Die heiligen Evangelien sind nicht einfach nur eine Lebensbeschreibung unseres Herr Jesus Christus, also keine Biographie im modernen Sinn des Wortes. Sie sind viel mehr als das. Sie sind vom Heiligen Geist komponierte Lehrstücke in Wort und Werk. Darum kann sie nur der Geisterfüllte im übernatürlichen Glauben recht lesen und verstehen. Dem Ungläubigen bleibt die Heilige Schrift vollkommen verschlossen, wie ein unlösbares Rätsel entzieht sie sich seiner Kenntnis. Ja noch mehr, dem Ungläubigen kommen die Heiligen Schriften meist ganz und gar primitiv vor im Vergleich zu anderen Werken der Weltliteratur; wohingegen sie die nun wirklich primitiven, geschmack- und sittenlosen, gottlosen Schriften der modernen Zeit sehr interessant und gelungen finden. Was für ein Kontrast, was für ein Gegensatz! Was für eine geistige Verblendung! Wir wissen es noch – Gott sei Dank – , das, was wir in der Heiligen Schrift lesen können, sind Worte des lebendigen Gottes. Als solche Worte, voll göttlicher Weisheit und Wahrheit, wollen wir sie jetzt zu deuten suchen.
Das äußere Geschehen des Evangeliums vom Gichtbrüchigen, die Rahmenerzählung, ist schnell nacherzählt: Ein Gichtbrüchiger wird zu Jesus gebracht und von Ihm geheilt. Es wird im hl. Evangelium gar nicht viel über den Mann erzählt, über seine Vorgeschichte, die näheren Umstände seiner Krankheit, er bleibt letztlich ein Unbekannter. Aber gerade als Namenloser steht er nicht allein, sondern für viele Menschen. Er ist ein Sinnbild für diese vielen anderen – und wir werden noch sehen, für was er genau Sinnbild ist.
Der arme Mann war schon ganz von der Gicht gezeichnet, er konnte sich kaum mehr bewegen. Es war ihm nicht einmal mehr möglich zu gehen, weshalb er schon großteils auf die Hilfe anderer angewiesen war. Seine Krankheit war zudem recht schmerzhaft und forderte viel Geduld vom Gichtbrüchigen. Irgendwie war dieses Leben nur noch eine Last für ihn, so daß er den Tod wohl schon zuweilen als Wohltat zu empfinden begann. „Es wird ja doch nicht mehr besser und letztlich bin ich allen nur eine Last“, solche oder ähnliche Gedanken mögen ihn öfter gequält haben. Eine so schwere Krankheit kann einen die eigene Armseligkeit besonders spüren lassen, so daß man sich der Schwermut kaum erwehren kann, denn durch den dauernden Schmerz weicht die Lebensfreude mehr und mehr aus dem Gemüt.
In diese Trostlosigkeit der Schmerzen und der lähmenden Hilflosigkeit fällt eines Tages das Wort von Jesus von Nazareth – wie ein Sonnenstrahl in eine lange Zeit der Finsternis. Im Herzen des armen, gequälten Mannes beginnt Hoffnung aufzuscheinen: „Dieser Jesus hat schon viele Kranke geheilt. Er hat Lahme, Blinde, Taube und selbst Aussätzige wieder gesund gemacht, allein mit Seinem Wort hat er sie geheilt. Er hat schon so vielen wunderbar geholfen, warum sollte Er nicht auch mir helfen können – und wohl doch auch helfen wollen?“ Dieser hoffnungsvolle Gedanke ergriff den armen Mann immer mehr als letzter Rettungsanker in seiner großen Not. Der Glaube an Jesus Christus keimte in ihm auf, sodaß allein schon der Gedanke an Ihn, den Heiland der Welt, ihn ruhig und zuversichtlich stimmte.
Wie aufgeregt war der Gichtbrüchige erst, als er erfuhr, Jesus von Nazareth würde nach Kapharnaum kommen. „Ist es wirklich möglich“, so dachte er, „Er kommt hierher?! Wenn ich zu Ihm ginge und Ihn bitten würde? Er müßte doch Mitleid mit mir haben, Er müßte sich doch meiner erbarmen – oder etwa nicht?“ Bei diesen Gedanken wurde es schwer im Herzen des Kranken, denn er dachte auch: „Ich bin ein so armer Sünder. Ob Gott wohl auch einen armen Sünder erhört? Bin ich denn wert, daß Er auf mich achtet?“ In diese Zweifel mischte sich wiederum ein anderer Gedanke: „Hat Er nicht gesagt, daß die Kranken des Arztes bedürfen und nicht die Gesunden? Bin ich nicht sehr krank? Kränker als die meisten anderen hier in Kapharnaum! Oh ja, ich werde zu Ihm gehen und Ihn bitten, mich zu heilen.“
Nachdem der Entschluß gefaßt war, gab es noch ein bedeutendes Hindernis zu überwinden. Aus eigener Kraft konnte er gar nicht zum Wunderheiler aus Nazareth kommen, denn er konnte ja nicht einmal gehen. Aber die Schwierigkeit war schnell gelöst, denn sobald die Nachbarn von seinem Wunsch erfuhren, waren sie sofort bereit, ihm diesen Liebesdienst zu erweisen. Sie fertigten schnell aus seinem Bett eine Tragbahre und legten ihn darauf und machten sich auf den Weg zu dem Haus, wo Jesus wohnte.
Von weitem hörten sie schon den Lärm der großen Menge. Es waren so viele Leute gekommen, die Jesus sehen und hören wollten und auch viele, die geheilt werden wollten. Wie sollte man denn da zu Jesus kommen? Zunächst warteten sie eine Weile und noch eine Weile, aber die Aussicht, in die Nähe Jesu zu kommen wurde nicht besser. Die Leute drängten vor sich, so daß sie mit ihrer Bahre jeweils wieder ganz hinten waren. Auch fromme Leute können ganz schön rücksichtslos sein, wenn es um ihre Frömmigkeitswünsche geht. Irgendwann kam einem der Männer plötzlich die Idee, aufs Dach zu steigen und den Kranken mit der Bahre durchs Dach hinabzulassen. Gesagt getan! Sie rafften sich auf mit ihrer schweren Last, organisierten schnell ein paar Seile und stiegen kurzerhand an der Seite des Hauses auf einer Außentreppe aufs Dach.
Wie werden die vielen Leute im Haus geschaut haben, als es oben am Dach plötzlich raschelte, sich eine Luke auftat und ein Lichtbündel den Raum erhellte. Und nach einer kleinen Weile wurde auf einmal wie durch Zauberhand aus dem Lichtbündel heraus der Gichtbrüchige auf seiner Bahre liegend sichtbar, den seine Helfer vor ihnen herabließen. Wie von Engeln gehalten schwebte er vor ihnen nieder. Der Gichtbrüchige seinerseits schwebte nicht nur zwischen Himmel und Erde, er schwebte zugleich zwischen Hoffen und Bangen – Bangen und Hoffen. Auf einmal lasteten die eigenen Sünden wieder so schwer auf seiner Seele wie schon lange nicht mehr. Die Nähe des göttlichen Heilandes ergriff und erleuchtete sein armes Sünderherz.
Der göttliche Seelenarzt sieht nämlich tief hinein ins Menschenherz, Er sieht bis auf den Seelengrund. Er erkennt darin klar die ganze, lange Geschichte von Sünde und Schuld, von Reue und neuem Vorsatz und spricht schließlich zum Gichtbrüchigen das über allen anderen Worten stehende Trostwort: „Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ So kann nur der Sohn Gottes sprechen, so tröstet allein Gott! Denn es ist wahr, wer allein kann Sünden vergeben als Gott! Der Gichtbrüchige empfindet tief die göttliche Barmherzigkeit bei diesen Worten und ganz besonders empfindet er auch die göttliche Erlöserliebe, als er das „Mein Sohn“ aus dem Mund des Heilandes hört. Es sind die so lang ersehnten Worte des reuigen Sünders: „Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Bei diesen Worten erleuchtet das göttliche Licht seine Seele und ein übergroßer Trost erfüllt sie, denn was für eine Erleichterung ist es für ihn, diese Worte aus dem Munde Jesu, des ewigen Sohnes des Vaters zu hören und somit mit vollkommener Sicherheit zu wissen, Er hat mir meine Sünden vergeben. Wie es beim Propheten Isaias geschrieben steht: „Wohlan, laßt uns rechten!, spricht der Herr. Wenn eure Sünden auch rot sind wie Scharlach, weiß sollen sie werden wie Schnee. Wenn sie auch rot sind wie Purpur, weiß sollen sie werden wie Wolle!“ (Is 1,18). Die Pharisäer aber, die im Unglauben verstockt sind, denken: Dieser lästert Gott!
Da prallen vor unseren Augen die beiden Welten aufeinander, die Welt des Glaubens und des Unglaubens: Was dem einem Trost und Gnade ist, ist dem anderen ein Ärgernis. Den meisten Pharisäern öffnet sich das Herz nicht, um die Gnade darin wirken zu lassen, sie bleiben verstockt und ärgern sich über diese wunderbaren Trostworte Jesu. Dabei gibt sich der göttliche Seelenarzt alle Mühe, auch ihre Seelen zu gewinnen: „Damit ihr aber wißt, daß der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben: Steh auf – sprach er zum Gichtbrüchigen –, nimmt dein Bett und geh nach Haus.“ Sicherlich ein überaus beeindruckendes Wunder: Der Gichtbrüchige steht vor den Augen aller Anwesenden sofort auf, nimmt sein Bett und geht nach Hause. Unser göttlicher Heiland erweist sich in diesem Wunder sichtbar für alle als Schöpfer und Wiederhersteller seiner Welt. Er möchte schließlich für uns das Paradies zurückerobern, das mit der Sünde verlorengegangene Gnadenland wiedergewinnen, in dessen Mitte das hochheilige Kreuz als Gnadenthron des Neuen Bundes stehen wird.
Wir sagten, der Gichtbrüchige ist namenlos. Er ist in dem Bericht des hl. Evangeliums deswegen namenlos, weil jeder von uns der Gichtbrüchige ist. Wir alle haben gesündigt, und wer ist nicht irgendwie oder irgendwann einmal leiblich oder seelisch krank? Gehen wir doch zu unserem göttlichen Erlöser – oder wenn wir selber nicht gehen können, lassen wir uns durch die Fürsprache der Heiligen zu Jesus tragen. Die Heiligen werden gerne die Bahre unserer Hilflosigkeit und Verzagtheit aufheben und uns durchs Dach des Zweifels hindurch vor Jesus herunterlassen, so daß wir genauso wie der Gichtbrüchige in der hl. Beichte Seine Worte hören dürfen: „Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. – Ich spreche dich los von deinen Sünden.“ Und tief verborgen in der Seele geschieht das Wunder dieser Heilung. Die Seele wird reingewaschen im Blut des göttlichen Opferlammes und neu eingekleidet mit dem hochzeitlichen Gewand der Gnade. Darum ist die Freude vollkommen, denn Ich sage euch: „Ebenso wird im Himmel größere Freude sein über einen Sünder, der sich bekehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Bekehrung nicht bedürfen.“ (Lk. 15,7).
Der hl. Augustinus nennt unseren Herrn Jesus Christus „den großen Arzt, der vom Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, um alle zu heilen, die verwundeten Herzens sind“. Sind wir einmal ganz ehrlich, wer trägt keine Wunde im Herzen? Eine größere oder kleinere Wunde je nach den Sünden, die auf der Seele lasten? Wollen wir diese Wunde nicht heilen lassen durch unseren Erlöser? Wollen wir nicht zum Bußgericht in der hl. Beichte eilen, um das Wunder der Verzeihung an uns zu erfahren? Wie oft empfinden wir gerade bei dem Gedanken an unsere Sünden unsere Schwachheit und Hilflosigkeit besonders niederdrückend. Wie schwer ist uns zumute, wenn wir uns der vielen Sünden der Vergangenheit erinnern. Nochmals sei es gesagt: Wenn dir dein Herz so schwer wird, laß dich durch die Fürbitte der Heiligen zu Jesus tragen, bekenne sodann reumütig vor Ihm all deine Sünden, denn du weißt ganz gewiß, Er wird dir durch Seinen Priester in der hl. Beichte alle Sünden verzeihen.
Nachdem unser Herr das Wunder der Heilung des Gichtbrüchigen gewirkt hat, heißt es im hl. Evangelium: „Als das Volk dies sah, ward es von Furcht ergriffen und pries Gott, der den Menschen solche Macht gegeben.“ Wir sollten eigentlich noch mehr staunen als die Leute damals, denn uns ist das im hl. Evangelium angedeutete Wunder ganz offenbar geworden, das Wunder nämlich, durch das Gott den Menschen solche Macht gegeben hat, nämlich die Macht, Sünden zu vergeben. Wir wissen um das hl. Sakrament der Beichte und sollten darum Gott aus ganzem Herzen preisen, der dieses hl. Sakrament Seiner barmherzigen Liebe eingesetzt hat, mit dem er unserer Schwachheit, soweit es nur irgendwie möglich ist, entgegenkommt. Unser Heiland weiß ganz genau, wir armen Sünder brauchen jeden Augenblick Seine Gnadenhilfe. Ganz sind wir auf Seine Hilfe angewiesen – und Er verwehrt uns diese Hilfe niemals.
Vollkommen von diesem Vertrauen beseelt, beten wir im heutigen Kirchengebet: „Wir bitten Dich, o Herr, lenke unsere Herzen durch Dein erbarmungsreiches Walten, denn ohne Dich können wir Dir nicht gefallen.“„Ohne dich können wir Dir nicht gefallen“, das ist einfach wahr. Aber auch etwas anderes ist wahr: Mit Dir, o Herr, wird unsere sündige Seele durch Deine Gnade vollkommen verwandelt und zu einem Gott wohlgefälligen Opfer gemacht. Darum bitten wir aus ganzem Herzen: Du göttlicher Seelenarzt und Seelenfreund, erbarme Dich unser, die wir arme Sünder sind, und lasse uns das wunderbare Trostwort aus Deinem göttlichen Erlösermund hören: „Sei getrost, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“