Johannes Cassian und die Weisheit der Wüstenväter
Die sog. Bewegung der Tradition stottert sich großteils nur noch so durchs Zeitgeschehen – man könnte auch sagen, sie hinkt auf beiden Füßen. Mit den beiden Füßen sind die Glaubenslehre und die Glaubenspraxis gemeint. Wie jeder Katholik weiß, ist beides unlösbar miteinander verbunden, darum wundert er sich nicht darüber, daß es heutzutage nicht nur an der klaren Glaubenslehre, sondern genauso an der Glaubenspraxis mangelt. Beide Mängel haben inzwischen eine recht lange Geschichte aufzuweisen. Genauso wenig wie die meisten Katholiken den schleichenden Wandel in der Glaubenslehre nicht mehr wahrgenommen haben, haben sie auch den Wandel im Leben geflissentlich übersehen. Die Entscheidung stand eigentlich schon mit der Reformation an, denn die Reformation bestand neben den vielen Irrlehren auch in einem, diesen Irrtümern angepaßten, neuen Lebensentwurf. Den gnädigen Gott, den Luther angeblich suchte, glaubte er in einem neuen Glauben zu finden. Einen Glauben ohne Werke, d.h. letztlich einen Glauben ohne sittliche Anstrengung, einen Glauben ohne Tugenden, einen Wohlfühlglauben à la Modernisten. Wenn alle Protestanten so ernst gemacht hätten mit ihrem Glauben wie Martin Luther, dann wären Sodom und Gomorrha in Windeseile über Europa hereingebrochen. Weil nur wenige Menschen ganz konsequent sind, hat das etwas länger gedauert, wenn auch gleich mit der sog. Reformation eine Welle sittlichen Verfalls über Europa hinwegrollte – aber jetzt ist es soweit, ganz Europa, ja die ganze ehemals christliche Welt, gleicht Sodom und Gomorrha.
Zufall ist das, wie gesagt, nicht, sondern die Konsequenz des neuen „Glaubens“. Dieser neue „Glaube“ wurde für die Katholiken immer mehr zur Versuchung. Während der protestantische Irrglaube immer schon fähig war, sich der modernen Welt anzugleichen, stellte der katholische Glaube noch ein Hindernis dar – ein Hindernis, das es im Zuge der modernistischen Fremdbesetzung der Institutionen zu beseitigen galt.
Wie war das eigentlich mit dem modernen Lebensgefühl? – Das ist sicherlich das rechte Wort für die moderne Lebensform, die sich aufgrund des immer allgemeiner werdenden Abfalls verbreitete. Wie unterscheidet sich das katholische vom evangelischen Lebensgefühl? Der Volksmund hat den Unterschied in den Spruch gefaßt: Protestantisch ist gut leben, katholisch gut sterben. Nun kann dieser Satz freilich, je nachdem, wie man ihn auffaßt, richtig oder falsch sein. Richtig ist er, wenn man den Unterschied nur ganz oberflächlich betrachtet, falsch, wenn man tiefer schaut. Denn kein echter Katholik möchte und würde auch nur einen Augenblick mit dem angeblich viel schöneren, weil viel leichteren, sittlich weniger anspruchsvollen, weil laueren, Leben eines Protestanten tauschen. Sagt nicht unser göttlicher Herr: „Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verläßt, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben gewinnen“ (Mt 19, 29). Also schon in diesem Leben wird derjenige, der unserem Herrn Jesus Christus ganz nachfolgt – was doch jeder Katholik im Grunde tun sollte, egal, welchem Stand er angehört – einen hundertfachen Lohn schon in dieser Welt empfangen und dazu noch das ewige Leben! Unser hl. Glaube ist kein Vertrösten auf die Ewigkeit, wie man es heute so oft hört und als Vorwurf an die katholische Vergangenheit formuliert. Aber das wahre Leben, das echt schöne und glückliche Leben findet man nicht an der Oberfläche, nicht ohne eigenen Einsatz, nicht ohne sittliche Anstrengung. Das uns von Gott verheißene Glück liegt nicht auf der Straße, wie man ganz richtig sagt. Aber wo liegt es dann?
Darüber wollen wir uns ein wenig Gedanken machen, denn hierin fehlt es allemal…
Ein gewinnbringender Glaube
Der Protestantismus hat viele Veränderungen ins Leben der Menschen gebracht, eine aber war tiefergehend und weiterreichend als alle anderen: Der echte, der treue, der konsequente Protestant verteufelte mit Luther aus ganzem Herzen den Priester- und den Ordensstand. Denn für den Protestanten waren beide ganz böse, verdorbene Stände, weil sie nämlich ganz besonders auf Werke aus waren. So könnte man wenigstens in diesem ganz oberflächlich denkenden Sinne des Protestantismus sagen. Luther hat als unumstößliche protestantische Lehre, also Vor-Urteil, festgelegt: Ein Leben im Kloster ist schlecht, man muß die Ordensleute aus ihrem Kloster befreien, oder auch vor allem Klosterfrauen entführen, um sie möglichst gleich zu verehelichen.
Die protestantischen Fürsten haben sich das nicht zweimal sagen lassen, sie haben kurzerhand die Klöster aufgehoben und sich an deren Gütern ausgiebig bereichert. Der Protestantismus war also durchaus ein sehr gewinnbringender Glaube für die Fürsten, was wohl der eigentliche Grund war, warum er bei ihnen so viel Erfolg hatte. Die katholischen Fürsten taten übrigens zu allen Zeiten das Gegenteil, sie stifteten Klöster und empfahlen sich dem Gebet der Mönche und Nonnen an.
Der Stand der Vollkommenheit
Ein Katholik erkennt selbstverständlich sofort, daß hier einiges durcheinandergeraten ist. Einiges, das heute wohl viel allgemeiner Geltung erlangt hat, als man sich eingesteht. Um was geht es also genau?
Das christkatholische Leben wird am leichtesten und am treffendsten vom Ordensstand her verstanden. Man nannte diesen Stand nicht umsonst den Stand der Vollkommenheit. Was ist damit gemeint? Im Kloster sind die Lebensbedingungen so organisiert, daß der Mönch oder die Nonne, wenn sie sich an diese Ordnung, also die Ordensregel halten, die besten Voraussetzungen haben, Gott tatsächlich vollkommen zu dienen. Nun, an sich ist es Aufgabe jedes Christen, Gott möglichst vollkommen zu dienen, verlangt doch unser göttlicher Lehrmeister ganz unzweideutig: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Es ist somit zwar nicht von jedem verlangt, ins Kloster zu gehen, aber es wird von jedem Christen verlangt, vollkommen zu sein, wie sein himmlischer Vater vollkommen ist. Es gibt jedoch verschiedene Wege zum Ziel, das Ziel aber ist eines. Letztlich sind alle Formen des Lebens relativ, sie gehören zur Ordnung der „Mittel“. Jede Lebensform ist gut, wenn sie nur sicher zum Ziel führt. Jeder weiß, man kann etwa alles verkauft haben und dennoch habsüchtig sein, so wie man umgekehrt die Güter dieser Welt besitzen kann, ohne sein Herz daran zu hängen. Die Armut muß im Geiste sein, sonst nützt sie nichts. Ein Leben in der Abgeschiedenheit des Klosters garantiert niemandem die Reinheit des Herzens, aber es setzt dazu die bestmöglichen Bedingungen. Der Mönch lebt insofern im Stand der Vollkommenheit, als das Streben nach Vollkommenheit zu seinem vordringlichen, ja seinem einzigen Lebensberuf wird. Darum ist natürlich auch das Versagen im Kloster umso tragischer. Je höher das Ideal, desto tiefer ist bekanntlich der Fall. So gesehen ist der Mönch der wahre Katholik, er ist Vorbild für die anderen. Das ist wohl auch der Grund, daß man von einem Mönch viel leichter enttäuscht ist, weil man unwillkürlich eine höhere Erwartung hat – die dann leider nur wenige erfüllen. Für die Mönchsväter war jedenfalls der Mönch der wahre Christ, also derjenige, der die Forderungen des hl. Evangeliums ganz ernst nimmt und konsequent umsetzt. Dadurch wird der Mönch auf eine anschauliche, vorbildliche Weise Christ.
Der ehemalige Abt von Einsiedeln, Georg Holzherr, schreibt in seinem Kommentar zur Mönchsregel des hl. Benedikt: „Benedikts Regel ist für Mönche geschrieben. Doch … ist sie weitgehend identisch mit der altkirchlichen Spiritualität überhaupt. Ich halte es für wichtig, diese den engagierten Christen unserer Zeit zugänglich zu machen. Die Regel ist eine Kurzfassung der Heiligen Schrift. Benedikt will Menschen der Seligpreisung formen. Prototyp der Mönche ist Christus… Die Apostelgeschichte bietet die Modellvorstellungen … Die frühen Mönchsväter und Benedikt setzen dieses biblische Leitbild in eine klösterliche Lebensordnung um, deren Institutionen … wandelbar bleiben. Charakteristischerweise geht der Prolog der Regula zum Teil auf eine alte Taufkatechese zurück. Wenn eine solche Taufkatechese, die ursprünglich für Christen bestimmt war, nun die Basis für mönchische Spiritualität bildet, ist der ‚Mönch‘ … für Benedikt schlicht ein ‚Christ‘. In dieser Taufkatechese lädt die ‚gütige Stimme‘ des Herrn die von Eva oder der ‚Mutter Erde‘ Geborenen, mit aller Schuld Adams Belastetem und auf den Wegen eines ‚Lebens im Exil‘ Herumirrenden zum ‚erfrischenden Quell‘ der Taufe ein, wo sie sich in der ‚Absage‘ an die Sünde von einer ‚tödlichen Last‘ befreien und neugeboren aus Christus in ihm einen ‚Vater‘ finden und in dem von der Kirche vermittelten ‚Gesetz Christi‘, das heißt in der Gnade, eine helfende ‚Mutter‘. Benedikt nimmt diese Theologie auf mit den Worten von der ‚Arbeit des Gehorsams‘ und von der ‚Absage‘, die an die Mönchsprofeß denken lassen, die ihrerseits als Analogie zur Taufe gesehen wurde. Die Tauf-Absage an den ‚Pomp‘ des Bösen konkretisiert sich in der Entsagung der Askese.“
Der Mönch versucht letztlich nur, sein Taufversprechen ganz und gar ernst zu nehmen, d.h. es in eine konkrete, durch die Mönchsregel bestimmte Lebensform umzusetzen. Dieser Ernst aber fehlt dem modernen Menschen inzwischen vollkommen. Er fehlt ihm nicht nur, er lehnt ihn instinktiv ab, weil er ein anderes Leben erwartet, nämlich ein Leben des Vergnügens. Nun, ein echt christliches Leben ist niemals ein Leben des Vergnügens. Denn der Mensch lebt nicht in dieser Welt, um sich zu vergnügen, sondern um in den Himmel zu kommen. Der moderne Mensch will nicht mehr akzeptieren, daß ihm der Himmel nicht einfach in den Schoß fällt, sondern daß dieser mit viel Mühe, viel Selbstüberwindung, vielen Opfern und Entsagungen erobert werden muß.
Die Rousseau’sche Leugnung der Erbsünde
Aus der geschichtlichen Erfahrung kann man wohl festhalten: Vor dem lehrmäßigen, inhaltlichen Glaubensabfall kommt allermeist schon der praktische Glaubensabfall – zumindest gehen beide immer Hand in Hand.
Der moderne Mensch hat die Welt uminterpretiert. Er hat sich eine neue Philosophie erdacht, eine Philosophie entgegen der Wirklichkeit. Eine wesentliche Kehrtwendung war die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus gut. Zunächst war diese Ansicht wohl eine Reaktion auf den Protestantismus, der behauptete: Der Mensch sei von Natur aus ganz und gar verdorben und darum zu keinem guten Werk fähig. Der Mensch ist durch und durch Sünder. Nein, so die neuen „Philosophen“, der Mensch ist nicht ganz und gar verdorben, er ist ganz gut, wenn er nur seiner Natur entsprechend lebt. „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“
Es war Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778), der diese Lehre verbreitete. Nach ihm ist das Individuum, also der einzelne Mensch nur außerhalb der Gesellschaft überhaupt in der Lage, gut und vollkommen zu sein. „Zurück zur Natur“, so lautet das verkürzte Motto der Rousseau’schen Anthropologie. In diesem Naturzustand ist nach Rousseau der Hauptantrieb des Menschen allein die natürliche Selbstliebe, die allerdings bedroht wird. Es ist die Gesellschaft, so Rousseau weiter, die den Menschen schlecht macht, denn dort vergleicht der Mensch sich mit anderen und verliert damit seine Unschuld. Seine natürliche Selbstliebe (die Sorge für das eigene Wohl mit geringstmöglichem Schaden für die anderen) verwandelt sich in Selbstsucht, in Konkurrenzdenken, Suche nach Macht, Eigentum, Herrschaft. Sein Handeln ändert sich in selbst- und gesellschaftsschädigendes Handeln.
Rousseau schreibt selbst einmal: „Man bewundere die menschliche Gesellschaft soviel man will; es wird deshalb nicht weniger wahr sein, daß sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen wie ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen, doch in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.“
Rousseau spricht von einer angeborenen Liebe zum Guten. Diese angeborene Liebe zum Guten kann als „Gewissen“ verstanden werden, wird aber auch bei Rousseau zuweilen als „vorbewußter Instinkt“ bezeichnet.
Es war notwendig, diesen kurzen Ausflug in die Geistesgeschichte zu machen, weil sich vom Gedankengut Rousseaus sehr viel im modernen Menschen findet. Denken wir etwa an die antiautoritäre Erziehung, die doch dem Kind zutraut, von sich aus, ohne entsprechende Vorgabe und Aufgaben das Leben meistern zu können. Es wird so getan, als wären die Kinder immer gescheiter als die Eltern, als wüßten sie immer besser als diese, was gut für sie ist.
Naturalismus und Protestantismus
Im Hintergrund – sowohl des Protestantismus als auch des Naturalismus eines Rousseau – steht eine Irrlehre. Der Protestant leugnet zwar nicht die Erbsünde, aber er irrt sich bezüglich ihrer Folgen. Die Erbsünde zerstört nicht die menschliche Natur, wie die Protestanten sagen, sie macht sie nicht gänzlich schlecht, sondern sie verwundet sie „nur“. Rousseau hingegen leugnet letztlich die Erbsünde ganz und gar. „Der Mensch ist von Natur aus gut“ heißt doch so viel wie: Es gibt keine Erbsünde! Das Böse kommt sodann allein von der Gesellschaft. Würde der Mensch zurück zur Natur gehen, würde alles wieder gut, das Paradies würde zurückkehren.
Für einen Katholiken sind beide Irrtümer letztlich Utopien – was sich auch an der Wirklichkeit zwingend erweist, bzw. schon lange erwiesen hat. Man ist doch immer wieder überrascht, daß solche offensichtlich irrigen Lehren von so vielen Menschen geglaubt und ernst genommen werden. Welchen Einfluß gewann die Irrlehre Luthers! Und Rousseau gilt den Modernen als einer der größten Denker des 18. Jahrhunderts, also des Zeitalters der sog. Aufklärung! Ganz nüchtern betrachtet: Was für einen Unsinn hatte dieser Mann geschrieben. Jedem Christ müßte dies doch spontan auffallen, oder etwa nicht? Die damaligen Bewunderer Rousseaus schimpften sich tatsächlich fast alle noch Christen. So eine Verirrung des Geistes ist nur dadurch zu erklären, daß schon damals der christliche Glaube schon äußerst angekränkelt war.
Laster bzw. Leidenschaft
Was aber sagt uns die Wirklichkeit? Was kann letztlich jeder, der mit offenen Augen durchs Leben geht, sehen und erkennen? Gerade das, was unser katholischer Glaube sagt! Der Mensch ist zwar nicht ganz verdorben, aber mehrheitlich sehr zum Bösen geneigt. Natürlich gibt es da erhebliche Unterschiede in der Veranlagung und im Charakter, aber grundsätzlich gilt: Seit der Erbsünde ist die menschliche Natur verwundet. Das Streben des Menschen geht nicht mehr von sich aus und leicht zum Guten, sondern es fordert Selbstüberwindung und beharrliche Anstrengung. Der Dulder Job fragt: „Steht nicht in hartem Dienst der Mensch auf der Erde? Ist sein Leben nicht dem des Tagelöhners gleich?“ (Job 7, 1). Der Taglöhner hat immer nur Lohn für einen Tag. Niemals kann er sich darum ausruhen von seinen Mühen.
Die Alten, also die Geistesriesen und Heiligen der Vergangenheit, sprechen darum sehr viel über die Laster. Dabei geht es nicht so sehr um Moral, also gutes oder sündhaftes Handeln im einzelnen, sondern um das wahre Leben, um das vollkommene Leben. Jeder Mensch, der sich ernsthaft um ein gutes Leben müht, spürt die vielen Widerstände – nicht nur von außen, sondern vor allem auch von innen. Ein Leben ganz für Gott wird von den Lastern erschwert, es wird behindert, wenn nicht sogar geradezu verhindert, unmöglich gemacht. Das Laster ist ein tiefgreifender Fehler, ein seelisches Gebrechen – eine fundamentale „Behinderung“ der Geisteskräfte.
Das lateinische Wort vitium (=Laster) geht auf das Verb vitiare zurück, was übersetzt heißt: verderben, verletzen, beschädigen, schänden, entehren, verfälschen. Von daher abgeleitet bedeutet vitium (plur. vitia) zunächst einmal: Fehler, Mangel, Gebrechen, Schaden – und schließlich „Laster“. Laster ist mehr als eine gelegentliche, einzelne sündige Tat. Beim Laster ist die schlechte Tat zur Gewohnheit geworden. Das Laster ist eine eingefleischte Sünde. Im Laster ist die Freiheit des Menschen erheblich eingeschränkt. Der Lasterhafte ist nicht mehr Herr seiner selbst, vielmehr haben die Leidenschaften des Lasterhaften eine Eigendynamik entwickelt, der dieser kaum noch widerstehen kann.
Wenn die Alten von „Leidenschaft“ sprechen, so meinen sie damit meist das Laster, also die durch die Sünde außer Kontrolle geratene Leidenschaft, die Leidenschaften im negativen Sinn. Die Erfahrung zeigt, solche Leidenschaften hindern den Aufstieg der Seele zu Gott, ja sie verunmöglichen ihn. Wie soll etwa eine von Ärger erregte oder vom Zorn erfüllte Seele noch das himmlische Licht der Gnade empfangen und widerspiegeln können? Nur wer „reinen Herzens“ ist, wird „Gott schauen“. Maximus der Bekenner drückt es in seinen „Hundertsprüchen“ in folgendem Bild aus: „Ein Sperling, am Fuß eingeklemmt, kann, auch wenn er will, nicht auffliegen, weil die Fessel ihn an der Erde zurückhält. So ist der Geist, der die innere Freiheit noch nicht gewann: Er möchte zur Erkenntnis der himmlischen Dinge auffliegen und wird, von den Leidenschaften gefesselt, auf Erden zurückgehalten.“
Wenn die östlichen Mönchsväter mit den Leidenschaften so scharf ins Gericht gingen, so deswegen, weil sie die „bösen Leidenschaften“ im Sinn hatten. Diese bereiten selbst einem hart kämpfenden Asketen in der Wüste immer wieder böse Überraschungen. Wer darum leben will, richtig leben und nicht nur vegetieren, sinnhaft leben und nicht die zur Verfügung stehende Zeit und Kraft vertun will, der muß beharrlich kämpfen. Das Leben ist Kampf oder es ist kein rechtes Leben. Es ist Kampf gegen all das, was das Leben behindert („Laster“) – und immer auch zugleich Kampf um das, was zum Leben tauglich macht, nämlich die Tugend.
Der Mönch, ein Athlet Christi
Der mühsame und langwierige Kampf gegen die Laster setzt einen gewissen Eroberungswillen voraus, der sich freilich selbst bei entsprechender Kampfeslust nicht von selbst einstellt. Der hl. Ignatius von Loyola betet:
„Ewiges Wort, eingeborener Sohn Gottes:
Lehre mich die wahre Großmut. Lehre mich:
Dir dienen, wie Du es verdienst;
geben, ohne zu zählen,
kämpfen, ohne meiner Wunden zu achten,
arbeiten, ohne Ruhe zu suchen,
mich einsetzen, ohne einen andern Lohn zu erwarten als das Bewußtsein,
Deinen heiligen Willen erfüllt zu haben. Amen“
Es kommt letztlich darauf an, daß man allezeit das Ziel klar vor Augen hat. Der hl. Paulus vergleicht den Kampf um Heiligkeit mit dem Athletenkampf in der Arena. „Wißt ihr nicht, daß im Stadion zwar alle laufen, aber daß nur einer den Siegespreis gewinnt? Lauft so, daß ihr ihn gewinnt. Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen. Darum laufe ich nicht wie einer, der ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt; vielmehr züchtige und unterwerfe ich meinen Leib, damit ich nicht anderen predige, selbst aber verworfen werde“ (1 Kor 9, 24-27 – Lesung des Sonntags Septuagesima).
Der Mönch in der Wüste oder im Kloster, also der Asket (Askese heißt wörtlich übersetzt nicht anderes als „Übung“, „Training“) ist ein Athlet Christi, denn Christus ist in diesem Wettkampf alles in einer Person: Er ist die Bahn des Läufers und sein Ziel, Er ist die Rüstung des Kämpfers und sein Siegespreis, Er ist der Kampfrichter und der „Trainer“. Bedenken wir:
Was für ein langer Weg bis zum Olympiasieg! Wie viele Ausscheidungskämpfe müssen die olympischen Athleten gewinnen, ehe sie zum Endkampf um die Goldmedaille kommen. Auch der Athlet Christi wird sich später in keiner anderen Disziplin bewähren können, wenn er nicht die unterste beherrscht und zunächst einmal die „Begierden des Gaumens und des Bauches“ fest im Griff hat. Jeder Olympiateilnehmer weiß, daß er nur durch Enthaltsamkeit (sowohl was Essen, Trinken und Rauchen betrifft, wie auch im Hinblick auf das sexuelle Leben) jene Konzentration der Kräfte erreichen kann, die ihn zu sportlichen Höchstleistungen befähigt. Das gilt für den geistigen Kampf erst recht. Den Kampf mit den gewichtigeren Lastern (Zorn etwa, Trübsinn, oder die träge Herzenslahmheit mit ihrem Überdruß an allem) wird man nie gewinnen, wenn man, durch Unenthaltsamkeit geschwächt, nicht über die notwendige Kampfeskraft verfügt.
Der Asketenkampf unterscheidet sich vom Athletenkampf allerdings dadurch, daß niemals jener letzte Sieg erstritten ist, der einem erlauben würde, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Der Kampf wird vielmehr immer subtiler, je näher man dem Ziel kommt. Am Ende wird man nicht mehr, wie Paulus es nennt, „gegen Fleisch und Blut“ zu kämpfen haben, „sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereiches.“ (Eph 6,12ff) Bei diesen Worten ahnt man ein wenig, wie schwierig und gefährlich dieser Kampf sich gestaltet. Da braucht der Athlet Christi schon die „Waffenrüstung Gottes“, sonst ist er hoffnungslos unterlegen, wie ebenfalls der hl. Paulus mahnend hervorhebt: „Legt die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr den Ränken des Teufels widerstehen könnt“ (Eph 6, 11). Der Anfänger hat es gewöhnlich noch mit einfacheren Gegnern zu tun, ihm genügen die Feinde, die er in sich selbst vorfindet. Da ist es wichtig, daß er lernt, sich mutig aber auch klug in den Kampf zu stürzen. Dabei muß er seinen Angriffsmut und seine Durchhaltekraft in unablässigem Training (also in nicht endender „Askese“) stählen. Nur so wird er allmählich eine echte Kampfeslust in sich verspüren – ist doch der Siegespreis das ewige Leben!
Das Ziel der Ziele
Die Vierundzwanzig Bücher der „Unterredungen mit den Vätern“ (Collationen) des hl. Johannes Cassian (Dieser lebte ungefähr von 360 bis zum Jahr 430.) beginnen mit den Unterweisungen des Abbas Moses. Der Abbas Moses fragt die beiden Freunde, Cassian und Germanus, wozu sie eigentlich „Mönch“ werden möchten. Immerhin haben sie sich von ihren Familien getrennt, haben allen weltlichen Gütern entsagt und ein entbehrungsreiches Leben erwählt. Zudem haben sie sogar ihr heimatliches Kloster verlassen und den weiten Weg nach Ägypten gemacht, um jetzt hier in dieser unwirtlichen Wüste zu hausen. Wozu also seid ihr gekommen?
„Um des Himmelreiches willen“, antworten die beiden fest und sicher.
Das ist eine gute Antwort, lobt sie der Abt. Es ist wahr, das Himmelreich ist das Ziel der Ziele, der letzte und höchste Sinn des Lebens. Es bedeutet das Leben in seiner Fülle, Erde und Himmel vermählend – so wie Gottes Sohn nicht aufhört, im Schoß des Vaters zu sein und doch in der Jungfrau Fleisch annimmt. Dabei ist das „Himmelreich“ zugleich etwas Zukünftiges und dennoch Gegenwärtiges, es ist „im Himmel“ und zugleich „mitten in euch“ (wie unser Herr sagt). Das Himmelreich ist das innere Geheimnis der ganzen Schöpfung, ihr eigentlicher Zweck und letztes Ziel. Es ist identisch mit dem, was der vierte Evangelist „Leben“ nennt: göttliches, ewiges Leben! Das „Himmelreich“ ist da, wo in der von „Leidenschaften“ nicht mehr zu erschütternden Seele der Himmel sich abspiegelt, sie mit seinem Frieden, seiner unendlichen Freude bis zum Rand erfüllt.
Die beiden Freunde, Cassian und Germanus, bleiben viele Jahre in Ägypten, um bei den Meistern zu erlernen, wie man das Himmelreich erobert. Wiederum viele Jahre später, finden wir Cassian in Südgallien wieder, wo er wohl auch geboren worden war. Schon bald wird er bekannt und gilt weit und breit als der Experte für östliches Klosterwesen und östliche Mönchsweisheit. Zwar gab es damals in Südgallien bereits eine verbreitete monastische Bewegung, die ihre eigenen westlichen Wurzeln hatte. Dennoch galt „Ägypten“ als das Urland der Einsiedler und Mönche. Darum ist es nicht verwunderlich, daß Bischof Castor von Apta Julia sich an Johannes Cassian wandte, weil er sein neues Kloster nach östlichem Vorbild einzurichten wünschte. Auf Bitten dieses Bischofs schrieb Cassian seine erste grundlegende Schrift über das Mönchtum des Ostens nieder: „De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis“ – „Von den Einrichtungen der Klöster und von den Heilmitteln gegen die acht Hauptlaster“.
Die spirituelle Weisheit Ägyptens
Also erst Jahrzehnte später schreibt Cassian das nieder, was er in Ägypten von den Vätern gelernt hat. Er faßt die spirituelle Weisheit Ägyptens, aus der er selber seit Jahrzehnten gelebt hat, zusammen und ordnet sie zu einem Lebebuch, zu einer Regel. Der hl. Johannes Cassian hat die „Collationen“ fast gleichzeitig mit den „Institutionen“ im letzten Jahrzehnt seines Lebens verfaßt.
In den „Einrichtungen“ („Institutionen“) werden die Gebräuche der Mönche beschrieben. Dabei zielen diese rein äußeren Anordnungen dennoch bereits auf bestimmte „Ausrichtungen“ des inneren Menschen, so wie etwa das Gewand des Mönches, sein „Habit“, einen bestimmten Habitus (also eine Gewohnheit, eine innere Haltung) des seelisch-geistlichen Lebens zum Ausdruck bringt. In den acht letzten Büchern der „Institutionen“ wird vom Kampf gegen die acht „Laster“ gesprochen. Es geht also um das Fundament des geistlichen Lebens, um den Anfang des Weges zur Vollkommenheit, der zur „Reinheit des Herzens“ führt. Jeder muß letztlich seinen Weg dort beginnen, wo er gerade steht. Und je nüchterner und wirklichkeitsnäher der Anfänger seine Ausgangsposition beurteilt, je weiter er sich von Selbsttäuschung und Illusionen entfernt hat, umso wirksamer kann er sich an die Arbeit machen, d.h. an die Grundlegung seines geistlichen, inneren Lebens.
Es ist sicherlich nicht übertrieben, Johannes Cassian zu den geistlichen Vätern des Abendlandes zu zählen: Nicht nur der hl. Benedikt, sondern auch bedeutende Ordensstifter der späteren Zeit haben sich an den Schriften Cassians orientiert, wie etwa der hl. Dominikus, der hl. Ignatius von Loyola und auch die hll. Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila und Franz von Sales.
Auch wir wollen uns von diesem Meister ein klein wenig einführen lassen in den geistigen Kampf, der notwendig ist, um das ewige Ziel zu erreichen.
Der Kampf gegen die Hauptlaster
Der hl. Cassian leitet seine Gedanken über die Laster folgendermaßen ein (alle Texte sind genommen aus: Johannes Cassian, Gott Suchen – sich selbst erkennen, Einweisung in das christlichen Leben Teil 1, Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1981):
Mit Gottes Hilfe wollen wir jetzt das Fünfte Buch in Angriff nehmen. Nach den vier ersten Büchern über die Einrichtungen der Klöster machen wir uns nunmehr bereit – Gott gebe uns die dazu erforderliche Kraft auf Eure Fürbitte hin! – uns ganz dem Kampf gegen die Acht Hauptlaster (vitia principalia) zu widmen, nämlich dem Kampf:
erstens gegen das vitium gastrimargiae (Gier beim Essen und Trinken)
zweitens gegen das vitium fornicationis (sexuelle Zügellosigkeit)
drittens gegen das vitium filargyriae (Geldliebe, Geldgier, Versessenheit auf materielle Güter, Habsucht, Geiz)
viertens gegen das vitium irae (Zorn)
fünftens gegen das vitium tristitiae (Trübsinn, resignative Verstimmtheit)
sechstens gegen das vitium acediae (Überdruß, geistliche Lustlosigkeit und Trägheit, Herzenslahmheit, verdrossene Gleichgültigkeit)
siebtens gegen das vitium cenodoxiae (eitle Ruhmsucht, Geltungssucht, gespreiztes Wesen)
achtens gegen das vitium superbiae (Hochmut, Stolz, Überheblichkeit.)
Es würde sicherlich zu weit führen, alle acht Ausführungen über die Laster anzuführen und zu kommentieren. Wir werden also eine Auswahl treffen, gemäß der besonderen Aktualität, so könnte man wohl sagen – denn aktuell sind selbstverständlich immer alle acht.
Angesichts der sexuellen Revolution, die über fast die ganze Welt hinweggefegt ist, erscheint selbstverständlich das zweite Laster, die sexuelle Zügellosigkeit, heutzutage von besonderer Wichtigkeit. Wie sieht ein Mönchsvater Ende des vierten, Anfang des fünften Jahrhunderts dies? Hat er uns modernen Menschen überhaupt dazu etwas zu sagen, die wir doch inzwischen so aufgeklärt sind? Sehen wir einfach einmal und wir werden überrascht sein…
Die Notwendigkeit des Fastens …
Zum ersten Laster ganz kurz eine Anregung, die uns den Tiefgang der Erwägungen Cassinas zur Gier beim Essen und Trinken schlagartig greifbar macht. Der Mönchsvater erwähnt „Fettmachende Speisen des Geistes“. Dies sind:
Zerstreuung (sehr angenehm zu essen!)
Zorn (bereitet für Augenblicke eine höchst verhängnisvolle Befriedigung)
Neid und Eifersucht (das sind vergiftende Säfte)
Eitle Ruhmsucht (ist eine Zeit lang ein ergötzlicher Genuß, macht aber auf die Dauer arm und steril).
Da ahnt man, welche Bedeutung das Fasten hat, die Enthaltung von übermäßigem Essen und Trinken, will man ein gesammeltes, ein gezielt auf Gott ausgerichtetes Leben führen!
… zur Zügelung des vagabundierenden Herzens
Es ist schon unheimlich anzusehen, wie schnell und wie gründlich sich das (freilich schon recht angekränkelte) christliche Abendland in die sexuelle Revolution hineinziehen hat lassen. Diese Tatsache zeigt allein schon, wie verwundbar der Mensch hierin und wie leicht beeinflußbar – d.h. aber auch, wie notwendig eine Beherrschung dieses Triebes ist.
Johannes Cassian bemerkt gleich zu Anfang:
Den zweiten Kampf haben wir nach der Überlieferung der Väter gegen den Geist der sexuellen Zügellosigkeit zu bestehen. Dieser Kampf dauert länger als die übrigen Kämpfe, entbrennt täglich von neuem und wird nur von wenigen gewonnen. Es ist ein überaus harter Kampf von der ersten Zeit der Pubertät an, der nicht eher aufhört, als bis die übrigen Laster überwunden sind.
Das klingt nun gar nicht verstaubt und altbacken, sondern sehr sehr nüchtern und wirklichkeitsnahe. Es beschreibt ganz einfach die Grunderfahrung des Menschen, die jeder Mönch in der ägyptischen Wüste sogar noch verschärft zu machen und zu bestehen hatte, weil erst im inneren Kampf die ganze Tiefe dieses Lasters zum Vorschein kommt. Es gilt darum eine zweifache Schlachtlinie aufzubauen:
… körperliches Fasten auf der einen Seite, Zerknirschung des Herzens, beharrliches Gebet gegen diesen unreinen Geist, ständige Meditation der Heiligen Schrift, Eintauchen in geistige Erkenntnis und Handarbeit auf der anderen Seite. Das alles ist unerläßlich, um das unstete Herumvagabundieren des Herzens zu zügeln. Vor allem aber muß das Fundament wahrer Demut gelegt werden, weil man ohne Demut keins der Laster überwinden kann.
Fangen wir sozusagen von hinten an: Das alles ist unerläßlich, um das unstete Herumvagabundieren des Herzens zu zügeln. Ein zügelloses Herz, das allen Gedanken einfach gedankenlos nachgeht, kann nicht keusch sein. Warum? Weil die sexuellen Gedanken gewöhnlich eine gewisse Aufdringlichkeit haben, die umso größer wird, je mehr man sich mit derartigen Dingen beschäftigt. Hierzu ist heute die so spielend leichte Möglichkeit zu erwähnen, an pornographische Texte, Bilder, Filme zu kommen – etwa durch das Internet. Die Versuchung ist sozusagen allgegenwärtig! Das herumvagabundierende Herz findet nur allzu schnell und allzu leicht das verderbliche Ziel. Aus der Erfahrung der Wüste führt der hl. Cassian zwei grundlegende Übungen im Kampf gegen diese Versuchungen an: Das körperliche Fasten und man könnte zusammenfassend sagen, dazu noch das geistige Fasten. Der Sinn muß daran gewöhnt werden, nüchtern zu sein und zu bleiben, was gewöhnlich durch Fasten und Gebet erlangt wird. Hinzu kommt noch eine weitere Erfahrung: Es ist eine dauernde Beschäftigung notwendig, denn Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Voraussetzung: Die DEMUT
All diese Bemühungen gründen in der Tugend der Demut, denn ohne die Hilfe Gottes, ohne die Gnadenhilfe vermag der Mensch gar nichts. Lassen wir den Mönchsvater diese Einsichten noch weiter vertiefen:
Im Grunde geht die Überwindung dieses Lasters aus der Läuterung des Herzens hervor, denn einem verkommenen Herzen entstammt nach des Herrn Wort auch das Gift sexueller Zügellosigkeit: „Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung“ (Mt 15,19). Der innere Mensch muß also zuerst gereinigt werden, denn hier entscheidet sich Tod und Leben, wie es bei Salomon heißt: „Mit aller Wachsamkeit behüte dein Herz, denn aus ihm geht das Leben hervor“ (Spr 4,23).
Das Fleisch soll unter der Botmäßigkeit des Geistes stehen. Darum muß man mit größtem Eifer auf strenges Fasten bedacht sein, damit nicht das Fleisch, bis zum Überdruß mit Speisen aufgedunsen, den Antrieben des Geistes Widerstand entgegensetze und die Seele, seine Lenkerin, voll Übermut entthrone. Die Seele wiederum muß sich der anderen Laster enthalten, so wie der Leib sich der Speisen enthält. Wenn die Seele darüber hinaus nicht Göttliches meditiert und sich in geistlichen Dingen übt, können wir nicht zu jenem erhabenen Gipfel der wahren Vollendung emporsteigen.
Fasten und Beten
Der Mönch in der Wüste ist aufgrund der Einsamkeit, der Stille, der Grundhaltung des Gebetes viel aufmerksamer auf die Regungen der Seele als der Mensch in der Welt. Ihm wird der innere Zwiespalt, der seit der Erbsünde in der Menschenseele sich findet, unübersehbar. In der Einsamkeit und Stille wird der Mönch gewahr, daß das Herz der Läuterung bedarf, weil die ursprüngliche Ordnung durch die Sünden verkehrt ist. An sich soll das Fleisch unter der Botmäßigkeit des Geistes stehen, tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall. Um die ursprüngliche Ordnung wieder herzustellen, beginnt der Mönch mit dem Fasten, also der spürbaren Korrektur der Übermacht der fleischlichen Gelüste gegenüber den Antrieben des Geistes. Aber dem Fasten des Leibes muß das Fasten der Seele folgen: Die Seele wiederum muß sich der anderen Laster enthalten, so wie der Leib sich der Speisen enthält. Das alles wird jedoch nur dann gelingen, wenn es beständig durch das Gebet begleitet wird. Der hl. Cassian ist überzeugt:
Vom Laster der sexuellen Zügellosigkeit wird eine Seele so lange angefochten, bis sie sich bewußt wird, daß sie einen Krieg führt, der über ihre Kräfte geht, und sie darum aus eigener Kraft den Sieg nicht zu erringen vermag, wenn sie nicht durch die Hilfe und den Schutz des Herrn gestützt wird.
Ora et labora (Bete und arbeite)
Nur durch das beständige Gebet wird das Vertrauen in die Hilfe Gottes stark genug werden, um den mühsamen Kampf gegen diese Anfechtungen zu bestehen und schließlich zu siegen. Ohne die Gnadenhilfe Gottes gibt es keinen Sieg! Weil wir aber nicht beständig beten können, müssen wir uns zudem in diesem Kampf sinnvoll beschäftigen:
Die Kämpfer (um Enthaltsamkeit und Keuschheit) enthalten sich nicht nur verbotener Speisen, jeglicher Schmausereien und Trinkgelage, sondern meiden auch alle Untätigkeit, Trägheit und jede Art von Müßiggang, so daß durch tägliche Übung und beständige Meditation ihre Kraft wachsen kann. Auch von aller Sorge, Traurigkeit und weltlichen Händeln halten sie sich fern.
Die Aufgabe, ein reines Herz zu bilden, wird also immer umfangreicher. Um die Gedanken von den Versuchungen fern zu halten, ist eine dauernde Tätigkeit unabdingbar. Die Seele muß ihre Herrschaft zurückerobern – darauf beruht letztlich die wahre Freiheit, die Freiheit der Kinder Gottes. Alle ungeordneten Seelenstimmungen und Einflüsse gilt es zu meiden. Darum muß man sich von den weltlichen Händeln soweit möglich fern halten. Wenn das schon für einen Mönch gesagt ist, wie viel mehr gilt das für einen Katholiken, der in der Welt leben muß!
Das Gewissen
Je feiner das Gewissen wird, umso tiefer dringt es in die Seelenabgründe vor.
Überaus wachsam müssen wir alle Winkel unseres Herzens gründlich von jeder Sünde reinigen. Wie es nämlich den olympischen Athleten um Freiheit von jedem körperlichen Gebrechen geht, so geht es uns um jeden Winkel unseres Gewissens – hier, wo der Herr selbst Kampfrichter und Preisverleiher ist, der immerdar unseren Kampf vor Augen hat, auch unsere geheimen Einwilligungen, denn Gott entziehen sich keine Geheimnisse.
Auch die läßlichen Sünden sind Sünden und stellen eine Gefahr dar. Auch diesen gilt es nüchtern und fest entgegenzutreten. Gott lohnt diese Mühe und schenkt der Seele einen immer tiefergehenden Frieden. Die Erfahrung lehrt:
Ein evidentes Indiz vollendeter Keuschheit ist: Auch im Traum treten uns keine sexuellen Trugbilder mehr vor die Seele (auch wenn natürlich solches Traumgeschehen keine Sünde ist).
Die Traumphantasien werden nämlich nicht in der Stunde der Nacht geboren: was in den innersten Falten der Seele verborgen ist, das wird in der Ruhe des Schlafes an die Oberfläche gebracht.
Das, was man heute das Unbewußte oder Unterbewußte nennt, sind letztlich die Erinnerungen, die nicht einfach vergehen, sondern eine Spur in der Seele hinterlassen. Dabei wird diese Spur umso tiefer, je öfter eine Handlung geschieht, also die Erinnerung öfter aufgefrischt und dadurch weiter vertieft wird. Darum kann man niemals genügend wachsam sein, weiß doch auch unser Erzfeind, der Teufel, um solche wiederholte Handlungen und die daraus folgende leichtere Versuchbarkeit.
Wir müssen uns immer der Weisung bewußt sein: „Wachsam bewahre dein Herz!“ (Spr 4,23), um nach diesem grundlegenden Gebot Gottes auf das Haupt der Schlange genau acht zu geben – das heißt: auf den Anfang der bösen Gedanken, durch die der Teufel sich in unsere Seele hineinzuschleichen sucht. Auf daß nicht durch unsere Nachlässigkeit der ganze Leib der Schlange in uns eindringe und das, was uns (zu unserem Schaden) ergötzen möchte, einen Widerhall in uns finde! Denn zweifellos: Ist die Schlange erst einmal eingedrungen, so wird sie durch ihr tödliches Gift unseren gefangenen Geist zugrunde richten. Wehre den Anfängen!
Ebenso müssen wir „die Sünder aus unserem Land ausrotten“ (Ps 101,8), das heißt, die fleischlichen Gesinnungen, und sie schon „am Morgen“ ihrer Geburt vernichten und sie gleich den »Kindlein Babylons am Felsen zerschmettern“ (Ps 137,9). Denn wenn wir sie nicht bereits im zartesten Kindesalter töten, werden sie durch unsere Mitschuld heranwachsen, zu unserem Verderben erstarken, sich schließlich gegen uns wenden und nur noch unter größtem Aufwand von uns besiegt werden können.
Der „Starke“ nämlich – das heißt: unser Geist – „ist bewaffnet und bewacht sein Haus“ (Lk 11,21), indem er sein Herz durch Gottesfurcht stark macht, „und all das Seine ist in Sicherheit“: die Frucht nämlich seiner Mühen und Tugenden, in so langer Zeit zu eigen erworben. „Wenn aber einer kommt, der stärker ist als er und der ihn besiegt“ – der Teufel nämlich, nachdem man solchen „Gedanken“ nachgegeben hat – nimmt er jenem die Waffen weg, auf die er vertraut hatte, nämlich die lebendige Erinnerung an die Heiligen Schriften und die Gottesfurcht, und zerteilt seine Rüstung, indem er, was den Tugenden zu eigen war, unter die entgegenstehenden Laster aufteilt.
Was für feine Beobachtungen und was für eine feine Seelenkunde – heute Psychologie genannt. Natürlich hat die sog. moderne Psychologie davon keine Ahnung mehr, glaubt sie doch gewöhnlich weder an die Existenz der Geistseele, noch des Teufels. Für uns Katholiken ist das Beschriebene wiederum meist aus eigener Erfahrung leicht als wahr zu erweisen. Wenn man bei einer Versuchung sofort nüchtern, fest und beharrlich widersteht, hat man meistens schon gewonnen. Beginnt man dagegen mit der Versuchung zu spielen, ist man schon auf dem Weg ins Verderben. Sobald einem der Teufel übermannt hat, übernimmt er das Haus. Er nimmt einem die Waffenrüstung Gottes weg und legt die Seele in Ketten. Die Tugenden verflüchtigen sich schnell und weichen den gegenteiligen Lastern.
Es gilt für uns, den Zusammenhang zu begreifen. Wie nach der Lehre der Väter die Keuschheit einem nicht zu eigen wird, bevor nicht im Herzen das Fundament der Demut gelegt ist, so kann man nach ihrer Ansicht auch nicht zu den Tiefen der Erkenntnis (ad fontem verae scientiae, zu den Quellen der wahren Erkenntnis, d.h. zur „Gnosis“) gelangen ohne Keuschheit. Zwar kann man keusch sein, ohne die Gnadengabe der Erkenntnis zu haben, unmöglich jedoch ist es, zu den Tiefen der Erkenntnis vorzudringen, solange man nicht in der Keuschheit vollendet ist. Das ist übrigens ein Erkenntniskriterium zur Unterscheidung der Geister: Jeder Seher, der nicht zumindest ein heiligmäßiges Leben führt, ist verdächtig. Wie wenig wird das von den meisten Traditionalisten beachtet, die jeder Erscheinung und jedem „Seher“ blind hinterherlaufen!
Beharrlichkeit und Maß
Abschließend sei noch eine Bemerkung des Mönchsvaters erwähnt, die nochmals den inneren Zusammenhang der Tugenden und Laster aufzeigt:
Um sexuellen Traumphantasien nach Möglichkeit vorzubeugen, muß man sich an die Disziplin eines gleichmäßigen und vernünftigen Fastens halten – ohne Exzesse nach der einen oder der anderen Seite. Bei Über-Strenge im Nahrungsentzug wird man allzu leicht in den Fastenpausen übermäßig viel essen. Dieser Mangel an Gleichmäßigkeit wirkt sich nachteilig auf die innere Ruhe aus und fördert sexuelle Spannungen. Vor allem aber gilt es, Demut zu üben und innere Geduld, um wachsam den Zorn und die übrigen Leidenschaften in Schach zu halten. Denn wo das Gift der Wut sich eingenistet hat, dorthin findet auch das Feuer sexueller Begierde eine offene Tür.
Was für ein reicher Schatz von Erfahrungen birgt sich in diesen wenigen Sätzen. Aus ihnen ersieht man, daß der Mensch sich immer gleich bleibt – oder anders gesagt: immer gleich gefährdet ist aufgrund seiner erbsündlichen Schwäche. Ohne die beharrliche, gleichbleibende Mühe um die Tugenden kann er die verkehrten Neigungen seines Herzens nicht wirklich korrigieren. In ständigem Gebet und Vertrauen auf die göttliche Hilfe wird er aber wieder Herr in seinem eigenen Haus.
Noch etwas ist aus dem Gesagten ersichtlich: Was für eine Katastrophe war die sog. sexuelle Revolution. Wenn man dem ohnehin schon geschwächten Menschen einredet, daß es – wenn man sich nur lieb hat – keine moralischen Schranken gibt, dann versinkt er schnell im moralischen Sumpf. Das bedeutsamste Opfer diese Revolution war und ist die christliche Ehe. Es muß niemanden wundern, daß die allermeisten Ehen heute scheitern – schon nach sehr kurzer Zeit scheitern. Im Tradiland hatte man sich eine Weile eingebildet, daß man vor dieser Katastrophe geschützt sei, nur weil man Traditionalist war und in die alte Messe ging. Inzwischen hat sich gezeigt, das war eine arge Täuschung. Wie viele Ehen unter Traditionalisten sind inzwischen gescheitert und geschieden? Und wie viele Jugendliche sind auf der Strecke geblieben, weil sie den Kampf um die Reinheit des Herzens aufgegeben und verloren haben!
Als ein traditioneller Priester wieder vermehrt auf die alte kirchliche Fastenordnung hinwies – in Deutschland galt seit dem Krieg aufgrund der Hungersnot eine Ausnahmeregelung – erntete er von manchen, auch Mitbrüdern, nur Unverständnis oder gar Spott. Es geht hierbei doch immerhin um die Frage: Kann man keusch leben, ohne zu fasten? Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Wenn man also nur noch zwei Mal im Jahr so richtig fasten muß, dann wird es wohl auch mit der Enthaltsamkeit außerhalb oder auch innerhalb der Ehe nicht mehr besonders bestellt sein. Nur allzu leicht versinkt man im moralischen Sumpf, wie die Erfahrung leider täglich lehrt.