Der heilige Vianney - Vorbild für die Weltpriester (5)

Wer nicht ganz und gar weltfremd geworden ist oder von typisch traditionalistischen Wahrnehmungsstörungen geblendet wird, der wird es als evidente Tatsache ansehen, daß das modernistische „Priester“-Bild mit dem katholischen Priestertum nichts mehr zu tun hat, wie wir es in unserem vorletzten Beitrag gezeigt haben. Wie sollte es auch anders sein, hat doch der modernistische Irrglaube das Wissen um das katholische Priestertum und damit zusammenhängend das Wissen um das hl. Meßopfer fast vollkommen ausgelöscht und durch mancherlei irrige Vorstellungen ersetzt. Auch diesen Irrungen sind wir im vorletzten Beitrag dieser Reihe nachgegangen. Nun wollen wir unseren Blick wieder dem hl. Pfarrer von Ars zuwenden.



Wie wir schon gehört haben, ist er nach den Wirren der Französischen Revolution ausgebildet und zum Priester geweiht worden. Während der langjährigen schweren Verfolgungen hatte es viele Glaubenszeugen gegeben, die ihr Leben für ihren hl. Glauben hingaben. So wurde bei einem Teil des Volkes der Glaube gestärkt, wohingegen bei dem anderen Teil die verderblichen Lehren der Revolutionäre nachwirkten und zur religiösen Gleichgültigkeit führten. Als der hl. Johannes Maria Vianney nach Ars kam, war seine Pfarrei ein Spiegelbild des Zustandes des ganzen Landes. Sein Biograph Dr. Francis Trochu beschreibt die damalige Situation folgendermaßen:

Das Dörfchen Ars zu Beginn des 19. Jahrhunderts

„Im 18. Jahrhundert war Ars noch eine tiefchristliche Pfarrei gewesen. Und man darf auf übertriebene Darstellungen hin nicht glauben, Vianney sei im Jahre 1818 auf eigentliches ‚Missionsgebiet‘ gestoßen, auf eine Bevölkerung, jeglichen Glaubens und jeglicher christlichen Sitte bar. Sicherlich hatte das Dorf in den letzten fünfundzwanzig Jahren religiös nicht geglänzt. Praktisches Heidentum hatte die Seelen durchsetzt, hatte bei der Mehrzahl dieser Dörfler den Glauben geschwächt, aber nicht völlig ausgerottet. ‚Es war ein Schlendrian in der Pfarrei eingerissen‘, sagt ein gut unterrichteter Zeuge, ‚eine gewisse Nachsichtigkeit und Gleichgültigkeit. ... Ich glaube nicht, daß in Ars Ausnahmemißstände vorlagen. ... Das Bedauerlichste an dieser Pfarrei war im Grunde das völlige Außersichtkommen aller religiösen Übungen.‘
Ohne jegliche Gewissenssorge versäumte man aus nichtigen Gründen die hl. Messe. Ohne die geringste Notwendigkeit arbeitete man am Sonntag, besonders zur Zeit des Heuet [Heuernte] und der Ernte. Männer, Burschen, selbst Kinder hatten sich freches Fluchen angewöhnt. Vier Kneipen nannte Ars sein eigen, in denen die Familienväter ihr Gut verpraßten. Besonders an Sonn- und Montagabenden gröhlten Betrunkene durch das friedliche Dorf. Die Mädchen waren leidenschaftlich dem Tanzlaster verfallen. Die Kunkelstuben, die bis tief in die Nacht hinein dauerten, waren die Quellen schwerer Sünden.
Mit diesen Mißständen ging eine tiefe Unwissenheit Hand in Hand. Die Kinder kamen nur selten und unregelmäßig in die Christenlehre. Zudem konnte man die des Lesens Kundigen an den Fingern zählen. Schulzwang war unbekannt. Schon früh wurden sie zur Arbeit herangezogen und brachten die ganze schöne Jahreszeit draußen auf den Feldern zu. Mit Winteranfang eröffnete ein Wanderlehrer eine Schule für Mädchen und Knaben. Aber die armen Tröpfe lungerten, statt zu lernen, auf der Straße herum.
Das Bild ist nicht schmeichelhaft. Aber Ars glich eben allen andern Pfarreien der Umgegend, war nicht besser und nicht schlechter. Kein Haß gegen den Priester. Alles in allem ‚ein gewisser Untergrund von Religion, aber sehr wenig frommer Geist‘.“ (Dr. Francis Trochu, Der heilige Pfarrer von Ars, Otto Schloz Verlag, Stuttgart Degerloch, S. 97f – im Folgenden mit „Trochu“ abgekürzt.)

Die Pfarrei von Ars war wie ein verwilderter Garten, in dem zwar das Unkraut überhandgenommen hatte, weil der gute Hirte fehlte, aber auch noch da und dort guter Samen wuchs und gedieh. Johannes Maria Vianney sollte dieser gute Hirte für seine Herde sein, der das Unkraut wo möglich und nötig herausriß und den Weizen pflegte, damit er wieder Frucht tragen konnte. Wie er auf seinem Weg nach Ars Anton Givre gesagt hatte: „Mein kleiner Freund, du hast mir den Weg nach Ars gezeigt, ich werde dir den Weg zum Himmel zeigen.“

Wie denkt Gott?

Wie hat nun der hl. Johannes Maria Vianney dieses Wunder vollbracht? Wie schauten seine „veralteten Methoden“ aus, wie wir im vorletzten Beitrag hörten? Die Antwort auf diese Frage wird uns noch deutlicher den Unterschied zwischen der wahren Kirche Jesu Christi und der Menschenmachwerkskirche offenlegen.

Wie wir gehört haben, war Johannes Maria kein gewöhnlicher junger Mann, auch kein gewöhnlicher Seminarist und kein gewöhnlicher Priester, sondern ein Priester ganz nach dem Herzen Jesu. Was zunächst heißt, er dachte nicht rein natürlich, sondern konsequent übernatürlich, er dachte nicht so, wie die gewöhnlichen glaubensschwachen oder gar glaubenslosen Menschen denken, sondern wie Gott. Wie aber denkt Gott? Beim Propheten Isaias findet man die Antwort: „Sucht den Herrn, solange er sich finden läßt! Ruft ihn, solange er noch nahe ist! Der Gottlose lasse von seinem Weg und der Frevler von seinen Gedanken! Er kehre zum Herrn zurück, so wird er sich seiner erbarmen – zu unserem Gott, denn reichlich wird er vergeben! ‚Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege‘, – Spruch des Herrn. – ‚Nein, so hoch der Himmel über der Erde, so hoch sind meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über euren Gedanken. Denn so wie Regen und Schnee niederfallen vom Himmel und nicht zurückkehren dahin, bis sie die Erde getränkt und befruchtet und zum Sprießen gebracht, um Samen zu geben dem Säenden und Brot dem, der ißt: So ist es auch mit meinem Wort, das aus meinem Mund hervorgeht: Es kehrt nicht erfolglos zu mir zurück, bis es vollbracht, was ich wollte, und erfüllt, wozu ich es sandte‘“ (Is. 55, 6-11).

Die Bekehrung der Herzen

Damit aber das Wort Gottes in die Herzen dringen kann, braucht es bereitete Herzen, Herzen, die die Sünde fliehen und sich möglichst rückhaltlos Gott zuwenden. Die Bekehrung der Herzen ist wiederum zunächst ein Werk der Gnade. Sie kann nicht mit rein natürlichen Mitteln, mit psychologischen Mitteln der Werbung erreicht werden. Der Erfolg im Reiche Gottes ist nicht mit den Mitteln eines Wirtschaftsunternehmens zu erreichen. Nicht weil man die Werbung perfektioniert, kommen mehr Leute in die Kirche. Aber was muß man denn dann machen? Sein Biograph bemerkt:

„Ohne Zweifel entdeckte Vianney auf diesem mageren, ihm anvertrauten Feld den guten Samen, sah ihn aber derart vom Unkraut überwuchert, daß ihm bange wurde. Zudem beurteilte der neue Seelsorger seine Pfarrei mit den Augen seiner eigenen Gewissenszartheit und nach seinem eigenen Sündenabscheu. Und so nahm er Mißstände wahr, die andern Blicken entgangen wären. Ohne aber seine Zeit mit Jammern zu vertrödeln, machte er sich unverwandt ans Werk. Er trug sich nicht mit dem Plan, die ganze Welt zu bekehren, aber dieses Dorf, dessen Seelen ihm Gott anheimgegeben. Von diesem Gesichtspunkt gilt es, Vianneys Lehren und Taten aus den ersten Jahren seiner Seelsorgstätigkeit zu beurteilen. Er wird für Ars reden, aber gegen die Mißstände von Ars donnern. Auf ein anderes Feld gestellt, hätte er seinem Eifer zweifellos einen andern Lauf gegeben. Aber gegen Mißbräuche und Übelstände, die überall unter gleicher, wenn auch leicht wechselnder Gestalt auftreten, suchte er keine neuen Gegenmittel. Sein Bestreben ging einfach dahin, gegen alte Übel die alten Arzneien nach überlieferter Methode anzuwenden.“ (Trochu S. 98f.)

Altbewährte Heilmittel

Bei allem modernen, d.h. vor allem technischen Fortschritt ändert sich die Welt des Menschen dennoch nicht grundlegend, weil nämlich der Mensch immer seinem Wesen nach gleich, also Mensch bleibt. Es ist für einen Katholiken immer wahr: Gegen das alte Übel der Sünde kann man und muß man immer die alten Arzneien nach überlieferter Methode anwenden, weil auch die Gesetze der Gnade immer gleich bleiben.

Wenn – wie wir im vorletzten Beitrag haben – Joseph Ratzinger behauptet: „Die pastoralen Methoden des heiligen Jean-Marie Vianney könnten für die derzeitigen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen als wenig geeignet erscheinen. Wie könnte schließlich ein Priester es ihm heute, in einer so sehr veränderten Welt nachtun?“, so zeigt er damit nur, daß er nicht mehr katholisch, sondern modernistisch denkt. Einen Sünder zu bekehren ist letztlich immer nur durch Gebet und Buße möglich – wahres Gebet und keine charismatische Gefühlsduselei, und übernatürliche Buße, muß man heutzutage ergänzend hinzufügen. Wobei beides innig miteinander verbunden ist, wofür der hl. Pfarrer von Ars das beste Zeugnis gibt. Dazu nochmals sein Biograph Trochu:

„Sein vor dem Tabernakel durchbetrachtetes Programm war das eines jeden guten Hirten, dem das Heil seiner Herde wirklich am Herzen liegt: hingehen und so bald wie nur möglich Fühlung nehmen mit seinen Pfarrkindern; sich die Mithilfe der guten Familien sicherstellen; die Guten bessern; die Gleichgültigen zurückführen; die öffentlichen Sünder bekehren; vor und über allem aber zu Gott flehen, von dem jegliche gute Gabe kommt; sich selber heiligen, um so die andern zu vervollkommnen; Buße tun für die Schuldigen. Vor dem Werk, das seiner harrte, fühlte er sich so schwach und hilflos! Aber der junge Landpfarrer trug in sich die geheimnisvolle Kraft göttlicher Gnade. Gott erkor demütige Armseligkeit, um die stolze Kraft zuschanden zu stellen. Ein heiliger Priester verwirklicht eben Gewaltiges mit scheinbar so kleinen Hilfsmitteln.“ (Trochu S. 99)

Heroische Askese

Jeder aufrichtige Katholik, der nur einigermaßen ernsthaft danach strebt, der göttlichen Gnade entsprechend zu leben, wird diese Erfahrungstatsache nur bestätigen können. Gott erwählt demütige Armseligkeit, um die stolze Kraft zuschanden zu machen. Aber wie mühsam ist es, sich die eigene Armseligkeit einzugestehen, wenn es um die Gnade geht. Diese Einsicht wird allein durch das gewonnen, was man im Christlichen mit dem Wort „Aszese“ benennt. Im Deutschen oft mit „Abtötung“ wiedergegeben, was aber recht mißverständlich ist. Meist sagt man, man müsse dem eigenen Willen absterben, um den Willen Gottes erfüllen zu können. Das ist jedoch ungenau ausgedrückt. Es muß heißen: Man muß dem eigenen ungeordneten Willen absterben, um möglichst geordnet den Willen Gottes erfüllen zu können.

Manche Bücher beachten diese feine Nuance nicht und stellen es als höchstes Ideal hin, gar keinen eigenen Willen mehr zu haben. Wenn man aber gar keinen eigenen Willen mehr hat, dann kann man auch nicht mehr den Willen Gottes erfüllen, man wird vielmehr in Tatenlosigkeit und Melancholie versinken. Der hl. Pfarrer von Ars wußte beides natürlich klar zu unterscheiden, wobei ihn die göttliche Gnade in ganz besonderer Weise zu einer fast „maßlosen“ Askese antrieb, weil die Liebe zu Gott kein Maß kennt. Hier wird aber auch die Grenze sichtbar, die man immer beachten muß, wenn man das Leben eines Heiligen betrachtet: Es gibt im Leben der Heiligen Taten, die man zwar bewundern, aber nicht nachahmen soll. Was aber wiederum nicht heißen soll, daß das Vorbild der Heiligen nicht grundsätzlich gilt, sondern nur die heroische, über das normale Maß hinausgehende Ausübung ist nicht so ohne weiteres nachzuahmen.

Gebet und Buße

Grundsätzlich gilt: Jeder Katholik muß sich selbst überwinden, d.h. er muß fasten und Buße tun. Aber wie dies konkret und genau aussieht, ist für jeden einzelnen Menschen verschieden, weil jeder Mensch von Gott ganz besondere Gnaden erhält, Gnaden, die einmalig und vollkommen auf die einzelne Person abgestimmt sind. Es ist eine der wichtigsten, aber auch schwersten Aufgaben im geistlichen Leben, dies recht zu erkennen, um sodann das rechte eigene Maß zu finden.

Das Himmelreich leidet Gewalt

Johannes Maria Vianney fällt, wie letztlich jeder Heilige, durch ein wenigstens zeitweise geübtes Übermaß an Buße oder Abtötung auf. Es kommt hier zum Ausdruck, was unser göttlicher Lehrmeister sagt: „Seit den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalt gebrauchen, reißen es an sich“ (Mt. 11, 12). Also ohne Selbstüberwindung, d.h. ohne die ungeordneten Leidenschaften beherrschen zu können, kann man nicht ins Himmelreich eingehen. Diese Wahrheit machen die Heiligen durch ihr Übermaß an Tugendübung – wir nennen diese darum heroisch, heldenhaft – greifbar. Als Johannes Maria nach Ars kam, war sein erstes, im Pfarrhaus für Armut zu sorgen. Alles, was ihm überflüssig erschien, gab er zurück oder außer Haus. Unser Biograph beschreibt es so:

„Aber Vianney, der doch das alte, ihm von Bailey vermachte Bett sein eigen nennen konnte, wollte nur das Allernotwendigste behalten. War er jetzt nicht sein eigener Herr? So ersuchte er gelegentlich eines Besuches auf dem Schloß das Fräulein von Ars, all diese schönen Stücke, für die er auch nicht das geringste Bedürfnis hatte, abholen zu lassen. Desgleichen ‚eine Bratpfanne samt Spieß‘ und andere Küchengeräte. Er lebe so einfach! Er wolle mit ihrer gütigen Erlaubnis ein gewöhnliches Bett, zwei alte Tische und einen Bücherschrank zurückbehalten, ferner einige Büfette, Strohstühle, einen gußeisernen Topf, einen Ofen und einige andere kleinere Gebrauchsgegenstände für seinen Haushalt.“ (Trochu S. 100f.)

Armut

Die Armut ist ein evangelischer Rat, der letztlich auf das Vorbild Jesu zurückgeht, der von sich sagen konnte: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat keine Stätte, wohin er sein Haupt legen könnte“ (Mt 8,20). Der Sinn der Armut besteht darin, ganz auf die Vorsehung Gottes zu vertrauen, weil man keine irdische Absicherung hat, auf die man sich stützen kann. Dabei gibt es natürlich verschiedene Möglichkeiten, diese Armut zu verwirklichen. Und nicht die äußere Armut ist das Entscheidende, sondern die Armut des Geistes, d.h. das Wissen um die vollkommene Abhängigkeit von Gottes Güte und Vorsehung.

Die Einwohner von Ars sahen die Armut ihres neuen Pfarrers und waren selbstverständlich beeindruckt. Wobei die Wohlhabenderen, also die Gutsbesitzer und Großpächter, die für die Armen keinen Sou hergeben wollten, zutiefst betroffen waren, als sie hörten, der Pfarrer habe gar nichts von all den schönen Sachen für sich behalten. Bei den Bettlern, denen er reichlich Almosen austeilte, sprach sich hingegen bald herum, daß man in Ars nicht mit leeren Händen weggeschickt wurde. Die Leute von Ars erzählten: „Von Ecully hatte Vianney eine wohlgespickte Börse mitgebracht; sie hielt nicht lange an.“ Jedoch war dieses Beispiel nur der Anfang, wie der Biograph in seinem Bericht fortfährt:

„Der Pfarrer von Ars gab sich nicht der einfältigen Hoffnung hin, seine bloße Gegenwart in der Pfarrei würde jeglichen Mißstand beheben. In den auf seine Einführung folgenden Wochen leitete er, der Seeleneroberer, den Feldzug ein. Es galt, auf diese Köpfe, die mehr aus Unwissenheit als aus Bosheit in solche Abgestandenheit hineingeraten waren, Einfluß zu gewinnen und ihre Herzen zu erobern.

Familienbesuche

Sechzig Familien besuchen, bedeutete an sich wenig. Auf die Weise kam es an. Pfarrer Vianney verließ — unter dem Arm den Dreimaster, den er überhaupt nie anders trug — gegen Mittag seine Kirche oder sein Pfarrhaus. Um diese Zeit würde er sicher alle Leute daheim treffen. Der erste Empfang war nicht überall gleich warm. ‚Die meisten jedoch‘, erzählt Wilhelm Villiers, ein Bauer aus Ars, der damals neunzehn Jahre zählte, ‚die meisten fühlten sofort seine Güte, seine Freudigkeit und Freundlichkeit heraus; wir hätten ihn aber nie für so tief tugendhaft gehalten.‘ Bei dieser ersten Fühlungnahme sprach er mit ihnen fast einzig über ihre materiellen Interessen, über ihre laufenden Arbeiten und die kommende Ernte. Er wollte einen Einblick in die Familien gewinnen und sich unterrichten über die Zahl der Kinder und ihr Alter, die Bekannten und Verwandten eines jeden Hauses. Wenn er zum Schluß das Wort Religion einfließen ließ, konnte er nach der Antwort der Leute auf den größeren oder geringeren Glaubensgeist der Familie schließen.“ (Trochu S. 101)

Allmählich vervollständigte sich das Bild Johannes Marias über seine Pfarrkinder. Er erkannte, daß die Revolutionszeit ihre Spuren in den Seelen hinterlassen hatte. Er mußte nüchtern feststellen, daß viele seiner Pfarrkinder die elementarsten Katechismusbegriffe nicht mehr kannten – besonders jene Jungen und Mädchen, die in den Revolutionsjahren groß geworden waren, also die Männer und Frauen zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Von diesen ging auch meistens das schlechte Beispiel in der Pfarrgemeinde aus. Das ging sogar so weit, daß sich manche unter ihnen brüsteten, ja sogar frech behaupteten, daß sie weder im Tanz noch in der Entheiligung des Sonntags, noch in den anderen Lastern auch nur das geringste Böse sähen. Erinnert das nicht sehr an unsere moderne Zeit, wo sich ebenfalls ein Großteil der sog. Katholiken nichts mehr dabei denkt, einen Großteil der Gebote Gottes und der Kirche zu übertreten? Da stellte sich die Frage: Wie sollte er diese verbildeten und verdorbenen Seelen zu einem katholischen Leben zurückführen? Der junge Seelsorger sah sein eigenes Unvermögen, ließ jedoch seinen Mut nicht sinken.

Das nächtliche Gebet des heiligen Pfarrers

Lassen wir hierzu seinen Lebensbeschreiber weiter berichten:

„Längst vor dem ersten Morgengrauen, wenn in Ars noch alles schlief, konnte man über den Friedhof hin einen zitterigen Lichtschein huschen sehen. Vianney schritt, die Laterne in der Hand, vom Pfarrhaus in die Kirche hinüber. Der ‚gute Soldat Christi‘ marschierte auf seinen Gebetsposten, schritt geradeaus auf den Tabernakel zu und warf sich dort in die Knie. Hier schüttete er seines Herzens heilige Sehnsucht und Leidenslast aus. In diesem ungestörten Schweigen der Nacht flehte er mit lauter Stimme zum Herrn, er möge doch Mitleid haben mit Herde und Hirte. ‚Mein Gott‘, hielt er an, ‚gewähre mir doch die Bekehrung meiner Pfarrei. Ich bin bereit, alles, was du über mich verhängen willst, bis zum Ende meines Lebens zu dulden. ... Ja, hundert Jahre lang die wildesten Schmerzen, wenn sie nur zu dir zurückfinden!‘ Mit seinen Tränen benetzte er die Fliesen der Kirche. Bei Sonnenaufgang kniete der arme Priester noch an der gleichen Stelle. Man konnte es am Lichte wahrnehmen, das durch die Scheiben glitzerte.“ (Ebd. S. 103)

Einen Menschen zu Gott, seinem Heiland und Erlöser Jesus Christus und zum göttlichen Glauben zurückzuführen, ist wesentlich mehr als eine bloße Überredung. Die verschiedenen Sekten überreden die Leute, weshalb sie auch meist durch entsprechend potente Geldgeber unterstützt werden (müssen), wenn sie Erfolg haben wollen. Denn Werbung kostet immer auch Geld! Und eine Sekte kann durchaus umso mehr Erfolg haben, je perfekter die Werbung für die eigene Sache gemacht ist.

Hierzu drängt sich freilich eine Frage auf: Warum kann die Menschenmachwerkskirche, die doch zweifelsohne immer noch mehr als genug Geld (und viel mehr als die meisten Sekten) hat, so wenig Leute anziehen? Wieso verliert sie im Gegenteil, obwohl sie jährlich Milliarden Euro zur Verfügung hat, dennoch immer mehr Leute an andere Sekten? Nun, es scheinen viele Sekten auf der „natürlichen“ Ebene viel gekonnter und effektiver zu arbeiten als diese. („Natürlich“ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es die bloße Natur gar nicht gibt, alles Bemühen des Menschen ist letztlich immer Gnade oder Ungnade.) Ja, während manche protestantische Gruppe wenigstens noch christlichen Glaubensgeist zu vermitteln vermag, gelingt das der Menschenmachwerkskirche offensichtlich nur noch sehr bedingt. Viele Menschenmachwerkskirchler sind, wenn man genau hinschaut, nicht einmal mehr Christen, d.h. sie leugnen ganz selbstverständlich die Gottheit Christi – wie ihr Chef, Herr Bergoglio.

Der hl. Pfarrer von Ars wußte, wie jeder Katholik, daß ohne die Hilfe Gottes und Seiner Gnade nichts Gutes im Reich Jesu Christi entstehen kann. Dieses Gute aber muß vor allem und zuerst erbetet und eropfert werden. Unser Biograph berichtet:

„Auch seine Vormittagsstunden nach der heiligen Messe verbrachte er in der gleichen Weise im Gebet vor dem Tabernakel, falls ihn die Seelsorge nicht fortrief. Wer ihn zu einem Kranken holen wollte, brauchte nicht ins Pfarrhaus zu gehen. Sie wußten, wo er zu finden war. An manchen Tagen verließ er die Kirche erst nach dem abendlichen Angelusläuten.“ (Ebd. S. 103f.)

Wann findet man heutzutage in einer Kirche noch einen betenden Priester, oder gar einen Priester, der Anbetung vor dem Allerheiligsten Altarsakrament hält? Einen Priester, der vor dem Tabernakel um die Seelen der ihm anvertrauten Herde ringt? Ein solcher „Priester“ ist in der Menschenmachwerkskirche sicherlich die Ausnahme, die Ausnahme von der Ausnahme sogar. Im Betrieb einer modernen Pfarrei dient das „Gebet“ in der Kirche viel eher der Unterhaltung als der Anbetung Gottes. Viele moderne Kirchengebäude sind auch gar nicht mehr dazu verwendbar, Anbetung zu halten. Eine Monstranz wirkt darin direkt wie ein Fremdkörper.

Ganz im selben Sinne wirkt auch das Brevier, das Priestergebet, bei einem modernen Gemeindevorsteher wie ein Fremdkörper. Wenn aber ein Priester nicht mehr betet – nicht mehr betet als seine Gläubigen – dann wird er notwendigerweise zum bloßen Pfarrmanager. Wie soll er dann noch den Menschen übernatürlichen Rat geben können, wie ihnen auf dem Weg zum Himmel helfen können, wenn er selber nicht mehr gottverbunden lebt?

Die Freude des heiligen Pfarrers

Das rechte Gebet muß man aber einüben, denn Beten lernt man nur durch Beten – durch beharrliches, aufmerksames, andächtiges Beten. Das wußte der hl. Pfarrer von Ars nur zu gut:

„Am Nachmittag erging er sich gewöhnlich in den Feldern, sei es, daß er sich etwas Erholung gönnte oder Kranke besuchte. Auch auf diesen Gängen betete er in Stoßseufzern seines priesterlichen Herzens und in Psalmworten des Breviers. Mit den Arbeitern auf den Feldern knüpfte er gern ein Gespräch an. Dann wanderte er, den Rosenkranz in der Hand, die Hohlwege entlang und suchte den Schatten der einsamen Gebüsche auf. Seine mystische Seele hungerte nach Einsamkeit und Frieden. Inmitten dieser Naturstille weitete sich seine an den frischen Höhenwind gewöhnte Brust in glücklichem Behagen. Er tut gut daran, sich diese freien Augenblicke zunutze zu machen, sich an Gottes schöner Natur zu ergötzen; denn bald wird der Tag kommen, wo ihm keine ruhige Stunde mehr gehört, wo er wie eingemauert ohne Luft und Sonne leben muß! — ‚Seine Freude‘, hat man von diesem neuen Franz von Assisi gesagt, ‚seine Freude war es, im Gehölz zu beten. Dort schaute er, einsam mit Gott, des Schöpfers Größe, und alles ward ihm Anlaß, selbst das Vogelgezwitscher, sich zu ihm zu erheben.‘
Nur mischten sich in diesen Seelenjubel düstere Gedanken. Eines Tages kam Papa Mandy durchs Gehölz von Papesse und fand dort Vianney auf den Knien. Der junge Pfarrer wurde seiner nicht gewahr. Er weinte heiße Tränen und betete: ‚Mein Gott bekehre meine Pfarrei!‘ Der Bauer wagte das herzergreifende Gebet nicht zu stören und entfernte sich leise.“ (Ebd. S. 104)

Die Gesetze der Gnade

Wir moderne Menschen stehen eher verständnislos vor einem solchen Beispiel, kennen wir doch die Gesetze der Gnade nicht mehr. Die göttliche Gnade läßt sich nicht natürlich fassen, denn sie gehört der übernatürlichen Welt an. Und in dieser übernatürlichen Welt fließt jede Gnade aus den Verdiensten Jesu Christi, d.h. jede Gnade stammt vom Kreuz, stammt aus dem Leiden unseres göttlichen Erlösers. Der ewige Hohepriester gibt uns das Beispiel dafür, daß jede Gnade erbetet und verdient werden muß. Denn das ganze Leiden Jesu, sein ganzer Kreuzweg war immer auch Gebet, Gebet zum Vater im Heiligen Geist. Und seitdem ist das Heil der Seelen geheimnisvoll hineingewebt in Sein Gebet und Sein hl. Opfer und das Gebet und das Opfer der hl. Kirche. Jeder Katholik, der in und mit der Kirche betet und opfert, nimmt am Erlösungsopfer Jesu Christ teil und hilft dem ewigen Hohepriester, Seelen zu retten. Aus dieser Verbundenheit mit der übernatürlichen Quelle der Gnaden folgt erst die apostolische Tat. Wird die Tat, das Apostolat, von dieser Quelle getrennt, wird es fruchtlos. Es zeugt kein übernatürliches Leben mehr, sondern höchstens Gemeinschaft – wie es bei den verschiedenen Sekten der Fall ist, die durchaus Erfolg haben und beachtliche Gemeinschaften bilden können.

Mit dem Herzen beten

Der katholische Priester betet und opfert daher nicht einfach nur für sich, er betet und opfert im Auftrag und in und mit der hl. Kirche. Sein Gebet ist deswegen auch ganz und gar vom katholischen Glauben geformt, weil es durch die Kirche im Heiligen Geist geformt wurde. Die unerläßliche Aufgabe des betenden Priesters und jedes Katholiken (etwa beim Beten des hl. Rosenkranzes) ist es, dem toten Buchstaben übernatürliches Gnadenleben einzuhauchen. Der hl. Pfarrer von Ars sagte einmal den Männern seiner Pfarrgemeinde: „Meine Brüder, nicht die langen und schönen Gebete sind es, die Gott ansieht, sondern die aus Herzenstiefe gesprochenen. … Nichts ist leichter, als zum lieben Gott zu beten, und nichts ist trostreicher.“ Das sagt übrigens ein Priester, der jeden Tag stundenlang betet und um die Seelen seiner Gemeinde ringt. Weshalb die Worte wohl nicht so zu verstehen sind, daß man nicht lange beten soll, sondern daß man immer mit dem Herzen beten soll, weil sonst selbst lange Gebete vor Gott wie nichts sind. Es ist durchaus wahr, nichts ist leichter, als zum Lieben Gott zu beten, und nichts ist trostreicher, aber zugleich ist und bleibt es eine dauernde Aufgabe, aufmerksam und andächtig, also mit dem Herzen zu beten. Der hl. Pfarrer weiß:

„Wenn man einen Menschen liebt, braucht man ihn dann zu sehen, um an ihn zu denken? Zweifellos nicht! Desgleichen wird auch uns, wenn wir den lieben Gott gern haben, das Beten so selbstverständlich wie das Atmen ... Oh, wie liebe ich diese Worte, in früher Morgenstunde gesprochen: Ich will heute alles tun, alles leiden, um so Gott zu verherrlichen. ... Nichts für die Welt oder aus Selbstsucht, alles um dem Heiland Freude zu machen! So vereinigt sich die Seele mit Gott, sieht nur ihn, wirkt nur für ihn. ... Wiederholen wir oft: Mein Gott, hab Erbarmen mit mir! Wie das Kind bei der Mutter anhält: Reich mir die Hand, gib mir Brot. ... Und wird uns irgendeine Last aufgebürdet, wollen wir gleich denken, wir schreiten in der Nachfolge Jesu Christi und tragen sein Kreuz, wollen unsere Peinen vereinen mit denen des göttlichen Erlösers.“ (Ebd. S. 159f.)

„Seelenretten muß etwas kosten“

Zum Gebet des hl. Pfarrers von Ars gesellte sich ganz selbstverständlich die Buße. Vor allem weil er jeden Zeugen seiner entsetzlichen Kasteiungen ausschließen wollte, hat er im alten Pfarrhaus allein bleiben wollen. Der hl. Pfarrer kannte noch das geheimnisvolle Gesetz der Gnade: Gott würde den armen Sündern viel schneller verzeihen, wenn nur jemand für sie sühnen und sich so für sie einsetzten würde. Jeder Katholik weiß es: „Seelenretten muß etwas kosten.“

Wir haben schon gehört, daß Johannes Maria Vianney, alles aus seinem Pfarrhaus weggab, was ihm überflüssig erschien. Und weil ein Heiliger die Dinge anders beurteilt als ein gewöhnlicher Mensch, schenkte er fast alles weg, weil er sehr wenig brauchte. Seine eigene Matratze fiel gleich zu Beginn dieser Sicht der Dinge zum Opfer. Als das erledigt war, stellte sich die Frage: Brauchte er überhaupt ein Bett? Er zog es vor, mehrere Wochen hindurch sich drunten in einem Kellerraum auf Reisig zu „betten“. Weil jedoch der Steinbelag und die Mauern recht feucht waren, zog sich der strenge Büßer eine Gesichtsnervosität zu, an der er fünfzehn Jahre lang zu leiden hatte. Anstatt nun doch endlich sein Zimmer zu beziehen, ging er lieber auf den Speicher schlafen, wenn man das noch so nennen konnte. Eines nachts hörte ihn ein Mann aus Ars, der ihn zu einem Sterbenden rufen wollte, von diesem ungemütlichen Boden heruntersteigen.

Das Zügeln unserer ungeordneten Neigungen

Auch hierzu muß man für den modernen Menschen eine Erklärung einfügen: Ist das nicht unklug? Der Mensch braucht doch seinen Schlaf, um vernünftig arbeiten zu können, oder nicht? Das ist zwar wahr, aber nur die halbe Wahrheit. Denn zudem muß der Mensch – wenn man Natur und Gnade bedenkt – auch fähig werden, all seine (durch die Erbsünde ungeordneten) Neigungen wieder ganz der Vernunft unterzuordnen. Und das gelingt sicherlich nicht ohne schweren Kampf, ohne langjähriges Bemühen um die dazu notwendigen Tugenden. Bei den Heiligen wird dieser Kampf in seiner ganzen Radikalität sichtbar. Wir sagten, daß hierin die Heiligen zwar zu bewundern und nicht unbedingt nachzuahmen sind. D.h. aber nicht, daß nicht auch jeder Katholik diesen Kampf zu führen hat. Es heißt nicht, daß dies nur für die Heiligen gilt, aber nicht für uns. Im gewissen Rahmen muß jeder dafür kämpfen, seine ungeordneten Neigungen soweit zu überwinden, damit er sodann in der Versuchung standhaft bleiben kann. Nochmals: Es ist sicherlich von uns nicht verlangt, im Keller auf dem bloßen Fliesen oder auf dem Dachboden mit einem Stück Holz als Kopfkissen zu schlafen, aber es ist durchaus notwendig, das Schlafbedürfnis soweit zu beherrschen, daß wir nicht die Hälfte unseres Lebens verschlafen.

Die Kasteiungen des heiligen Pfarrers von Ars

Der hl. Pfarrer von Ars ging noch viel weiter:

„Meistens ging dem unbequemen Ruhen eine viel härtere Kasteiung voraus. In sein Zimmer eingetreten, schlug Vianney den oberen Teil seiner Soutane zurück, bewaffnete sich mit einer eisenspitzigen Geißel und hieb dann unbarmherzig auf seinen ‚Kadaver‘, seinen ‚alten Adam‘ ein, wie er seinen Körper nannte. In manchen Nächten hörte eine Person aus Lyon, die bei der Mutter Renard wohnte, ihn über eine Stunde lang auf sich einschlagen. Für Augenblicke setzte er aus; dann klangen die Hiebe von neuem durch die Nacht. ‚Wann hört er denn endlich auf?‘ seufzte mitleidig seine Nachbarin. Er verfertigte oder wenigstens flickte seine Bußinstrumente selber. Beim Zimmerrichten am Morgen fand man unter den Möbeln Kettenfetzen, kleine Schlüssel, Eisen- und Bleistücke, die sich von der Disziplin abgesplittert hatten. Er nutzte eine Geißel in fünfzehn Tagen ab. ‚Es tat einem im Herzen weh‘, erzählt Katharina Lassagne, ‚das linke Achselstück seiner Hemden ganz zerschlagen und blutbefleckt zu sehen.‘
Er muß mehrere Male ohnmächtig geworden sein und gegen die Mauer hin geblutet haben. In einer vom Bettvorhang verdeckten Ecke seines Zimmers sind Blutstropfen über den gelben Bewurf hingespritzt und heute noch sichtbar. Drei große Flecken geben einen ziemlich genauen Schulterabdruck, und von diesen braunen Flächen sind Fäden bis auf den Boden geperlt. Andere Spuren rühren von Finger- und Daumenabdrücken her. Der Heilige muß sich beim Aufrichten gegen die Mauer gestützt und so sein Siegel zurückgelassen haben. —
März 1818. Fastenzeit. Beste Gelegenheit für unsern Asketen, sich rücksichtslos aufs Fasten zu werfen, das erst mit seinem Leben zum Abschluß kommen sollte. Bereits hatte er eine Sorge weniger, da er auf seine Haushälterin verzichtet hatte. Er suchte seine materiellen Bedürfnisse auf ein Minimum herabzudrücken. Er hielt sich nie besonders genau an die Essenszeit. Aber im ersten Jahre seiner Pfarrtätigkeit überstieg er in seinen Abtötungen doch jedes Maß. Später hat er diese Übertreibungen selber ‚Jugendtorheiten‘ genannt — glücklich, wer keine anderen bedauern muß! — und selber zugegeben, daß er doch die Grenzen des Zulässigen überschritten habe. ‚Ist man jung‘, sagt er zu einem Priester, ‚macht man eben Dummheiten!‘“ (Ebd. S. 105f.)

Maßloser Bußeifer

Vor solchem Treiben steht der moderne Mensch wohl noch ratloser. Ist hier die Grenze nicht schon überschritten, ist das nicht schon Masochismus, Freude an der Selbstverstümmelung? Solche Taten der Abtötung sind nur durch den besonderen Antrieb der Gnade bei den Heiligen verständlich. Diese Buße geht über das gewöhnliche Maß weit hinaus. Aber irgendwie scheint sie dennoch notwendig zu sein, denn letztlich haben sich alle Heiligen durch eine außerordentliche Buße ausgezeichnet. Auch wenn es ganz verschiedene Wege gibt, die Gott Seine Heiligen führt, muß letztlich jeder Heilige lernen, seine natürlichen Neigungen ganz dem Willen Gottes unterzuordnen. Und das ist ohne Buße unmöglich! Diese Feststellung gilt für jeden von uns. Ein Katholik verzärtelt seine Natur nicht, sondern er macht sie der Gnade dienstbar, was ohne bestimmte freiwillige Opfer (= Selbstüberwindung um der Liebe Gottes willen) schlechthin unmöglich ist. Für die meisten von uns bestehen diese Opfer in den täglichen Mühen, welche gewöhnlich aus den Standespflichten folgen. Dazu kommen noch die Krankheiten und die vielfältigen Leiden oder Prüfungen durch die Mitmenschen.

Für das liebeglühende Herz des hl. Pfarrers von Ars waren diese Opfer noch zu gering, ihm verlangte nach mehr. Er wollte sich noch inniger und wirklicher mit dem leidenden Erlöser verbinden, um noch mehr für das Heil der ihm anvertrauten Seelen tun zu können.

Das Fasten

Ein wesentlicher Teil christlicher Buße ist das Fasten. Niemanden wird es nach all dem Gehörten noch wundern, daß auch hierin Johannes Maria Vianney außergewöhnliche Wege ging:

„Vierzehn Tage nach seinem Amtsantritt kam von Dardilly seine Schwester Margaret in Begleitung der Witwe Bibost, der mehr titelmäßigen Pfarrköchin von Ars, zu ihrem Bruder herüber. Außer dem herzlichen Willkomm wußte ihnen Vianney nichts weiter zu bieten. ‚O meine lieben Kinder‘, sagte er gutherzig zu den beiden Besucherinnen, ‚was soll ich euch geben? Ich habe rein nichts!‘ Nach einem Augenblick Überlegung dachte er an seinen Eigenvorrat: selbstgekochte Kartoffeln, die aber bereits leicht schimmelig geworden waren. ‚Wir haben es nicht über uns gebracht, davon zu essen‘, erzählte Margaret. ‚Er langte zwei oder drei und aß sie vor uns mit den Worten: Sie sind noch nicht verdorben, ich finde, sie sind noch gut. — Dann fügte er bei: Man erwartet mich in der Kirche, – ich muß gehen; behelft euch, so gut ihr könnt?
Zum Glück hatten Gothon und Mutter Bibost auf dem Herweg in Trevoux vorsichtshalber etwas Brot gekauft. Schließlich entdeckten sie im Pfarrhaus auch noch eine Kleinigkeit Mehl, Butter und einige Eier, die eine gutherzige Frau für Vianney geschenkt, die er aber in einer Ecke vergessen hatte. Damit richteten sie ihm den ‚Matefaims‘, eine Art Brotkuchen, eines seiner Lieblingsgerichte her. Ja noch mehr, sie schlachteten zwei Täubchen, die im Grashof pickten und steckten sie an den Spieß. Der junge Pfarrer kam gegen Mittag aus der Kirche. ‚Oh, die armen Tierchen‘, rief er aus, als er auf dem Tisch den unerwarteten Braten erblickte, ‚ihr habt sie also getötet; ich wollte sie sowieso abschaffen, weil sie den Nachbarn schaden; aber man hätte sie nicht braten sollen!‘ Er wollte nicht daran rühren und begnügte sich mit einem Brotkuchen.“ (Ebd. S. 106)

Der Essenstrieb ist ein Naturtrieb, der sich nur allzu leicht zur Gaumenfreude steigert, die den Geist fesselt, weil sie ihn an sinnliche, vergängliche Freuden bindet. Darum gehört zur christlichen Aszese das Fasten, die freiwillige Enthaltung der Speise, um den Geist seine Freiheit zurückzugeben. Denn auch beim Essenstrieb wirkt sich die erbsündliche Verwundung der Seele aus. Der Mensch ißt nicht einfach nur, um satt zu werden. Er ißt zu viel oder manche auch zu wenig und er begehrt zudem nach auserwählten Speisen. Unser Heiliger kannte auch hier keinerlei Kompromisse, er bemühte sich das Laster – wenn man bei ihm überhaupt von einem Laster sprechen konnte – bei der Wurzel anzugehen und es samt der Wurzel auszureißen. Er aß nicht nur sehr wenig, er aß zudem nur Speisen ohne jeden Geschmack, so daß der Essenstrieb seinen naturgegebenen Einfluß auf die Seele vollkommen verlieren mußte. Unser Biograph weiß zu berichten:

„Manchmal hat Vianney selber in seinem Wundertopf Kartoffeln für eine ganze Woche gekocht. Er legte sie in eine Art eisernen Korb, den er an der Wand aufhing; und wenn ihn dann der Hunger quälte, nahm er eine oder zwei — eine dritte wäre nach ihm schon „Genußsucht“ gewesen — und verzehrte sie kalt, wie sie waren, selbst wenn sie gegen Schluß schon ganz mit Schimmel überzogen waren. Auch hat er das eine und andere Mal in der heißen Asche ein Ei gekocht oder hat sich aus einer Handvoll Mehl in Wasser und Salz ein Gemisch von Matefaims zusammengebraut.
An diese Lebensordnung hielt er sich bis zur Einrichtung der Vorsehung im Jahre 1827. Dann nahm er dort seine Mahlzeiten ein. „Wie glücklich war ich“, spaßte er, „solange ich allein war! Wenn ich einiger Nahrung bedurfte, habe ich mir drei Brotkuchen hergerichtet. Während ich den ersten aß, habe ich den zweiten fabriziert, und während ich den dritten fabrizierte, habe ich den zweiten gegessen. Dann habe ich den dritten verzehrt und habe dabei Ofen und Feuer in Ordnung gebracht; trank darauf noch ein großes Glas Wasser. Und genug war’s für mehrere Tage!“ (Ebd. S. 107f.)

Selbstüberwindung und Opfer

Die Heiligen haben ein viel feineres Gespür für die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Sie empfinden jede ungeordnete Anhänglichkeit an die irdischen Dinge als Last. Darum bemühen sie sich, sich von dieser Last, soweit es in diesem Leben mit Hilfe der Gnade möglich ist, zu befreien. Das ist jedoch nur durch Selbstüberwindung und Opfer möglich. Der moderne Mensch dagegen bildet sich ein, daß er durch Wellness – also körperliches Wohlfühlprogramm – zu einem freien, glücklichen Leben findet. Was für eine Selbsttäuschung! Sobald ihn etwa eine Krankheit befällt, ist es mit der Wellness aus und oft auch mit dem ganzen Glück. Wir Katholiken wissen, in diesem irdischen Leben kann man nur durch die Gnade Gottes frei werden und nur mit Hilfe der göttlichen Gnade werden wir befähigt, über allen körperlichen Bedürfnissen oder auch über dem Leiden zu stehen. Ein wahrer Katholik ist zufrieden mit dem, was Gott ihm zumißt – ob Freude oder Leid, ob Wohlergehen oder Hunger und Durst, ob Gesundheit oder Krankheit. Immer ist er zufrieden mit dem Willen Gottes.

Der hl. Johannes Maria Vianney faßte etwa zwanzig Jahre später gegenüber einem jungen Priester von Montpellier, Tailhades mit Namen, seine Erfahrungen in einem vertraulichen Gespräch am 14. Oktober des Jahres 1839 folgendermaßen zusammen:

„Mein Freund, der Teufel macht sich nicht viel aus Geißel und den übrigen Bußinstrumenten. Was ihn schlägt, ist Abbruch in Trank und Speise und Schlaf. Nichts fürchtet der Teufel mehr wie dies, und nichts ist deshalb dem lieben Gott angenehmer. Oh, wie habe ich das erprobt! Solange ich allein war — und ich bin es acht oder neun Jahre lang gewesen — konnte ich nach Herzenslust meinem Hang folgen und zuweilen ganze Tage lang nichts essen. … Damals habe ich vom lieben Gott alles erhalten, was ich für mich und die andern verlangte.“ Während der Heilige so sprach, flossen ihm Tränen über die Wangen. Sobald er sich wieder etwas gefaßt hatte, fuhr er fort: „Jetzt ist es gar nicht mehr die gleiche Sache. Ich kann nicht mehr so lange ohne Nahrung bleiben. Ich kann dann einfach nicht mehr sprechen. … Wie war ich damals glücklich in meiner Einsamkeit! Ich habe für die Armen Brot gekauft, das man ihnen reichte. Ich habe einen guten Teil der Nacht in der Kirche zugebracht. Ich hatte nicht so vieler Menschen Beichte zu hören wie jetzt. ... Und Gott hat mir außerordentliche Gnaden verliehen…“ (Ebd. S. 109)

Eine Geschichte

Für den jungen heiligen Priester war also die Zeit seiner großen Kasteiungen auch die Zeit der besonderen göttlichen Tröstungen. Denn Gott läßt sich an Großmut von uns, seinen Geschöpfen, nicht überbieten. Er schenkt reichlich Seine Gnaden, wenn wir uns nur bemühen, möglichst selbstlos und mit Freude zu geben. Und für eine wahrhaft Gott liebende Seele gibt es nichts Schöneres als möglichst oft in der Gegenwart Gottes zu sein. Das war das Geheimnis des hl. Pfarrers von Ars. Er gab dieses Geheimnis in einer Geschichte preis, die er gerne und öfter wiedergab:

„Hier in der Pfarrei lebte ein Mann, der vor einigen Jahren gestorben ist. Frühmorgens vor seinem Gang aufs Feld, ließ er seine Hacke vor der Tür stehen, trat in die Kirche und vergaß sich dort vor seinem Gott. Ein Nachbar, der auf dem gleichen Stück arbeitete und die Gewohnheit hatte, ihn zu beobachten, wunderte sich über seine Abwesenheit. Er kehrte um, und im Gedanken, er könnte ihn vielleicht daselbst treffen, kam ihm der Einfall, in die Kirche zu gehen. Tatsächlich traf er ihn dort. — ,Was machst du denn so lange da?‘ fragte er ihn. Worauf der andere die Antwort gab: ,Ich schaue den lieben Gott an, und der liebe Gott schaut mich an.‘!" (Ebd. S. 157)

Das Erzählen dieser schlichten Begebenheit entlockte dem Heiligen jedesmal Tränen – und er fuhr fort: „Er blickte den lieben Gott an, und der liebe Gott blickte ihn an. Alles liegt daran, meine lieben Kinder!“