Eine Fabel zum Guten-Hirten-Sonntag.
Der alte Hirte war tot. Der Wolf hatte ihn verschlungen und sich dessen Mantel umgeworfen, die Schäferkappe aufgesetzt und den Hirtenstab in seine Pfote genommen. Dann trat er vor die Schafherde und verkündete, daß er nun ihr neuer Hirte sei. Die Schafe blökten „Mäh, mäh“, und grasten ruhig weiter.
Der neue Hirte aber erwies sich bald als ein gar lustiger Mann, was einigen der Schafen sehr wohl gefiel. Hatte der alte Hirte sie stets gewarnt und nicht in den Wald gelassen, wo doch so herrliche Früchte wuchsen, weil dort angeblich die bösen Wölfe hausten und sie fressen wollten, so klärte sie ihr neuer Hirte darüber auf, daß dies ein Märchen gewesen sei. Im Wald lauere nicht mehr Gefahr auf die Schafe als anderswo auch, und die sogenannten bösen Wölfe seien in Wahrheit Schafe wie sie. Sie sähen nur ein wenig anders aus und lebten ein wenig anders, seien jedoch vortreffliche Kameraden. Nicht fressen wollten sie die Schafe, sondern mit ihnen spielen. Und überdies seien die Früchte des Waldes so überaus köstlich, daß das Gras ihrer Weide nichts dagegen sei.
Die vorwitzigsten Schafe ließen sich das nicht zweimal sagen, sondern trabten eilends davon in den finsteren Wald, um die leckeren Früchte zu fressen und mit den dortigen Schafen zu spielen. Andere waren skeptisch und zögerten. Zu lange hatte man ihnen das Gegenteil dessen eingebleut, was der neue Hirte ihnen nun sagte. Aber schließlich, so nach und nach, gaben sie ihren Widerstand auf und trotten ebenfalls, eines nach dem anderen, dem Walde zu.
Eine Gruppe Schafe jedoch weigerte sich, dem neuen Hirten zu folgen. Sie sagten: „Dieser Hirte spricht ganz anders als alle Hirten vor ihm. Die Hirten vor ihm waren alles brave Männer und haben uns gut geweidet. Sollen wir glauben, daß sie sich und uns getäuscht und unrecht hatten? Oder sollen wir nicht vielmehr glauben, daß dieser neue Hirte sich täuscht und unrecht hat?“ Und sie gingen nicht in den Wald. Einigen von ihnen aber wurde mit der Zeit unwohl, und sie sagten: „Wir können nicht auf Dauer unserem Hirten ungehorsam sein. Wir wollen mit ihm verhandeln, ob er uns nicht ein Plätzchen am Waldrand zuweisen kann, sodaß wir einerseits nicht in den Wald müssen, wo wir nach wie vor Angst haben, andererseits aber doch mit ihm verbunden sind.“ Andere sagten: „Wir wollen gerne mit dem Hirten verhandeln, aber er muß uns ganz sichere Zusagen machen, sonst kommen wir nicht. Einstweilen begnügen wir uns damit, sein Bild an unserer Hürde aufzuhängen. Damit anerkennen wir ihn als unseren Hirten.“ Wieder andere sagten: „Nein, solange er nicht redet wie unsere früheren Hirten, wollen wir mit ihm nichts zu tun haben.“ Da riefen ihnen die übrigen zu: „Dann seid ihr schismatisch!“
Ein paar wenige nur gab es, die sagten: „Seid ihr denn blind? Seht ihr denn nicht, daß das gar nicht unser Hirte ist, sondern der Wolf? Seht ihr denn nicht, daß er nur unser Verderben will und nicht unser Wohl? Daß er die Herde zerstreuen und vernichten will, nicht weiden und hüten?“ Die anderen aber riefen: „Bäh! Ihr seid üble Sedisvakantisten! Wie könnt ihr euch zum Richter über unseren Hirten aufschwingen? Sicher, er sagt und tut vieles, was dem widerspricht, was er als Hirte sagen und tun sollte. Aber deswegen kann man ihn nicht gleich als Wolf bezeichnen. Man müßte ihm erst beweisen, daß er wirklich ein formeller Wolf ist, und das können wir nicht. Und selbst wenn es der Wolf wäre, so können wir ihn doch nicht einfach absetzen. Er ist und bleibt unser Hirte, und wir beten für ihn. Folgen tun wir ihm freilich nicht, außer wenn er etwas befiehlt, was auch die früheren Hirten befohlen haben.“ „Mäh, mäh“, pflichteten die anderen Schafe brav blökend bei.
Und so hielten sie einen, wie sie meinten, sicheren Abstand, trennten sich jedoch nicht von ihrem neuen Hirten, grüßten ihn freundlich, wenn sie ihm begegneten und führten von Zeit zu Zeit Verhandlungen mit ihm. Der neue Hirte seinerseits kam ihnen in diesem und jenem entgegen, machte ihnen dieses und jenes Zugeständnis, und die Schafe sagten: „Seht ihr, so schlecht ist er gar nicht. Mag er ein Wolf sein, so meint er es doch ganz gut mit uns. Und wer weiß, wenn wir mit ihm reden und nett zu ihm sind, wird er sich noch bekehren und ein richtig guter Hirte werden!“ Und so gerieten sie, ohne daß sie es merkten, immer näher an den Wald und schließlich ganz hinein.
Verloren und verlassen standen nun die wenigen, einzig übriggebliebenen Schäflein da, jene, die den Wolf nicht als ihren Hirten anerkennen wollten, und die nun keinen Hirten mehr hatten. „Seht ihr“, riefen ihnen die am Waldrand noch von weitem zu, „das habt ihr nun davon! Ihr habt die sichtbare Herde verlassen und steht nun gänzlich ohne Hirten da und werdet auch keinen mehr bekommen. Wir hingegen haben immer noch einen Hirten, wenn auch einen schlechten, dem wir nicht folgen können. Aber wir haben ja alles, was wir brauchen, die Anweisungen unserer alten Hirten und Gras zum Fressen und Wasser zum Trinken.“ Und damit verschwanden sie im Wald.
Die Schäflein draußen aber weinten. Sie weinten um ihre Kameraden, und sie weinten, weil sie keinen Hirten mehr hatten. Aber sie dankten Gott, daß er sie vor dem Wolf bewahrt hatte, und vertrauten fest auf Ihn, daß Er ihnen eines Tages auch wieder einen Hirten, einen guten und wahren Hirten, schenken werde.