darzubringen“, weshalb „der zelebrierende Priester, der die Person Christi anzieht, allein das Opfer“ darbringe, „und nicht das Volk, nicht die Kleriker und auch nicht die Priester, die ehrfürchtig assistieren“. Dennoch fand sich in der „erneuerten Karwoche“ eine gänzlich neue Rubrik, die echte liturgische Funktionen wie das Vortragen der Lesungen auch für Laien möglich machte, während der zelebrierende Priester „sitzt und lauscht“ („sedens auscultat“).

Diese Neuerungen fanden sich gleichsam beiläufig und verstreut, sie ergaben noch nicht das Gesamtbild des „Novus Ordo“ und hatten noch nicht die Substanz der Messe angegriffen. Rückblickend und im Licht des „Novus Ordo“ gesehen, ist ihre Tendenz und Funktion jedoch offensichtlich. Wir halten deshalb dafür, daß Papst Pius XII. oder sein Nachfolger diese „Reform“ nicht aufrechterhalten hätte, wenn er gesehen hätte, was man daraus gemacht hat. Wir sehen uns deshalb berechtigt, unter Anwendung der „Epikie“ bei der Liturgie zu bleiben, wie sie vor diesen ersten, auf den „Novus Ordo“ hinzielenden Veränderungen war, d.h. vor 1955. Wir weisen allerdings darauf hin, daß Epikie nicht angewandt werden darf, wenn man beim Gesetzgeber nachfragen kann. Wir können das nicht, weil wir gegenwärtig keinen Papst haben. Die „Traditionalisten“ aber haben einen „Papst“, weshalb ihnen keine „Epikie“ erlaubt ist.

Das zweite Argument: Die „Verschiedenheit der Riten“

Wir halten somit fest, daß das erste „Argument“ nicht haltbar ist. Man kann sich nicht auf „Quo primum“ stützen, um ein Existenzrecht der „Traditionellen Lateinischen Messe“ neben dem „Novus Ordo“ in der „Konziliaren Kirche“ zu fordern. In dieser „Kirche“ gilt, wie „Papst Franziskus“ in „Traditionis Custodes“ dankenswerter Weise eindeutig festgestellt hat, der „Novus Ordo“ als die einzige „lex orandi“. Dasselbe hatte übrigens bereits Ratzinger in „Summorum Pontificum“ bestätigt, als er die Bücher von 1962 als den „usus antiquior“ ein und desselben Ritus bezeichnete wie den „Novus Ordo“, und zwar als dessen „außerordentliche Form“, welche dieselbe „lex orandi“ ausdrücke, wie die „ordentliche Form“, der „Novus Ordo“, sie vorgebe. Wer hingegen (an-)erkennt, daß „Novus Ordo“ und Heilige Messe zwei völlig verschiedene Dinge, ja kontradiktorische Gegensätze sind, und daß dasselbe notwendig auch für die Kirche Christi und die „Konziliare Kirche“ gelten muß, von denen jede ihre „lex credendi“ und „lex orandi“ hat, die vollkommen gegensätzlich sind, kann und muß sich an die liturgische Gesetzgebung halten, wie sie uns die Päpste bis Pius XII. gegeben haben (mit der oben angesprochenen Einschränkung bezüglich der „Reformen“ in den 1950er Jahren). Freilich wird man unter diesen Voraussetzungen nicht versuchen, die „Traditionelle Lateinische Messe“ in der „Konziliaren Kirche“ zu etablieren, sondern wird sie außerhalb dieser „großen Stadt Babylon“ in der Einsamkeit der „Kirche in der Zerstreuung“ feiern.

Das zweite Argument, das Barthe anführt und das von „Traditionalisten“ gerne gebraucht wird, lautet: „Die Kirche hat immer die Legitimität der Verschiedenheit von Riten anerkannt.“ Dieses Argument, so analysiert der Abbé, sei dem ersten ähnlich und begründe sich durch das Faktum, daß es in der Kirche stets eine Verschiedenheit von Riten gegeben habe, die alle als katholisch anerkannt waren, auch wenn sie nicht jene Mustergültigkeit des Ritus der Kirche von Rom besaßen, der von allem Irrtum frei ist. So habe der Römische Ritus stets zusammen mit verschiedenen östlichen oder lateinischen Riten (wie dem mozarabischen oder dem ambrosianischen) in Koexistenz gelebt, und auch nach 1570 hätten einige Teilkirchen ihre Missale behalten, wenn sie eine mehr als 200jährige Tradition nachweisen konnten. Mithin, so folgert diese Beweisführung, könne auch das „Missale von Paul VI.“ mit dem „tridentinischen Missale“ gleichzeitig in Koexistenz sein.

„Editio typica“

Dagegen weist Barthe darauf hin, daß eine solche Koexistenz ein und desselben Ritus in einer früheren und einer späteren Form in der Geschichte der Kirche unerhört und niemals vorgekommen sei. Wenn schon, dann müsse man zugeben, daß die „Liturgie von Paul VI.“ tatsächlich ein neuer Ritus sei oder überhaupt etwas anderes als ein Ritus. Jede Reform eines Ritus ende gewöhnlich damit, daß die neue Form an die Stelle der alten gesetzt und als obligatorisch erklärt werde. Für den Römischen Ritus gelte im Kirchenrecht seit dem Tridentinischen Missale die Vorschrift, daß die für den Gottesdienst verwendeten Bücher von der zuständigen Kongregation herausgegeben und per Dekret promulgiert sein müssen. Mann nenne das „Editio typica“, und diese seien wie Wegmarken, wobei eine „Editio typica“ durch die folgende ersetzt werde. Die letzte „Editio typica“ für die „traditionelle Liturgie“ seien für das Brevier die vom 4. Februar 1961 und für das Missale die vom 23. Juni 1962. Beim Rituale gelte die von 1952, beim Bischofszeremoniale die von 1886 und beim Pontifikale die von 1961 bzw. 1962, je nach Band. Wenn wir freilich davon ausgehen, daß wir seit 1958 keinen Papst mehr haben, und dazu den oben genannten Vorbehalt anwenden, dann gilt als letzte „Editio typica“ nur das, was von diesen Büchern vor 1955 erschienen ist wie das Rituale von 1952 und das Bischofszeremoniale von 1886. Beim Brevier, beim Missale und beim Pontifikale muß man auf die entsprechenden „Editiones typicae“ zurückgreifen.

Da die Änderungen zwischen den einzelnen „Editiones typicae“ minimal gewesen seien, fährt Barthe fort, abgesehen von der Brevierreform des heiligen Pius X. und der Karwochenreform von Pius XII., welche die Geister bereits auf eine viel weiterreichende Reform vorbereitete, seien sie leicht durchzusetzen gewesen. Niemand hätte sich geweigert, am letzten Sonntag im Oktober das Christkönigsfest zu feiern, das Pius XI. neu eingeführt hatte, und niemand wäre auf die Idee gekommen, daß ein unter Leo XIII. veröffentlichtes Missale ein wesentlich anderes sei als eines, das unter Pius XI. oder Pius XII. veröffentlicht wurde. Eine Art von „eklektischem Traditionalismus“ könne jedoch nützlich sein, um alte und vergessene Schätze zu heben wie lokale Bräuche, Musik oder Texte etc., welche infolge der „tridentinischen Romanisierung“ und insbesondere der französischen Revolution verlorengegangen seien. Nichts anderes sei im 19. Jahrhundert durch Solesmes geschehen, und in diesem Rahmen könne man auch die „Wiederbelebung“ der „vorpianischen Karwoche“ ansetzen.

Hier scheint uns Abbé Barthe ein wenig danebenzuliegen. Den Mönchen von Solesmes war es gerade nicht darum zu tun, die „lokalen Bräuche“ wiederzubeleben, sondern die römische Liturgie wiederherzustellen, die durch diese „lokalen Gebräuche“ infolge der Revolution und der vorangegangenen geistigen Strömungen des Rationalismus und der „Aufklärung“ entstellt worden war. Und nur in diesem Rahmen kann auch die „vorpianische Karwoche“ eingereiht werden, nicht als „eklektische“ Vorliebe für schöne alte Bräuche, sondern als Festhalten am römischen Ritus gegen ein „Gemisch aus Rationalismus und Archäologismus mit zuweilen phantasievollen Beigaben“, um noch einmal Roberto de Mattei zu zitieren.

Der „theologische“ und der „legale“ Weg

Der „Novus Ordo Missae“, stellt Barthe fest, sei auch hier „abnormal“. Denn zuvor waren die Neuausgaben der liturgischen Bücher stets zurückhaltend und befanden sich mit den „alten“ in vollkommener Kontinuität, während die Situation nun eine andere sei. Wenn man also eine Rechtfertigung suche, um am „vorkonziliaren“ Missale festzuhalten, so sei dies nur möglich auf dem theologischen Weg, indem man mit der „Ottaviani-Intervention“ feststelle, daß der „Novus Ordo Missae„sowohl im Ganzen wie in den Einzelheiten ein auffallendes Abrücken von der katholischen Theologie der heiligen Messe“ darstelle, „wie sie in der XXII. Sitzung des Konzils von Trient formuliert wurde“. Oder indem man wenigstens mit Joseph Ratzinger übereinstimme, daß das „alte Gebäude“ zerstört worden sei, um „ein neues Gebäude zu errichten“. Letzteres ist selbstverständlich kein „theologisches Argument“, zumal es lediglich aus der privaten Autobiographie Ratzingers stammt, anders als die liturgisch-theologische Studie der Kardinäle Ottaviani und Bacci.

Neben dem theologischen Weg sieht Barthe noch den „legalen“, der herausstellt, daß der „Novus Ordo Missae“ nicht als eine unangreifbare Präzisierung der „lex orandi“ beabsichtigt gewesen sei, ebenso wenig wie das „II. Vatikanum“ als unhinterfragbare Klarstellung des Dogmas. Diese „legale“ Begründung ist freilich sehr schwach und wird gerade auf der Grundlage des Rechts nicht standhalten. Denn der „Novus Ordo Missae“ wurde sehr wohl und ausdrücklich von den „Konziliaren Päpsten“, allen voran „Paul VI.“, „Franziskus“, aber auch „Benedikt XVI.“, als normativ für die „lex credendi“ aufgestellt, ebenso wie das „II. Vatikanum“ von allen „Konziliaren Päpsten“ durchgängig als verpflichtende Norm aller „Reformen“ erklärt wurde.

Dennoch meint Barthe, aufgrund seiner beiden „Argumente“, des „theologischen“ wie des „legalen“, die „traditionelle Koexistenz verschiedener Riten in der Kirche“ beanspruchen zu können unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir uns im „gegenwärtigen Fall“ im Angesicht einer „neuen Liturgie“ befänden, welche „an die alte Liturgie anzuknüpfen versucht, indem sie den Ausdruck wesentlicher Lehrpunkte in den Riten und Texten abschwächt“. Das ist es, was er damit meint, daß die „Reform Pauls VI.“ eine „atypische liturgische Situation“ herbeigeführt habe, insofern nämlich der Fortschritt, den sie bringen sollte, stattdessen zu einer „Art Rückentwicklung der lex orandi“ geführt habe, bei welcher sich „die neue kultische Ausdrucksform des eucharistischen Opfers gegenüber dem, was Trient verankert hatte, zurückentwickelt“. Und deshalb könne man sehr wohl eine legitime „Verschiedenheit der Riten“ beanspruchen.

Zusammenfassung

Fassen wir zusammen. Abbé Claude Barthe will uns darlegen, daß zwei Argumentationslinien, die von „Traditionalisten“ gerne zugunsten ihrer „Traditionellen Lateinischen Messe“ vorgebracht werden, um diese innerhalb der „Konziliaren Kirche“ aufrecht zu erhalten, zwar valide sein können, aber nur, wenn man die gegenwärtigen „abnormalen“ Zustände berücksichtige. Die erste bezieht sich auf die Bulle „Quo primum“ des heiligen Pius V. und sagt, daß dort die „Tridentinische Liturgie“ als „für immer“ gültig festgelegt worden sei und deshalb „nie verboten“ werden könne; daß ferner in dieser Bulle für Liturgien mit einer mehr als 200jährigen Tradition freie Ausübung zugesichert werde, und wenigstens dies könne doch die „Traditionelle Lateinische Messe“ für sich beanspruchen. Das zweite beruft sich auf die traditionelle „Vielfalt der Riten“, die zu allen Zeiten in der Kirche geherrscht habe, und fordert in diesem Sinn die „friedliche Koexistenz“ der „beiden Riten“, des „alten“ und des „neuen“, in der „Kirche“.

Beide Argumentationen sieht Barthe per se als nicht stichhaltig an. Denn das „für immer“ in der Bulle „Quo primum“ schließe keineswegs aus, daß spätere Päpste, wie es auch tatsächlich geschehen sei, an der „Tridentinischen Messe“ Änderungen und Reformen vornehmen, die durchaus verpflichtend sind. Die Zulassung von Riten mit mindestens 200jähriger Tradition gelte nicht für den universalen Römischen Ritus, sondern sei auf andere, partikuläre lateinische Riten gemünzt gewesen. Hier liegt auch die Problematik der zweiten Argumentation, denn auch diese könne nur Geltung haben, wenn es sich um verschiedene Riten handle, nicht aber, wenn es ein und derselbe Ritus in verschiedenen Stadien der Reform sei. Hierin ist dem Abbé recht zu geben. Er hat die Mängel dieser „Beweisführungen“ richtig aufgedeckt und ihre Untauglichkeit damit bewiesen.

Dennoch will er sie „mutatis mutandis“ gelten lassen, wenn man nämlich die gegenwärtigen „abnormalen“ Umstände berücksichtige. Dazu müsse man aber auf theologische und juridische Begründungen zurückgreifen. Theologisch nämlich sei festzuhalten, daß der „Novus Ordo Missae“ tatsächlich eine „andere Messe“ sei als die „Traditionelle Lateinische Messe“. In vielen wichtigen Hinsichten weiche er von der „traditionellen römischen Messe“ ab, so zwar, „daß die neue Messe den Ausdruck des eucharistischen Opfers und insbesondere den Ausdruck der Lehre von der Messe als Sühneopfer schwächt“. Hinzu komme auf „juridischer“ Seite, daß der „Novus Ordo“ angesichts seiner enormen Variabilität gar kein „Gesetz im strengen Sinn des Wortes“ und mithin keine eigentliche „lex orandi“ sein. Insofern könne man auf Grundlage von „Quo primum“ den „tridentinischen Ritus“ in seiner letzten „Editio typica“ getrost weiter feiern.

Entsprechend müsse man auch die zweite Beweiskette anpassen. Die „Verschiedenheit der Riten“ könne nämlich nicht für verschiedene „Stadien“ ein und desselben Ritus in Anspruch genommen werden. Wenn es sich jedoch beim „Novus Ordo“ um einen „anderen Ritus“ handle oder jedenfalls nicht um eine Weiterentwicklung des „tridentinischen“, da er vielmehr zu einer „Art Rückentwicklung der lex orandi“ geführt habe, so sei das Argument gültig.

Die Wahrheit

Zur theologischen und juridischen Wahrheit kann Abbé Barthe leider nicht durchdringen, da er ja von vornherein den „liturgischen Frieden“, d.h. die „friedliche Koexistenz beider Riten“ (M. Lefebvre) innerhalb der „Konziliaren Kirche“ anstrebt und nur diese begründen will. Eine solche „friedliche Koexistenz“ aber kann es nicht geben, weil der „Novus Ordo“ kein „reformierter Meßritus“ ist, sondern eine „Anti-Messe“, und weil die „Konziliare Kirche“ nicht die Kirche Christi ist, sondern eine „Anti-Kirche“. So wie zur Kirche Christi die Römische Messe gehört, wie sie von den Päpsten gefeiert und promulgiert wurde, zuletzt in den „Editiones typicae“ von Papst Pius XII. (möglichst noch vor 1955), so gehört zur „Konziliaren Anti-Kirche“ der „Novus Ordo Missae“, wie er von „Paul VI.“ und seinen Nachfolgern begangen und in ihren „Editiones typicae“ als „lex orandi“ für ihre „Kirche“ aufgestellt wurde.

Das ist der wahre und eigentliche Grund, warum wir als Katholiken selbstverständlich an der römisch-katholischen Heiligen Messe und der römisch-katholischen Kirche festhalten und mit dem „Novus Ordo“ und der „Konziliaren Kirche“ nichts zu tun haben wollen. Wir leben insofern in „atypischen“ Verhältnissen, als wir derzeit schon seit über sechzig Jahren keinen römischen Papst haben und falsche „Anti-Päpste“ sich an ihre Stelle gesetzt haben, die dennoch von fast allen einschließlich der „Traditionalisten“ für wahre Päpste angesehen werden. Könnten sich die „Traditionalisten“ zur Anerkennung der Wahrheit durchringen, dann müßten sie sich nicht sinnlos in Scheingefechten verausgaben wie dem der „Verteidigung der traditionellen Messe“ gegen ihren eigenen „Papst“. Gerne würden wir sie dann begrüßen als Mitstreiter im wahren Kampf, der nicht um einen utopischen „liturgischen Frieden“ geht, sondern um Herstellung des wahren Friedens in Christus durch Überwindung jener gesamten „Anti-Kirche“ mit ihren „Anti-Päpsten“ und ihrer „Anti-Messse“.