Konrad Algermissen (1889-1964) war Professor für Dogmatik und Moraltheologie am Bischöflichen Priesterseminar in Hildesheim. Als Fachmann für „Konfessionskunde“ wirkte er am „Lexikon für Theologie und Kirche“ mit und veröffentlichte mehrere Arbeiten zu diesem Thema, als wichtigste sein gleichnamiges Hauptwerk, das 1930 erstmals erschien. 1939 kam eine Neuauflage der „Konfessionskunde“ heraus, aus der wir folgende Abschnitte entnommen haben (S. 260-267).
„Schon bald setzte ein neuer Irrtum ein, längst vor Luther. Die nächstliegende Ursache war das vielfache Mißverhältnis zwischen Lehre und Leben, auch bei führenden Männern der Kirche. Die tiefste Ursache war das zu allen Zeiten des Glanzes der Kirche stärker noch als sonst einsetzende dämonische Ringen der Mächte der Finsternis. Daß hierin der letzte Grund zu suchen ist, zeigt schon die Tatsache, daß oft gerade diejenigen, die persönlich den geringsten Anlaß gehabt hätten, sich über das Mißverhältnis von Ideal und Wirklichkeit im Leben anderer zu beschweren, diese Diskrepanz in der historischen Erscheinung der Kirche vorschützten, um ihren Kampf gegen das Wesen und den Bestand der Kirche als solcher nach außen zu motivieren.“ Ist es nicht heute ganz dasselbe? „Die darin liegende, meist mit Apostatenhaß verbunden innere Unwahrhaftigkeit beruht letztlich auf den Einflüssen dessen, den die ewige Wahrheit selber als den ‚Vater der Lüge‘ (Joh. 8, 44) bezeichnet. Wir finden diesen Geist besonders bei der Gruppe der antikirchlichen Humanisten der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit verwirklicht. Die von solchen Elementen ausgehende zersetzende Kritik ist von der ernstgemeinten, aus Liebe entsprungenen, notwendigen und fruchtreichen Kritik unschwer zu unterscheiden.“ Das macht den Unterschied zwischen echten und falschen Reformatoren.
„Schon bald nach Beginn des 14. Jahrhunderts setzte eine Kritik an Kirche und Papsttum ein, die nicht nur bestehende Mißstände zu bessern suchte, sondern auch an den Grundlagen des Glaubens rüttelte.“ Diese Kritik wird zu einem beständigen Kennzeichen der „Neuzeit“ werden. „Der Arzt und Politiker Marsilius von Padua (gest. 1342) lehrte in seinem ‚Defensor pacis‘ die völlige Unterordnung der Kirche unter den Staat, die Unterordnung des Papstes unter das Konzil und die Irrtumsfähigkeit des Papstes bei Glaubensentscheidungen, da nicht er, sondern das aus Geistlichen und gewählten Laien zusammengesetzte Konzil oberster Lehrer der Wahrheit sei. Die Laien stellte er den Klerikern in der Kirche gleich, bestritt den Wert der Tradition und erklärte die Schrift als alleinige Glaubensquelle. Hier liegen die frühesten Elemente, aus denen das Gebäude der Reformatoren gebaut ist.“
„Dieser immer mehr zutage tretenden Skepsis, die bei vielen die Grundlagen des katholischen Denkens ganz erschütterte, lag die philosophisch-theologische Gedankenwelt des von dem englischen Franziskaner Wilhelm von Ockham (gest. 1349) ausgebauten Nominalismus zugrunde. Nach der Lehre Ockhams, der schon als Bakkalar von Oxford bei Papst Johann XXII. wegen Häresie angeklagt wurde, nie Magister war und seit 1328 eine stark antipäpstliche Politik betrieb, sind die Allgemeinbegriffe reine Gebilde des Menschengeistes, die dieser unter dem Eindruck der Einzeldinge notwendig gestaltet, denen aber weder in den Dingen eine objektive Wirklichkeit noch in der Seele eine psychische Realität entspricht, die nur gedanklich konstruierte Zeichen für ähnlich erscheinende Einzeldinge, aber nicht der geistige Ausdruck der den Dingen gemeinsamen Wesenheit sind. Wir können nur Einzeldinge erkennen; die aus den Allgemeinbegriffen gebildeten allgemeinen Wahrheiten bestehen nur in unserem Denken, haben aber keine tatsächliche Gültigkeit.“ Heute würde man sagen, sie sind reine Produkte unseres Gehirns.
„Aus dem vollständigen Mißtrauen gegen die Vernunft folgt die scharfe Trennung von Glauben und Wissen, die einseitige Betonung der Glaubens und des Irrationalen sowie die Unmöglichkeit einer religiösen Wissenschaft, auch auf dem Gebiet der Moral.“ Von hier führt eine gerade Linie zum Modernismus. „Da wegen der objektiven Wertlosigkeit der Allgemeinbegriffe eine Erkenntnis des Wesens der Dinge unmöglich ist, kann auch von einer inneren sittlichen Güte und Schlechtigkeit und von einem wesenhaften Unterschied zwischen gut und böse nicht gesprochen werden.“ Daher kommt die Relativierung und Auflösung jeder Moral. „Nicht in objektiven Normen, sondern in dem von allen Normen absolut freien Willen Gottes liegt der Unterschied zwischen Tugend und Sünde und die Anrechnung der Taten als Schuld oder Verdienst. Diese voluntaristische Gottesidee, die den ewig heiligen Willen Gottes in subjektivistische Willkür auflöste, mußte zu einer Veräußerlichung des Begriffes der Gnade und des Wesens der Rechtfertigung, zu einer Entwertung des Bußsakramentes und der Kirche als Heilsanstalt führen.“ Das hat Luther zur Vollendung gebracht.
„Mit dieser philosophisch-theologischen Gedankenwelt, die die von der Scholastik tief fundierte und zu immer größerer Vollkommenheit geführte mittelalterliche Einheit von Wissen und Glauben, Dogma und Philosophie, Religion und Leben zerstörte, traf sich die Kulturströmung der Renaissance. Während aus dem Nominalismus der religiöse Subjektivismus entsprang, ging von der Renaissance eine anthropozentrisch-individualistische Welle aus. Beide wirkten auf die Loslösung des Menschen von den religiösen, kirchlichen Bindungen. Die bestehenden kirchlichen Mißstände förderten diese Tendenz. In den Schriften und Reden der radikalen Gruppe der Humanisten wirkte sie sich am zersetzendsten in kirchlicher Hinsicht aus. In den Lehren eines Marsilius von Padua, Gregor von Rimini, Wiclif, Hus, Johannes von Wesel u.a. bedrohte sie auch die Grundlagen des Dogmas.“ Sie alle können als echte Vorläufer der „Reformation“ gelten.
„Was bei diesen Theologen mehr eine Angelegenheit des Verstandes und Willens blieb, wurde bei dem tief veranlagten deutschen Augustinermönch Martin Luther (1483 bis 1546) zu innerster Herzenssache. Luther war philosophisch und theologisch im Nominalismus gebildet und hatte die Größe und Tiefe der Scholastik nicht genug kennen gelernt. Das alte Anliegen des abendländischen Menschen, das Suchen nach einem gnädigen Gott, steigerte sich bei ihm zu brennender Seelenqual. Aus der inneren Not, in die ihn seine leidenschaftliche Natur in Verbindung mit der nominalistischen Gedankenwelt in der Stille des Klosterlebens brachte, suchte er Rettung bei Augustinus. Die scharfen Zuspitzungen, die dieser große Kirchenlehrer in seinem Ringen mit den Pelagianern über Natur und Gnade, Sünde und Erwählung gefunden hatte, und die selbst ruhigere Denker einseitig gedeutet haben, mußten bei dem nominalistisch geschulten, in Verzweiflungs-Stimmung aus quälendstem Sündenbewußtsein nach Rettung schreienden Luther in vielem irrig verstanden werden. Das Mißverstehen Augustins führte ihn zur falschen Deutung der Lehre des heiligen Paulus über Gesetz und rechtfertigenden Glauben und der Lehre der deutschen Mystik von der Gelassenheit, die er im Sinn einer rein passiven Hingabe an Gott verstand.“
„So schuf sich Luther in einem Akt der Selbstbefreiung aus drückendster Seelenqual ein Glaubenssystem, in dem er subjektiv Trost fand und Rettung zu finden glaubte…“ Dieses Erschaffen eines eigenen, subjektiven Glaubenssystems zur Lösung persönlicher Probleme wird auch ein Kennzeichen der Modernisten sein. „In den einzelnen Irrungen über Kirche, Priestertum und Hierarchie, Erbsünde und Buße, Altarssakrament und Letzte Ölung brachte dieses neue Glaubenssystem nichts, was nicht die Theologen der nominalistischen Richtung auch schon in ähnlicher Weise behauptet hatten. Aber bei aller Abhängigkeit hat sich Luther doch keinem seiner Lehrer vollständig verschrieben, am wenigsten dem Ockham. Er hat vielmehr die empfangenen irrigen Anregungen benutzt, um in ihrem Irrlichte auf Grund der Bibel einen eigenen Weg der Rechtfertigung zu finden.“ Auch jeder Modernist findet seinen je eigenen Weg, hat seine je eigene „Theologie“, bei aller Abhängigkeit von anderen irrigen Systemen und Modernisten.
„Seit den Tagen der Gnosis hat keine Häresie so stark an den Grundlagen des katholischen Denkens gerüttelt wie das mit der kirchlichen Überlieferung grundsätzlich und vollständig brechende Glaubenssystem Luthers. Während aber über seinem System, trotz der niederdrückenden Lehre von der sittlichen Knechtschaft des Willens und der absoluten Sündhaftigkeit alles menschlichen Tuns, immerhin eine gewisse Helle liegt im Glauben an Gott als den unendlichen Liebeswillen, ist dieser Zug in dem von Zwingli und Calvin reformierten protestantischen System ganz zerstört. Hier ist Gott der absolut frei waltende, in der Prädestination zum Glauben und zur Beseligung wie in der unabänderlichen und notwendig wirkenden Prädestination zum Unglauben und zur Verdammung seine Verherrlichung suchende Souverän. Der Wert der Gnadenmittel ist im reformierten System fast ganz verflüchtet.“ Es entsteht der Willkür- und Tyrannengott, von dem man sich befreien muß. Das endet im Deismus, Atheismus und Pantheismus.
„Für die theologische Wissenschaft wurde das Ringen mit dem Protestantismus zum Segen, nicht nur durch das Aufblühen einer reichen, oft sehr leidenschaftlichen Kontrovers-Literatur und einer noch gesteigerten Beschäftigung mit bibelwissenschaftlichen und exegetischen Fragen, sondern vor allem dadurch, daß der zersetzende Geist des Nominalismus durch die Neuerweckung der Werke und Gedankenwelt des Thomas von Aquin überwunden wurde. Der Dominikaner Kardinal Thomas de Vio aus Gaeta, deshalb Cajetanus genannt (1469 bis 1534), der schärfste Kämpfer gegen den Nominalismus, der hervorragendste Theologe der Reformationszeit, ein Mann von philosophischer Tiefe, gründlichster dogmatischer Schulung, großer Selbständigkeit im Urteil, kritischem Blick und klassischer Ruhe, der persönlich mit Luther im versöhnlichen Sinn verhandelte, war es, der der Neuzeit die Geisteswelt des Aquinaten übermittelte. Ihm folgten die großen spanischen Theologen des 16. Jahrhunderts, Dominikaner wie Jesuiten, unter ihnen besonders der als Theologe und Philosoph wie als Staats- und Völkerrechts-Lehrer gleich bedeutend Franz Suarez (1548 bis 1617). Die Werke Cajetans dienten dem Konzil von Trient vielfach als Vorlage.“ So schlug auch diese Prüfung letztlich zum Besten der Kirche aus, wie denn Gott alle Angriffe des Bösen Feindes gegen Seine Kirche und dessen vorübergehende Triumphe nur zuläßt, um daraus sie zum Wohl für die Kirche zu wenden.