Leben wir nicht in einer prophetenlosen Zeit? Einer Zeit, in der die Stimme Gottes verstummt scheint? Je mehr aber Gott schweigt, desto mehr drängt sich der Teufel in den Vordergrund. Die wahren Propheten scheinen ausgestorben, die falschen Propheten dagegen schießen wie die Pilze aus dem Boden. Wie viele Botschaften werden unter den Gläubigen herumgereicht, Botschaften, die das Durcheinander nur immer größer machen und noch den letzten Rest von gesundem Menschenverstand zum Verschwinden bringen?
Als Katholik fragt man sich darum häufig: Woher darf ich noch Hilfe erwarten? Wo finde ich noch die göttliche Wahrheit unverfälscht? Wie notwendig wären gerade in dieser Situation kirchliche Entscheidungen, die inmitten all der vielen Irrtümer, die den hl. Glauben zerstören, dem Katholiken ein sicheres Urteil schenken. Aber genau das fehlt uns heute, da der Stuhl Petri leer ist. Die Gefahr der geistigen Verwirrung und Verirrung in dieser papstlosen Zeit ist ungeheuer groß. Es bleibt uns Katholiken nur eine Möglichkeit, wir müssen uns auf das allzeit Bewährte stützen und auf das von der Kirche Anerkannte und Abgesicherte zurückgreifen.
Eine der bedeutendsten Prophetien für unsere Zeit ist die große Botschaft von La Salette. In dieser hat die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die entscheidenden Gefahren für den Glauben und das ewige Leben aufmerksam gemacht, die ihren Kindern in der anbrechenden apokalyptischen Zeit bevorstehen. Die Prüfungen in diesen kommenden Jahrzehnten werden immer größer werden, die Versuchungen immer versteckter und allgemeiner, so daß schließlich nur noch ein ganz kleiner Rest an treuen Katholiken übrigbleiben wird.
Die große Botschaft von La Salette ist ohne Schwierigkeit als eine Lese- und Verstehenshilfe der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes zu erkennen. Die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria gibt uns selbst in dem Augenblick den Interpretationsrahmen für das letzte Buch der hl. Schrift, da diese furchtbare Zeit anbricht. Auffallend ist nun aber schon vorneweg, daß dies fast niemand erkannt hat, ja daß der ganzen Botschaft eine weitgehende Zurückweisung entgegengebracht wurde, vor allem vom Klerus der Kirche.
Aber erinnern wir uns zuerst kurz an den Hergang der Erscheinung. La Salette war ein unbekanntes Dorf in einem vergessenen Tal der französischen Alpen. Nicht mehr als 12 kleine Weiler gibt es an den unteren Hängen des Bergkessels, der bis auf eine Höhe von mehr als 2200 m aufsteigt. Eine rauhe Gegend, in der es mehr als das halbe Jahr Winter ist.
Hier, in dieser Einsamkeit hüten zwei Kinder, Mélanie Calvat (auch Mélanie Mathieu), 14 Jahre alt, und Maximin Giraud, 11 Jahre alt, ihre Herden. Beide waren Analphabeten und ohne religiöse Bildung, und sie haben sich erst ein oder zwei Tage vorher kennen gelernt, da ihre Weideplätze benachbart waren. Es ist der 19. September 1846 nachmittags, zur Zeit der 1. Vesper des Festes der Sieben Schmerzen Mariens, in der die hl. Kirche singt: „Wem soll ich dich vergleichen, wem bist du ähnlich, Tochter Jerusalem? Wem soll ich dich gleichsetzen, dich zu trösten, Jungfrau, Tochter Sion? Groß wie das Meer ist dein Schmerz.“
Doch lassen wir uns von Melanie selbst das damals Geschehene berichten:
„Aus dem Dorf hörte man den Angelus läuten, denn das Wetter war klar und es gab keine Wolken. Nachdem wir dem Lieben Gott die Ehre erwiesen hatten, sagte ich zu Maximin, daß wir unsere Kühe auf eine kleine Ebene nahe der Schlucht treiben sollten, da es dort Steine gäbe, um das ‚Paradies’ aufzubauen. Wir trieben unsere Kühe zu dieser Stelle und nahmen dann unsere kleine Mahlzeit ein. Anschließend haben wir die Steine zusammengetragen und machten uns daran, unser kleines Haus zu bauen, das aus einem Erdgeschoß bestand, das sozusagen unseren Wohnraum darstellte, und einem Stockwerk darüber, das in unseren Augen das ‚Paradies‘ darstellte.
Dieses obere Stockwerk war ganz mit Blumen von verschiedenen Farben geschmückt und mit hängenden Girlanden aus Blumenstengeln. Dieses ‚Paradies‘ war mit einem einzelnen, großen Stein bedeckt, der ebenfalls mit Blumen übersät war. Außerdem hatten wir auch hier rundherum Girlanden aufgehängt. Als das ‚Paradies‘ fertiggestellt war, haben wir es besichtigt. Wir waren schläfrig geworden und entfernten uns etwa zwei Schritte davon. Hier schliefen wir im Gras ein.
Als ich aufwachte und unsere Kühe nicht mehr sah, rief ich Maximin und stieg zu dem kleinen Hügel empor. Von da aus sah ich, daß unsere Kühe friedlich lagerten. Da stieg ich wieder hinunter, und Maximin kam seinerseits herauf. Plötzlich sah ich ein strahlendes Licht, strahlender als die Sonne, und kaum konnte ich noch die Worte herausbringen: ‚Maximin, siehst du, da unten? Um Gottes willen!‘ Gleichzeitig ließ ich den Stock fallen, den ich in der Hand hatte. Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick Köstliches in mir vorging, aber ich fühlte mich angezogen, ich fühlte mich überwältigt von Ehrfurcht, und mein Herz lief schneller als ich selbst konnte. Ich starrte auf dieses unbewegliche Licht, und als es sich öffnete, sah ich darin ein noch stärkeres Licht, das sich bewegte und mitten in diesem Licht erblickte ich eine sehr schöne Frau, die auf unserem ‚Paradies‘ saß.“
Weil die Frau das Kleid einer Bäuerin trägt, sind die beiden Kinder zunächst gar nicht so erstaunt und erklären später: „Wir glaubten, es sei eine Frau aus dem Valjouffrey, die von ihren Kindern geschlagen wurde und sich in die Berge geflüchtet hat, um sich da auszuweinen.“ Die Frau saß nämlich weinend auf einem Stein und verbarg schmerzerfüllt und weinend ihr Antlitz in ihren Händen. Sogleich aber erhebt sie sich und steht nun in fremder, hoheitlicher Tracht vor den Kindern. Während Sie die Kinder anblickt, faltet Sie ihre Arme anmutig über ihrer Brust, wobei ein Strom von Tränen ihre Wangen benetzt. Sie ruft den Kindern mit einer Stimme entgegen, die wie wundersame Musik: „Kommt nur, meine Kinder, und habt keine Angst! Ich bin gekommen, um euch eine große Botschaft zu verkünden!“
Die beiden Kinder beschreiben später ausführlich das Aussehen der Frau: „Die Freundlichkeit ihres Blicks, ihr Ausdruck einer unbegreiflichen Güte ließ verstehen und fühlen, daß sie anziehen und sich verschenken wollte; es war ein Ausdruck von Liebe, der sich weder mit der Zunge noch mit den Buchstaben des Alphabets ausdrücken läßt.“
Sie trug eine aus Rosen gebildete haubenartige Krone um ihr Haupt, in denen je ein Lichtdiamant blitzte. „Die Krone aus Rosen, die sie auf dem Kopf trug, war so schön und leuchtend, daß man sich davon keine Vorstellung machen kann. Diese verschiedenfarbigen Rosen waren nicht irdisch; es war ein Blumenstrauß, der das Haupt der Allerseligsten Jungfrau in Form einer Krone umgab; doch diese Rosen waren lebendig, kamen und gingen. Und dann noch: Aus dem Innern jeder Rose drang ein solch schönes Licht hervor, das entzückte und die Rosen in unerhörtem Glanz erstrahlen ließ. Aus der Rosenkrone leuchteten Zweige wie aus Gold und eine Reihe anderer Blumen, geschmückt mit Brillanten. Das Ganze sah aus wie ein funkelndes Diadem, das ganz von allein stärker als unsere irdische Sonne erstrahlte.“
Ein Rosenband säumte das Schultertuch und umrahmte ein an einer Gliederkette um den Hals gelegtes Brustkreuz mit plastisch gebildetem Korpus. „Auf diesem schönen Kreuz, das in hellem Licht erstrahlte, war ein Christus abgebildet: Es war Unser Herr mit den ausgebreiteten Armen am Kreuz. Auf jeder Seite des Kreuzes, beinahe am Ende, befand sich auf der einen Seite ein Hammer und auf der anderen Seite eine Zange. Die Körperfarbe des Gekreuzigten war natürlich, leuchtete aber mit großer Kraft.“
An den Enden des Querbalkens waren die auffallend großen Leidenswerkzeuge Hammer und Zange vertikal befestigt. „Manchmal schien es, daß Christus tot sei; sein Haupt war geneigt und der Körper wirkte wie zusammengesunken, wie um abzufallen, wenn er nicht von den Nägeln am Kreuz zurückgehalten worden wäre. Mich überfiel ein tiefes Mitleid, und ich hätte gerne der ganzen Welt seine unbekannte Liebe mitgeteilt und in die Seelen der Sterblichen die zarteste Zuneigung und die lebhafteste Dankbarkeit für einen Gott eingeflößt, der unserer keineswegs bedurfte, um all das zu sein, was er ist, was er war und immer sein wird.“
Der Christus am Kreuz ist aber nicht immer tot, zuweilen zeigt er sich lebendig und wirkt damit umso eindringlicher auf die Kinder. „Ein andermal wieder schien der Gekreuzigte lebendig zu sein; er hielt das Haupt aufgerichtet, die Augen offen und machte den Eindruck, aus eigenem Willen am Kreuz zu haften. Manchmal schien es auch, daß er spreche. Er wollte anscheinend zeigen, daß er für uns am Kreuz hing, aus Liebe zu uns, um uns zu sich zu ziehen, daß er immer neu Liebe für uns empfindet, und daß seine Liebe zu Beginn des Jahres 33 die gleiche war wie heute und daß sie immer dauern wird.“
Die Kleidung beschrieben die Kinder als mit zahllosen Sternen besetztes Sonnengewand. „Das Kleid der Allerseligsten Jungfrau war silbrig-weiß und ganz strahlend; es hatte nichts Stoffliches an sich: Es war ganz aus Licht und Glanz zusammengesetzt, war lebendig und schimmerte; es gibt hienieden keinen passenden Ausdruck und keine Vergleichsmöglichkeit.“ Darüber war eine goldgelbe Schürze gebunden. „Was sage ich - gelb? Sie trug eine Schürze mit der Leuchtkraft mehrerer Sonnen zusammengenommen. Das war kein materieller Stoff, es war eine Vielfalt von Herrlichkeiten, und diese funkelten in großer Schönheit.“
Zu Mariens Füßen lagen Rosen. „Die Schuhe (Schuhe muß man dazu sagen) waren weiß, aber aus einem silbrigen Weiß und leuchtend, sie waren von Rosen umrankt. Diese Rosen waren von verwirrender Schönheit, und aus jedem Roseninneren züngelte eine Flamme aus Licht hervor, sehr schön und angenehm anzusehen. Auf den Schuhen war eine Verzierung aus Gold, aber nicht aus irdischem Gold, sondern aus dem Gold des Paradieses. Der Anblick der Heiligen Jungfrau selbst war ein vollendetes Paradies. Sie besaß in sich alles, was zufriedenstellen konnte, denn die Erde geriet in Vergessenheit.“
Die Schönheit der Immakulata ist ein vollendetes Paradies. Gott hat es gefallen, in ihr Seine Gnadenschätze auszugießen und sie über alle Geschöpfe zu erheben. Die Erscheinung läßt diese für unsere Augen an sich unsichtbare und überirdische Schönheit vor den Seherkindern etwas aufleuchten, wie Melanie es beschreibt: „Die Heilige Jungfrau war ganz aus Schönheit und Liebe geformt; wenn ich sie ansah, sehnte ich mich danach, in ihr zu verschmelzen. Alles an und in ihr atmete Würde, die Pracht und Herrlichkeit einer unvergleichlichen Königin. Sie erschien weiß, makellos, kristallen, blendend, himmlisch, frisch, neu, wie eine Jungfrau. Es schien, als wenn das Wort Liebe ihren silbrigen und so reinen Lippen entschlüpfen würde. Sie sah aus wie eine gute Mutter, voll Güte, Liebenswürdigkeit und voll Liebe für uns, voll Mitleid und Barmherzigkeit.“
Man sagt auch, die Erscheinung der Jungfrau und Gottesmutter Maria in La Salette erinnere an die in Amiens bekannte Darstellung Mariens als Hohepriesterin. Diese Anspielung wird noch verstärkt durch die in La Salette hervorstechende Tatsache: Maria weint! „Die Heilige Jungfrau weinte beinahe ununterbrochen, während sie mit mir sprach. Ihre Tränen fielen, eine nach der anderen, langsam herunter, bis zu ihren Knien, und dann verschwanden sie wie Lichtfunken. Sie waren leuchtend und von Liebe getränkt. Ich hätte sie gerne getröstet, damit sie nicht mehr weine. Aber es schien mir, daß sie ihre Tränen zeigen mußte, um ihre von den Menschen vergessene Liebe besser zu beweisen. Ich hätte mich in ihre Arme werfen wollen, um ihr zu sagen: ‚Meine gute Mutter, weine nicht! Ich möchte Dich für alle Menschen der Erde lieben.‘ Aber es schien mir, als ob sie zu mir sagte: ‚Es gibt so viele, die mich nicht kennen!‘“
Maria ist die Miterlöserin, die während des ganzen bitteren Leidens und Sterbens Ihres göttlichen Sohnes an dessen Seite tritt, um alles Leiden mit IHM zusammen zu tragen und dem himmlischen Vater zur Sühne für die Sünden der Menschen aufzuopfern. Und wie wohlgefällig war dieses Mitleiden der Immakulata in den Augen Gottes. In der Vesper zum Fest der Sieben Schmerzen Mariens heißt es: „O quot undis lacrimarum, quo dolore volvitur.“ („O, in welches Meer der Tränen, welchen Schmerz, wird sie getaucht.“)
Blickt man nach nunmehr fast 171 Jahren auf die Erscheinungen von La Salette, so muß man vor allem eines feststellen, die Botschaft von La Salette wurde wie keine andere von den meisten abgelehnt. Der französische Schriftsteller Léon Bloy hat sein Leben lang für La Salette gestritten und Jahrzehnte lang diese Tragödie hautnah erlebt.
Léon Bloy wurde als zweiter von sieben Söhnen am 12. Juli 1846 in Périgueux in der Gemeinde Unserer Lieben Frau von Sanilhac geboren. Er empfand es sein ganzes Leben lang als eine besondere Auszeichnung, im Jahr der Erscheinung von La Salette geboren zu sein. Sein Vater war ein kleiner südfranzösischer Staatsbeamter, der wenig Verständnis für die geistigen und künstlerischen Interessen seines Sohnes hatte. Seine Mutter war spanischer Herkunft. Sie brachte mehr Verständnis für diesen Sohn auf, der von klein auf ein Kind der Tränen war. Der junge Léon litt unter einer großen Schwermut, die ihn in der Schule zum Außenseiter werden ließ, weshalb es oft heftige Auseinandersetzungen unter anderen Klassenkameraden gab.
Auf vielen Umwegen wird Léon Bloy schließlich Schriftsteller. In Paris lernt er den großen Barbey d'Aurevilly kennen, dessen Nachbar er ist. Der Dichter findet Gefallen an dem jungen Mann – Bloy ist 23 Jahre alt – und macht ihn zu seinem Sekretär. Zudem hilft ihm der Dichter, seinen christlichen Glauben wieder zu finden.
Es gab nur wenige Zeitgenossen, die die Eindringlichkeit der Botschaft von La Salette so verstanden wie er und deshalb auch den Ernst des Ultimatums der weinenden Jungfrau und Gottesmutter. Er selbst ist dem Ruf Mariens gefolgt. Viermal hat er die Wallfahrt nach La Salette unternommen. Schon damals zeigte sich der Ungehorsam gegen die Botschaft, wie er selbst feststellt: „Der Gehorsam gegenüber der Mutter Gottes, die heute vor 60 Jahren eigens kam, um ihren Willen zu bekunden, war das einzige Mittel, dessen man sich nicht bediente.“
Worauf Léon Bloy sein ganzes Leben lang aufmerksam machte, waren die Verleumdungen der Seherkinder, besonders Melanies. Der letzte Grund für all die Feinseligkeiten den Seherkindern gegenüber war der Unglaube. Die Botschaft von La Salette ist kein Zuckerschlecken, sondern die Beschreibung einer unvorstellbaren Tragödie, die sich am Ende der Zeiten ereignen wird, weil die Menschen Gott und Seine Gebote vollkommen vergessen. Bloy zieht selbst gegen Ende seines Lebens Bilanz: „Sechzig Jahre sind verflossen. Man ist irdischer, gottloser, ungehorsamer geworden und ‚hündischer‘: Aber scheint es nicht, daß dieser unfaßbare Mißerfolg, dieses ungeheure und zugleich anbetungswürdige Scheitern der Herrin des Paradieses nach nichts aussieht, wenn man an den unverzeihlichen Hohn denkt, der an die Stelle des Gehorsams trat?“
Es ist doch erschreckend und zugleich entlarvend: Die himmlische Mutter weint und ihre Kinder beschweren sich darüber, daß sie gar so ernste, ja drohende Worte spricht. Die Mutter Gottes hatte gebeten: „Ich richte an die Erde einen dringenden Appell; ich rufe die wahren Jünger des lebendigen Gottes auf, der da herrscht in den Himmeln. Ich rufe die wahren Nachfolger des menschgewordenen Christus auf, des einzigen und wahrhaften Erlösers der Menschheit, ich rufe meine Kinder, meine wahrhaft frommen, die sich mir ergeben haben, damit ich sie zu meinem göttlichen Sohne führe, ich rufe jene, die ich gleichsam auf meinen Armen trage, jene, die in meinem Geist leben; schließlich rufe ich die Apostel der Endzeit, die treuen Jünger Jesu Christi, die in Geringschätzung der Welt und ihrer selbst leben, in Armut und Demut, m der Verachtung und im Stillschweigen, in Gebet und in der Kasteiung, in der Keuschheit und in der Vereinigung mit Gott, im Leiden und unerkannt von der Welt. Es ist die Zeit, daß sie sich zu erkennen geben und Licht auf der Erde verbreiten. Kommt her und erweist euch als meine geliebten Kinder. Ich bin mit euch und in euch, sofern der Glaube euer Licht ist, das euch erleuchtet in diesen Schreckenstagen“ (Gouin, Paul: „Melanie, die Hirtin von La Salette“, Stein am Rhein 1982, S 79).
Aber leider findet sich die Bereitschaft zu Buße und Umkehr nur noch selten in den Herzen der Katholiken. Die Botschaft von La Salette findet deswegen vielfach nur noch taube Ohren und wird weitgehend einfach ignoriert werden, so daß sich die angekündeten Strafgerichte Schlag auf Schlag erfüllen werden: Der Krieg 1870, der 1. Weltkrieg und der 2.Weltkrieg. Was dabei ganz besonders schmerzlich ist, ist das Verhalten des Klerus. In seinem Tagebuch notiert Léon Bloy am 25. Dezember 1914: „Die allgemeine Unwissenheit über La Salette ist ein ungeheures Verbrechen des Episkopats. Vom ersten Tag an haben die Bischöfe diese Offenbarung im Keim erstickt, so gut sie konnten. Alle möglichen Mittel wurden zu diesem Werk der Ungerechtigkeit angewandt, das, glauben Sie mir, auf schreckliche Weise bestraft wird. Nachdem ich die Aufgabe übernommen hatte, dies zu enthüllen, konnte ich mich selbstverständlich nicht an jene wenden, die seine ausführenden Organe waren. Wenn ich geglaubt hatte, am Imprimatur [bischöfliche Druckerlaubnis] nicht vorbeigehen zu können — und ich hätte es niemals auch nur von einem Bischof erhalten —, dann wäre mein Buch niemals erschienen und die hl Jungfrau ohne Zeugnis geblieben“ (An der Schwelle der Apokalypse, Tagebuch von Léon Bloy 1913-1915, in Journal de Léon Bloy, Vol. IV, Pans 1963, S. 128).
Das Mitleiden mit der weinenden Gottesmutter von La Salette ermutigte den Dichter, sein Buch über die Erscheinung trotz der vielen Widerstände doch noch zu vollenden. Es heißt so ergreifend einfach und treffend: „Die, die weint“ („Celle qui pleure“). In seinem Tagebuch ist am 30. Juli 1910 notiert: „Ich muß ein Buch über Melanie, die Hirtin von la Salette schreiben. Zu diesem mich ängstigenden Unterfangen samt seiner außerordentlichen Schwierigkeit habe ich mich verpflichtet. In Wahrheit besitze ich nur das Dokument, das mir Abbe C., der eine gewisse Zeit lang geistlicher Leiter der Heiligen war, überließ, eben ihre Lebensgeschichte, die sie auf förmliche Anordnung dieses Klerikers selbst niederschrieb. Mein Buch kann nur ein Kommentar dieses im strengen Sinne historisch ungenügenden Dokuments sein. Ich hätte Melanie überall hin nachreisen müssen, nach England, nach Italien und Frankreich, und das habe ich nicht oder fast nicht. Ich hätte Forschungsreisen unternehmen und relativ beachtliche Summen investieren müssen, ich hätte vielleicht auch Mittel gebraucht, um Leute zu beruhigen. Ich bin außerordentlich behindert. An allem wird es mir von der ersten Zeile an fehlen, ausgenommen jenes einzigartige, in der Tat prächtige Dokument, das über die Kindheit von Melanie aber nicht hinausgeht“ (Der Pilger des Absoluten, a a O, S. 189).
Zudem schrieb er ein Vorwort zu dem Buch, in dem die Jugenderinnerungen Melanies veröffentlicht wurden. Aus diesem Vorwort soll nun einiges angeführt werden, da die Ausführungen Bloys uns einen tiefen Einblick in das Leben dieser außerordentlich begnadeten Seherin gewähren und zudem eine Verteidigung gegen die zahlreichen Verleumdungen sind. Der eine oder andere wird wohl schon in einem Buch über Behauptungen gestolpert sein wie etwa der, Melanie sei ihr ganzes Leben lang unstet gewesen, ein unruhiger Geist, der es in keinem Kloster ausgehalten hat und den Oberen immer nur Sorgen bereitet hat, usw. In dem Buch von Paul Gouin, „Melanie, die Hirtin von La Salette“, Stein am Rhein 1982, wird man eines besseren belehrt. Dieses Buch sei auch allen empfohlen, die etwas mehr über die Seherin von La Salette erfahren wollen.
Aber nun zurück zu den Erwägungen Léon Bloys. Einleitend meint er:
„Von den Christen, die das Wunder von La Salette nicht ablehnen, kann keiner behaupten, daß die beiden Seherkinder etwas anderes sein konnten als schwache Werkzeuge, ohne sich der absoluten Lächerlichkeit preiszugeben.
Man hält es allgemein für ausgemacht, daß die beiden im Jahre 1846 zwei plumpe, ungeschliffene Bauernkinder waren, die, wenn schon nicht schwachsinnig, so doch ebendeshalb auserwählt wurden, damit sie umso besser die Glaubwürdigkeit einer übernatürlichen Offenbarung vor Augen führten.
Darüber hinaus gestand man Maximin im äußersten Notfall einen blassen Schimmer von Intelligenz zu, ihm, der sein Geheimnis nicht veröffentlichte und deshalb in der Folgezeit als weitaus weniger lästig empfunden wurde als seine Gefährtin. Die Geschichtsschreiberin der Anfangsjahre der Wallfahrt, Mlle. des Brulais, stellt ihn als kleinen Burschen mit außerordentlicher Lebhaftigkeit dar, der manchmal, außerhalb seiner eigentlichen Aufgabe als Berichterstatter, reichlich lustige Einfälle hat. Aber nichts, rein gar nichts billigt man Melanie zu.
Sie sei ‚eine arme Unschuldige, ein Trotzkopf, eigensinnig‘, unfähig, auch nur irgend etwas von den oft sehr außergewöhnlichen Antworten zu begreifen, die ihr von oben eingegeben werden. So hat sich jene Mlle. des Brulais über sie ausgelassen, gewiß ein fähiger Kopf, aber eben eine Lehrerin wie aus dem Bilderbuch, hundertfach unfähig, das Geheimnis dieser unerhörten Berufung zu erahnen.
65 Jahre später ist die ruhmreiche Melanie, nach ihrem Tod im Jahre 1904, verachteter denn je zuvor. Als der Vorwurf des Schwachsinns nicht mehr zu halten war, hieß es: Anmaßung, Herumtreiberei, verbrecherische Auflehnung,... unsittlicher Lebenswandel. Priester, ja selbst Bischöfe, die ihre erkalteten Herzen dieser wundersamen Jungfrau hätten empfehlen sollen, haben sich im Gegenteil gegen sie zusammengerottet, einige bis zur tödlichen Raserei, um so die einzigartige Wichtigkeit und unvergleichliche Vorherbestimmung ihres Opfers kundzutun. Man findet sogar Geistliche, angeblich ehrenwerte, die allein der Name Melanies aus dem Gleichgewicht bringt und zum Zorne reizt. Beinahe ist man versucht zu fragen, ob sich die Zahl dieser Irren nicht vermehrt hat“ (Wir zitieren jeweils nach der Zeitschrift Einsicht, 26. Jahrgang Nummer 3, September 1996/6; hier S. 11f).
Ganz im Gegensatz zu diesem Bild der Seherin in der Öffentlichkeit stand die Wirklichkeit. In den nur auf ausdrücklichen Befehl des Beichtvaters niedergeschriebenen Kindheits- und Jugenderinnerungen begegnet uns ein von frühester Kindheit an hochbegnadetes Mädchen, das sich dieser Gnaden in keiner Weise bewußt war, weil sie dachte, alle hätten solche Erfahrungen, Einsichten und himmlische Hilfen.
Die Berichte Melanies, die sie erst im Alter von 69 Jahren niederschrieb, sind im Grunde eine Anleitung, die Wege der göttlichen Vorsehung zu betrachten und zu bewundern. Kaum war sie geboren, wurde sie schon von ihrer Mutter gehaßt. „Dieser sonderbare, übersteigerte und gespensterhafte Haß, den die Erzählerin aus Gehorsam gezwungenermaßen wiedergibt und ihn gleichzeitig entschuldigt, diese plötzliche und völlige Ablehnung eines Wunschkindes vor seiner Geburt war selbst eine Art Wunder, das nur durch eine unfaßbare Vorausahnung, die diese Mutter von der übernatürlichen Bestimmung ihrer Tochter gehabt hatte, erklärt werden kann“ (Ebd. S. 14).
Melanie wurde wie auch die hl. Bernadette von Gott auf ihre Begegnung mit der Königin des Himmels vorbereitet. Aber bei Melanie ist diese Vorbereitung eine noch härtere Schule. Bernadette gehörte zur ärmsten Familie von Lourdes, aber immerhin hatte sie noch eine Familie, sie hatte Eltern und Geschwister, die sie liebte. Melanie wurde von ihrer Mutter vor die Türe gesetzt und lebte oft mehrere Tage oder sogar Wochen im Wald.
„Man kann nichts Erschütternderes lesen als den Schrei dieser Verlassenen von drei Jahren, der ihr kleiner himmlischer Bruder, der plötzlich aufgetaucht war, eine Mama versprach. — ‚Eine Mama!‘, rief sie weinend, ,ich habe doch eine Mama!‘ Ihre Mutter hatte sie zuvor, wie so oft in der Folge, vor die Türe gesetzt, mitten in der Nacht, in strömendem Regen! ...
Ich wiederhole, sie war drei Jahre alt und konnte kaum laufen. Sie übte laufen lernen in einem Wald und verbrachte dort Tage und Nächte, ganze Wochen, genährt nur von dem, was ihr ihr wunderbarer Bruder brachte, ohne daß jemand sie sehen oder wahrnehmen konnte, da sie unsichtbar und unberührbar war, und in Wohnstätten gebracht, von denen der hl. Paulus nicht zu sprechen wagte.
Als sie wieder ins Elternhaus zurückkam, bezog sie von ihrer Mutter fürchterliche Prügel; ihre Mutter wollte nicht, daß sie ihren Brüdern eine Schwester sei; von ihnen verlangte die Mutter, daß sie sie nur als Stumme, als Wolfskind und Wilde beschimpften, und sie warf sie oftmals gleich aus dem Haus, sobald die Abwesenheit des Vaters das erlaubte. Es bedurfte eines Wunders, daß dieses Mädchen nicht starb“ (Ebd.).
Gott hat mit Wohlgefallen auf dieses kleine Kind herabgesehen, worin uns das unergründliche Geheimnis der göttlichen Erwählung greifbar wird. Denn es gab damals sicherlich viele Kinder in der ganzen Welt, die in einer ähnlichen Lage waren, aber nur Melanie wurde in einer solch außergewöhnlichen Weise von Gott geführt. Ihr kleiner himmlischer Bruder wurde ihr Beschützer und Lehrer. Er half dem kleinen Mädchen nicht nur, sich in dieser irdischen Welt zurecht zu finden und zu überleben, er half ihr auch, die himmlische Welt zu verstehen und aus der Gnade zu leben. Wenn man diese Aufzeichnungen liest, meint man wirklich, wie auch Léon Bloy bemerkt, man würde die Fioretti des hl. Franz von Assisi lesen. Hierzu ein bezauberndes Beispiel.
„... Manchmal, besonders wenn der Schnee die Gipfel der Berge bedeckte, suchten die Wölfe, Füchse und Hasen zu fressen. Also verteilte ich mein Brot unter ihnen, und diese wilden Tiere waren zufrieden; dann erzählte ich ihnen vom Guten Gott; verehrter, lieber Pater, ich kann mich schwer erinnern, was ich ihnen sagte; ich weiß, daß sie mich mehrfach beschämten durch ihren Gehorsam, mich, einen Wurm, von dem sie nichts erwarteten. Ich erzählte diesen Tieren ihre Schöpfung durch das allmächtige Wort des ewigen Gottes, wie mich mein lieber Bruder unterrichtet hatte, und ich ermunterte sie, überall ihre Nahrung zu suchen, ohne den Menschen Nachteile zu verursachen, die ja ihre Herren und Könige sind, weil sie nach dem Bilde Gottes erschaffen sind durch die Kräfte ihrer Seele, und weil sie die Abbilder Jesu Christi sind durch ihre Körper usw. usw.
An erster Stelle kam alle Tage ein Wolf, und ich unterrichtete ihn, so gut ich konnte. Das gefiel mir unterdessen nicht sonderlich, weil der Wolf nicht wie ein Mensch sein Interesse oder Desinteresse zeigen kann. Er diente mir in einer Art und Weise, daß ich manchmal am liebsten laut herausgerufen und alle Menschen der Erden eingeladen hätte, den göttlichen Heiland Jesus zu loben, zu heben und zu verherrlichen, der uns unendlich geliebt hat und sein Leben gegeben hat, um uns zu retten.
Bald vermehrte sich die Anzahl der Wölfe, der Füchse und Hasen; kleine Gemsen und ein Schwarm Vögel kamen jeden Tag, und mangels Menschen, zu denen man vom Guten Gott sprechen konnte, predigte das Wolfskind ihnen; abschließend sang man das Lied ‚Goûtez, âmes ferventes...‘ Alle gaben Anzeichen großer Andacht und neigten bei den heiligsten Namen JESU und MARIAE das Haupt.
Die Wölfe kamen zu bestimmter Stunde; die Füchse ebenso wie die Hasen, Gemsen und Vögel. (Eine Schlange kam auch, wurde aber wieder vertrieben.) Nach der Ankunft nahm jedes der Tiere die ihm zugewiesene Stelle ein und lauschte. Nachdem sie den Schluß gehört hatten, der ungefähr lautete ‚Sit nomen Domini benedictum!‘ [Der Name des Herrn sei gepriesen!], spielten sie verrückt. Vor allem die Füchse spielten ihren Wolfsbrüdern Streiche; sie bissen sie in die Ohren und in den Schwanz; den Hasen gaben sie Tapser mit ihren Pfoten und ließen sie rumkugeln, die kleinen Gemsen zogen sie an ihren Stummelschwänzchen nach hinten, usw. Als ich ihnen befahl, sich zurückzuziehen, verschwanden alle...“ (Ebd. S. 14f).
Der ungläubige moderne Mensch wird solche Erzählungen als Märchen abtun, der im Glauben erleuchtete Mensch erkennt darin die Wiederherstellung des Paradieses durch die Gnade der Erlösung. Melanie schenkt wie der hl. Franziskus der Natur ihre Unschuld wieder. Aber was ist der Preis dafür? Was ist der Preis für dieses Gnadenwunder? Ein Meer von Leiden! Der hl. Franziskus wird gegen Ende seines Lebens mit den Wundmalen Jesu gezeichnet, also eine himmlische Auszeichnung, die sein Mitleiden mit dem göttlichen Erlöser, jedem, der es sehen will, verdeutlicht – ebenso Melanie.
„Sie sah und fühlte in Gott; sie war gezwungen, durch Gott hindurchzugehen, wenn man so sagen kann, eine dreifache Trennwand aus Licht zu durchdringen und zu dem sensiblen Punkt zu kommen, die für sie ebensowenig unterscheidbar waren wie die armseligen Möbel des Landarbeiters, wenn er, geblendet vom Sonnenlicht, von der Ernte nach Hause kommt. Das ist besonders bemerkenswert, als ihr Beichtvater sie nach Einzelheiten bestimmter Wunderheilungen befragte, und vor allem, als sie über ihre Stigmata sprechen mußte, die sie damals als ausnahmslos für jeden Christen gewöhnlich ansah. ‚Wenn der gute Gott alles macht, was er will, bin ich davon nicht die Ursache‘, sagte sie. Das genügte ihr, für immer“ (Ebd. S. 16). Das ist also das kleine Bauernmädchen, das von den Menschen für dumm und unwissend gehalten wird. Für Gott ist es eine außerordentliche Erwählte, ein Wunder von Heiligkeit, einerseits zwar von einem unscheinbaren Äußeren, unwissend in allem, was die Menschen betrifft, anderseits aber wohlunterrichtet in der Weisheit Gottes. „Die berühmte Erscheinung, für sie alles andere als eine Neuigkeit, war das notwendige, von Gott gewollte Ergebnis des ganzen inneren und zutiefst verborgenen Leben eines kleinen Kindes, das die höchsten Stufen der Mystik überschritten hatte und das man für Dreck am Wege hielt“ (Ebd.).
Je mehr man sich in diese Vorbereitungsjahre vertieft, desto größer wird das Staunen, so daß man mit dem hl. Paulus ausrufen möchte: „O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege!“ All diese außerordentlichen Gnaden, die das Leben Melanies prägen, sind hingeordnet auf die wunderbare Begegnung mit „Der, die weint“.
Ehe man sich in die Botschaft der weinenden Jungfrau und Gottesmutter von La Salette einlesen und hineindenken kann, muß man sich eingehend über die Botschafterin Gedanken machen: Warum sendet Gott eigentlich Maria zu uns – und warum weint Maria?
Auch hierzu macht sich Léon Bloy einige durchaus sehr bedenkenswerte Gedanken.
„Ein Freund Gottes schrieb mit eines Tages diesen herrlichen Satz:
‚Du schreibst in Die, die weint vom ‚offensichtlichen‘ Scheitern der Erlösung. Und in der Tat, wenn man die Geschichte des christlichen Volkes betrachtet... Nun gut! Nein, die Antwort ist einfach; die Erlösung ist vollständig gelungen dergestalt, daß es Gott und den Menschen ewig genügt. Die Menschheit und die Schöpfung sind gemäß der ganzen Vollkommenheit des göttlichen Willens mit Gott vereinigt worden. Und dieses vollständige und offenkundige Gelingen der Erlösung, das ist die hl. Jungfrau.
Deshalb brauchte Gott Sie. Sein Blut sollte nicht unnütz vergossen werden. Danach konnte alles kommen: Verbrechen, Schismen, Lügen, Unzucht, Abscheulichkeiten — und selbst Unvollkommenheiten und Treulosigkeiten bei den Heiligen. Die Erlösung ist auf den ersten Schlag gelungen, ein für alle Mal. Die hl. Jungfrau antwortet auf alles, gleicht alles aus, hat mehr Gewicht als alles‘“ (Ebd. S. 17f).
Wir wissen, nicht alle Menschen werden gerettet. Wir wissen, es gibt heute viele Menschen, die keinerlei Glauben mehr haben und keinerlei Gebote mehr achten. Für diese Menschen war die Erlösung vergebens, denn sie werden nicht gerettet, sondern verdammt werden, wenn sie ohne Gnade sterben. In einer Andacht zur Todesangst Jesu heißt es: „Leiden ist schwer, so schwer; aber umsonst leiden, das ist furchtbar, das ist unaussprechlich. Diesen Schmerz hast Du, o göttlicher Heiland, im höchsten Maße verkosten wollen. Du siehst in den angstvollen Ölbergstunden die Nutzlosigkeit Deines Opfertodes am Kreuze für viele, viele Menschen voraus. Diese traurige Gewißheit füllt den Kelch Deines Leidens mit Bitterkeit bis zum Rande, sie durchbohrt Dein heiligstes Herz und hätte es gebrochen vor Schmerz, wenn Du nicht durch ein Wunder Deiner göttlichen Allmacht Dein Leben erhalten hättest, um den Kelch der Sühne für unsere Sünden bis zur Neige zu trinken.“
Wer kann die Leiden des göttlichen Herzens Jesu begreifen, die es angesichts der Nutzlosigkeit der Erlösung für so viele Menschen bedrückt? Und wer kann die Leiden des unbefleckten Herzens Mariens begreifen, das vollkommen mit dem ihres Sohnes eins ist? Unser göttlicher Erlöser weint angesichts dieser ungeheuerlichen Undankbarkeit und Kälte der gottlosen Menschen blutige Tränen. Auch Maria weint, weint ununterbrochen in La Salette. „Sie, die alle Geschöpfe selig preisen sollen. Sie weinte, wie nur Sie weinen kann. Sie weint unendliche Tränen über all unsere Verfehlungen — und Sie hat sie uns ja aufgezählt — und weint über jede einzelne. Sie wird also davon getroffen, noch im Schoße ihrer Seligkeit. Der Verstand faßt das nicht. Eine Seligkeit, die ‚leidet‘ und die weint! Ist es möglich, das zu begreifen?“
Kommen wir nochmals zurück zur Andacht über die Todesangst Jesu. Dort heißt es weiter: „Unbeschreiblich ist die Bitterkeit, die Du, o Jesus, empfindest beim Anblick dieser Seelen, für die Dein Leiden und Sterben ewig nutzlos ist. Nur wer die unendliche Liebe Deines Herzens zu erfassen vermöchte, könnte die Größe des Schmerzes ermessen, den Du über den Verlust dieser Dir so teuren Seelen erduldet hast in jener Ölbergsnacht. Dieses traurige Bild ist Dir schier unerträglich. Mit der ganzen Liebe Deines mitleidsvollen Erlöserherzens ringst Du mit der erzürnten göttlichen Gerechtigkeit, um sie zu besänftigen und Gnade für diese unglücklichen Seelen zu erlangen. Doch vergebens! Sie wollen ja nicht, weisen alle Gnaden zurück und ziehen ein Leben kurzer, sündiger Lust der ewigen Seligkeit vor. ‚Umsonst‘, klagst Du daher mit dem Psalmisten, ‚strecke ich meinen Arm aus, um die Seelen an mich zu ziehen; sie widerstehen mir, sie wollen zugrundegehen.‘ Da quillt reichlicher der Blutschweiß aus Deinen Poren hervor, und in Deiner Traurigkeit und Niedergeschlagenheit brichst Du in das immer flehentlichere Bittgebet aus: ‚Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.‘“
Wir wissen zwar, daß Jesus und auch Maria, die doch beide mit Leib und Seele schon im Himmel sind, dort nicht mehr weinen können. Aber dennoch weint Maria in La Salette. Weint sie nur zum Schein? Weint sie nur für uns, obwohl sie doch im Himmel unendlich glücklich ist? Das wäre wohl eine zu einfache Erklärung. Vielleicht ist es vergleichbar mit dem hl. Meßopfer. Unser göttlicher Erlöser erneuert darin Sein Opfer am Kreuz – und es ist ein wahres, vollkommenes Opfer, auch wenn es ein unblutiges Opfer ist, denn Jesus kann nicht mehr leiden und sterben, ist er doch in den verwandelten Opfergaben gegenwärtig wie ER jetzt verklärt im Himmel thront und herrscht. Und dennoch wird unser Herr von vielen hl. Mystikern während dem hl. Meßopfer am Kreuz hängend und für uns leidend gesehen, weil doch im Opfer auch Sein ganzes Sühneleiden gegenwärtig wird. Ähnlich kann man es sich auch bei Maria denken. Wenn sie in La Salette erscheint und fast ununterbrochen weint, dann wird damit ihr furchtbares Leiden während ihres irdischen Lebens gegenwärtig – wirksam gegenwärtig, möchte man und kann man sicherlich ganz zurecht sagen.
Angesichts der weinenden Gottesmutter von La Salette steht man also vor dem Geheimnis des Erlöserleidens und damit der Erlösung selbst – wer könnte daran zweifeln?
„Dein hl. Johannes, zu dem Gott mehr als zu anderen Menschen gesprochen zu haben schien, hat er nicht gesagt, daß es Drei sind, die da Zeugnis geben auf Erden, der Geist, das Wasser und das Blut [Vgl. l Joh. 5,6: Denn drei sind, welche Zeugnis geben im Himmel Der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins], und daß diese Drei der Trinität entsprechen? Das ist genau sein Text. Ist es nicht so, daß das die drei Sintfluten für die Erlösung unentbehrlich macht. Die alte Sintflut war aus Wasser, die Sintflut aus Blut, die noch nach neunzehn Jahrhunderten nicht endet, und die Sintflut aus Feuer, die von so vielen Vorboten angekündigt, kommen wird.
Das Reich des Vaters, den es reut, die Menschen geschaffen zu haben, das Reich des Sohnes, der mit dieser göttlichen Buße beladen ist, und das allgemeine Reich der Liebe, durch die alles neu werden muß. Ecce nova facio omnia [Siehe, Ich mache alles neu. Apok. 21, 5]. Aber auf welche Weise und um welchen Preis? Du weißt es ohne Zweifel, bist Du doch der ‚Sitz der Weisheit‘, ja die Weisheit selbst, und deshalb weinst Du“ (Ebd. S. 18).
Unsere himmlische Mutter macht sich die Sorgen ihres göttlichen Sohnes, unseres Erlösers, zu eigen. Vollkommen vereint mit IHM im Leiden geht sie den Kreuzweg. Wie sehr spürt sie dabei die vielen, vielen Sünden der Menschen, die ihrem Sohn dieses unsagbare Leiden verursachen. Aber nochmals: was geschieht, wenn das Leiden in dem Sinne sinnlos wird, daß niemand mehr gerettet werden will? „Die alte Sintflut war aus Wasser, die Sintflut aus Blut, die noch nach neunzehn Jahrhunderten nicht endet, und die Sintflut aus Feuer, die von so vielen Vorboten angekündigt, kommen wird.“ Steht uns etwa die Sintflut aus Feuer unmittelbar bevor?
Léon Bloy gibt zu bedenken:
„Im Jahre 1846, als Du jenes erregte ‚Ich kann den Arm Meines Sohnes nicht länger zurückhalten‘ sprachst, kamst Du, um Deine Not dem einzigen Geschöpf anzuvertrauen, das fähig ist, Dir zuzuhören und Dich zu verstehen, diese demütige Melanie, die von Dir auserwählt wurde, weil sie das niedrigste aller Geschöpfe zu sein schien, und Du vertrautest ihr ein Geheimnis an, das Du nicht mehr länger alleine tragen konntest, Du, die Du ohne irgendwelche Hilfe den Sohn Gottes getragen hast.
Zwölf Jahre später hast Du Dich wieder einer Hirtin geoffenbart, aber ohne ihr Deine großen Tränen zu zeigen, von denen die Christen nichts wissen wollten, und ohne ihr jenes fürchterliche Geheimnis anzuvertrauen, mit dem Du die erste Hirtin beauftragt hattest, es unter die Leute zu bringen und zu verbreiten. Wieviele Male vergeblich! Lourdes, vorausgesehen und von Dir in La Salette angekündigt, war eine noch heroischere Anstrengung, eine Verkleidung Deines Schmerzes, so wie eine Mutter, die den Tod vor Augen hat, sich in Festgewänder hüllt, um ihre Kinder zu beruhigen.
Wieder verstrichen etwas mehr als zwölf Jahre, und es kam jenes furchtbare Jahr, das man das Schreckensjahr nannte. Frankreich, vom Pöbel mit Füßen getreten, rang die Arme. Ein letztes Mal erschienst Du armen Kindern in einer ganz rätselhaften Weise. Du entrolltest seltsame Bilder von Dir selbst, die begleitet waren von einer Schrift aus knappen und nur angedeuteten Worten, die ebensogut ein Übermaß an Drohung wie ein Übermaß an Verzeihung bedeuten können.
Und das war es dann. Man hat seitdem von Dir nichts mehr vernommen. Die christliche Welt, die dieses Schweigen hätte erschrecken sollen, fiel immer tiefer. La Salette ist verachtet, Lourdes zu einer Stätte der Geschäftemacherei geworden und zu einem literarischen Thema, Pontmain zu einem frommen Gesangbuchbildchen. Es ist ganz offensichtlich, daß Du bei Deinem Volk keinen Glauben mehr findest und ihm nicht mehr helfen kannst. Der Augenblick des Untergangs wäre also gekommen“ (Ebd.).
Durch die Botschaft von La Salette wissen wir, wir stehen inzwischen am Ende der Zeiten. All die gewaltigen und beängstigenden Ereignisse, die in der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes, wenn auch verschlüsselt, so doch überaus deutlich angekündigt werden, werden vor unseren Augen mehr und mehr Wirklichkeit. Schon vor nunmehr fast 171 Jahren hat unsere himmlische Mutter uns darauf aufmerksam gemacht, das Ende der Zeiten ist angebrochen. Wir stehen inzwischen inmitten dieser größten Prüfungszeit der Heilsgeschichte. Aber, wie wir gehört haben, wollte fast niemand auf die weinende himmlische Mutter hören.
Was aber bleibt uns, die wir die Botschaft Mariens hören wollen, zu tun?
„Maria ist das irdische Paradies, das werde ich niemals oft genug sagen. Aber was ist das, dieses irdische Paradies, und wo ist es? Zu Zeiten des Glaubens gab es Christen, die es suchten. Raimundus Lullus schien daran gedacht zu haben, und man erzählt, daß Christoph Kolumbus nicht zweifelte, es bei den Antillen oder ein wenig weiter entfernt zu treffen. Melanie allein hat das irdische Paradies gefunden, das vor ihr sehr wohl bekannt war, aber ohne genaue Bezeichnung — so wie man einen Schatz findet, der vor der ganzen Welt unter den eigenen Füßen vergraben ist — Melanie hat dieses Paradies erkannt wie als Ergebnis einer wundersamen inneren Erleuchtung.
Das irdische Paradies ist das Leiden, und es gibt kein anderes. In Wahrheit ist der Mensch immer im Paradies aller Lust, und seine Vertreibung ist nur zu offenkundig. Einzig seit dem Ungehorsam sah er sich nackt, er sah die Erde und alles, was auf der Erde ist, nackt, und er hat verstanden, daß das Leiden nichts anderes ist als die reine, nackte Begierde. Ungezählte Heilige hatten diese Vorahnung haben können, aber eben nichts weiter als diese Vorahnung, denn das Zeitalter des Absoluten hatte noch nicht begonnen.
Das irdische Paradies war einem jungen Hirtenmädchen vorbehalten, einem Kind ohne irgendwelche menschliche Gelehrsamkeit, ohne jede andere Bildung als die, die man erlangen kann in der Grundschule der Engel. Es kam ihr nur zu, Verkündigerin und Prophetin des Absoluten Christentums zu sein. Denn das ist ganz und gar ihre Sendung.
Das wundersame Mädchen kann nicht sprechen oder schreiben, ohne die Märtyrer wieder auferstehen zu lassen, die Zeit der Märtyrer, in der man wußte, daß Gott von seinen Geschöpfen niemals zu viel verlangen kann. Es ist, wenn man will, gleichsam die Grenze seiner Allmacht. Gott kann nicht zu viel fordern. Kann er hingegen genug fordern? Die moderne Vielwisserei kann sich an dieser Fragestellung ja mal versuchen. Aber damals glaubte man — sieht man es einmal zurückblickend durch die Berufung Melanies — gemäß dem Evangelium, daß man, wenn man alles gegeben und alles verlassen hat, dennoch ein ‚unnützer Knecht‘ sei“ (Ebd. S. 18f).
Das ist es, was uns Maria sagen möchte: Nur derjenige wird siegen, der bereit ist, den vollen Einsatz zu bringen, denn Gott fordert alles. Gerade daran krankt der moderne Mensch, der immer nur berechnend geben möchte – auch Gott, er will nicht mehr wahr haben: „Das irdische Paradies ist das Leiden, und es gibt kein anderes.“ Die meisten Seelen sind nicht mehr leidensfähig, weil sie keinen Sinn mehr im Opfer sehen, sondern sich nur noch vergnügen wollen. Aber ohne Leiden kann man niemals Gott ganz gehören. Es gibt keinen anderen Weg zurück zum Paradies als den Kreuzweg. „Die Zeitgenossen des hl. Irenäus oder des hl. Laurentius, die Jesus Christus durch ihr Heiligkeitsstreben gleich wurden, hatten sogar das Begehren nach Qualen. Und die einfache Frömmigkeit bestand darin, in Stücke geschnitten zu werden. Diese frühen Christen wußten nichts davon, daß es gute Reiche gebe und daß man zur Glorie gelangen kann, ohne den Weg durch Schmerzen gegangen zu sein. O bona Crux, diu desiderata; sollicite amata... [Gutes Kreuz, lange ersehnt heiß geliebt! Römisches Brevier, Sechste Lesung aus der Matutin am Fest des hl Andreas, 30. November], das sagte der hl. Andreas auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte, und das war ein ganz gewöhnlicher Ausspruch. Ein guter Familienvater las seinen Kindern etwas von der Folterbank, von siedendem Öl, geschmolzenem Blei und von wilden Tieren vor; das war ein sehr beneidetes Erbe“ (Ebd. S. 20).
Von solchem Opfermut und solcher Opferfreude sind wir doch meistens himmelweit entfernt. Es fehlt uns die tiefere, gnadengewirkte Einsicht in die verwandelnde Kraft des Leidens, die uns am Beispiel der Schmerzensmutter vor Augen steht. Dieses Meer des Leidens Mariens mündet am Ostermorgen in ein Meer unvorstellbarer Glückseligkeit. Das ist das Geheimnis aller Heiligen! Sie werden im Leiden nicht traurig, sondern im Gegenteil immer mutiger und hingabefreudiger. So war es natürlich auch bei Melanie, wie Léon Bloy ausführt: „Ich glaube, daß der wirkliche Name Melanies MAGNIFICAT ist. Alles, was sie tut, was sie sagt, in ihrer Kindheit oder in ihrem Alter, hat den Anschein einer Paraphrase des Lobgesanges der Unbefleckten: ‚Hochpreiset ihre Seele die Größe des Herrn‘…“ (Ebd. S. 21).
Man muß gestehen, ein faszinierender und zugleich kühner Gedanke, der übrigens an Elisabeth von Dijon erinnert. In einem Brief an Kanonikus A., schrieb sie Januar 1906: „Ich will Ihnen etwas ganz Vertrauliches mitteilen. Meine Sehnsucht ist: das Lob Seiner Herrlichkeit zu sein. Ich habe das beim hl. Paulus gelesen, und mein Bräutigam ließ mich wissen, daß das schon hier in der Verbannung meine Berufung sei, noch ehe ich in die Stadt der Heiligen komme, um das Sanctus zu singen. Doch verlangt das eine große Treue, denn um ein ,Lob der Herrlichkeit‘ zu sein, muß man tot sein für alles, was nicht Er ist, um nur unter Seiner Berührung zu schwingen; und die armselige Elisabeth macht ihrem Meister noch manche Dummheit. Aber wie ein zärtlicher Vater verzeiht Er ihr; sein göttlicher Blick läutert sie. Wie der hl. Paulus trachtet sie, das zu vergessen, was hinter ihr liegt, um sich auf das zu stürzen, was vor ihr liegt“ (P. Michael Philipon O.P., Die geistliche Lehre Schwester Elisabeths von der Heiligsten Dreifaltigkeit, Verlag Herder, Wien 1951, S. 110).
Gleichbedeutend könnte man auch formulieren: Meine Sehnsucht ist es, ein ständiges „Magnifikat“ zu singen. Auch dafür „muß man tot sein für alles, was nicht Er ist, um nur unter Seiner Berührung zu schwingen“. Jeder wird sofort einsehen, daß dies ohne große und beständige Opfer, also ohne Leiden unmöglich ist. Wenn wir es aber wagen, wird uns Gott wie ein zärtlicher Vater immer wieder alle Unvollkommenheiten verzeihen, wenn nur unsere Absicht rein ist und bleibt. Auch Léon Bloy ist sich bewußt: „Ich weiß, daß es Leute geben wird, die es für gewagt halten, die Worte der neuen Eva in einem anderen Mund zu finden als in dem Ihrigen. Dennoch ist es das, was die Kirche tut, wenn sie alle Gläubigen einlädt, die Vesper zu singen. Wir sind so sehr Glieder Jesu Christi, ja selbst Götter nach den Worten des Psalmisten, ausdrücklich und mit göttlicher Vollmacht unterstrichen im Evangelium, daß es keine heilige Zustimmung unter denen gibt, die im strengen Sinne anwendbar sind auf die Gottheit, daß es nicht ratsam und heilbringend ist, sie mit Liebe zurückzuholen und sie dabei auf sich selbst zu beziehen. Das ist das ganze Geheimnis der katholischen Liturgie. In einem wieviel stärkeren Maße gehört die heilige Sprache zu einigen außerordentlich privilegierten Wesen so wie Melanie, die getrennt sind — man weiß nicht bis zu welchem Punkt — von den anderen menschlichen Geschöpfen aufgrund ihrer prophetischen und apostolischen Berufung!“ (Einsicht S. 21).
Die hl. Liturgie, das Gebet der hl. Kirche nimmt uns hinein in den himmlischen Gottesdienst und macht uns fähig, das Magnifikat im Geiste Mariens zu singen. Natürlich werden wir ein ganzes Leben lang in diesem Geiste wachsen müssen, damit unser Leben ein beständiges Magnifikat wird. Dabei ist gerade das Gebet dasjenige Mittel, das uns als Glieder Jesu Christi das übernatürliche Leben in unserer Seele Tag für Tag gestalten läßt. Das gilt ganz besonders für Melanie: „Es gibt kein Wort im Magnificat, das nicht genauestens auf diese Hirtin passen würde wie ein Kleidungsstück, das ihr auf Maß geschneidert ist. Man muß lesen, was sie selbst geschrieben hat, ich sage nicht, um es zu verstehen, sondern um in das absolut unaussprechliche Geheimnis der Durchdringung dieser unbekannten, kaum existierenden Bettlerin einzudringen in der blendenden Mutter des Sohnes Gottes. An dieser Stelle ist es schwierig, sie zu unterscheiden, zu wissen, wer spricht und wer schweigt, wer weint und wer die Tränen beobachtet, wer droht und wer bittet. Sie betrachtete sich nur als wirbelndes Schmerzenslicht.“
Die Seherin von La Salette wird eins mit dem, was sie sieht – oder besser gesagt, mit der, die sie sieht. Der Himmel hat dieses Mädchen auserwählt, weil es allein fähig war zu dieser außerordentlichen Seelensymbiose. Melanie hat sich die Botschaft ihrer himmlischen Mutter ganz zu eigen und nach dem Willen Gottes zur ihrer Lebensaufgabe gemacht. Deswegen wird sie sich niemals durch noch so viele Intrigen, Verfolgungen und Verleumdungen mundtot machen lassen. Immer wird sie zu ihrer himmlischen Sendung stehen.
Es ist einfach wahr, was Léon Bloy verspricht:
„Bewunderndes Staunen ist denen verheißen, die in Kenntnis des Geheimnisses von Melanie den erhalten gebliebenen Bericht der Jahre ihrer Kindheit lesen wollen.
Dazu ist jedoch große Einfalt des Herzens erforderlich. Es hat niemals ein Geschöpf gegeben, das einfacher war als Melanie. Ecce ancilla... [Siehe, ich bin die Magd… Lc 1, 38)]. Sie ist einfach wie Maria in Nazareth, wenn ein solcher Vergleich erlaubt ist. Sie atmet Gott und die Mutter Gottes mit der Naivität einer der unbeschreiblich reinen und anmutigen Pflanzungen des Paradieses, von dem sie selbst die Gärtnerin gewesen zu sein scheint. Sie lebt auf der Erde, als ob nicht dort wäre, und ihre so oft außerordentliche Hellsichtigkeit irdischer Dinge ist Folge ihrer Schau der ewigen. In weit höherem Sinne mit prophetischer Gabe begabt, gibt es für sie weder Abfolge noch Verkettung von Vorstellungen. Begriffe von Raum und Zeit sind für sie unnütz. Sie braucht nicht zu verstehen. Sie weiß mit eingegossenem Wissen, ursprünglich, wie bei Adam und Eva vor ihrer Sünde.
Es ist wahr, daß sie, wie jeder von uns, unter dem Gesetz der Erbsünde steht, aber mit dem Effekt einer außerordentlichen Umkehr, fällt sie seit dem ersten Tage in die Höhe...
Um in ihr die Hände und Füße Adams zu heilen, hat Gott diese seit ihrer frühesten Kindheit durchbohrt; damit keine anderen Geschöpfe sich in ihrem Herz einniste, hat Gott ihr die Lanze des Kalvarienberges eingepflanzt; um ihren Kopf zu bewahren, bedeckte er ihr Haupt mit der schrecklichen Krone des Prätoriums. Schon bevor sie sprechen konnte, vermochte sie die Menschen nur durch das Blut Jesu Christi hindurch erblicken.
So war das bis zu ihrem letzten Tage. Sie lebte so sehr in der Nähe Gottes, und die Mutter Gottes hatte ihr einen Platz ganz in der Nähe ihres Thrones geschenkt, sie war von uns allen so weit entfernt, daß es ihr nicht möglich war, uns emporzuheben; es wäre höchste Pflichtverletzung in ihren Augen, gerade die Nicht-Liebe erhöhen zu sollen.
Unfähig anders zu existieren als im Absoluten, einquartiert und verschanzt in der Absolutheit des Absoluten, was hätte sie auch verstehen können von der Kasuistik der Frömmigkeit der Modernen? Was hätte für sie eine Stufenleiter des Guten oder des Bösen bedeuten können? Sie betrachtete alle Menschen, ob Christen oder nicht, wie sie abgeflacht wie Regenwürmer kriechen, und wie Gottes Gebote mißachtet werden. Sie beobachtete vor allem die Priester — und mit welch fürchterlicher Genauigkeit:
,Ich verstand‘, sagte sie, ‚das im Klerus die Reinheit der Gesinnung die Wächterin der Reinheit des Leibes ist, daß es keine Keuschheit des Leibes gibt in Abwesenheit einer andauernden Reinheit des Geistes, und daß der Geist und die Sinne ihre Reinheit nicht bewahren, wenn sie nicht mit Jesus Christus GEKREUZIGT sind‘ — ‚Hilfe mir, meine gefallenen Diener zu unterstützen‘, sagte ihr Jesus nach einer Schreckensvision.
Das für sie enorme Leiden, das geistige Elend und das Ungenügen der Klerus zu kennen, liegt auf dem Grund all dessen, was sie denkt, all dessen, was sie sagt, all dessen, was sie schreibt. Ein inneres Schluchzen ohne Unterbrechung. Man lese die Seiten in ‚Das gute Jahr‘, wo sie mit so viel Freude beschreibt, daß ihre Lehrer sie aus Mangel an Nahrung sterben ließen, indem sie ihr nie etwas zu essen gaben: ‚Es ist Gottes Wille, daß ich zur Sühne leide, vor Hunger oder Durst, für den Luxus und der Liebe zum Reichtum einer großen Zahl von Angehörigen des Klerus‘“ (Ebd. S. 23f).
Der Heldenmut der Heiligen spornt unsere Herzen zu neuem Eifer an. Werden wir also nicht müde in dieser trostlosen Zeit, lassen wir uns von der Aussichtslosigkeit der Situation nicht die Hoffnung rauben, daß Gott dennoch über allen irdischen Geschehnissen steht. Unser göttlicher Erlöser wird uns zwar das Leiden nicht ersparen (können), aber ER wird uns dafür mit Seiner Liebe alles hundertfach vergelten, was wir für IHN wagen.
Ertragen wir vor allem die sich steigernde Einsamkeit mit Geduld, denn:
„Heutzutage gibt es keine Leidenden mehr — außer vielleicht einige zerstreute armen Seelen, die von der Welt ausgespien sind, die nur noch das Martyrium erwarten; ein bedeutungslose Herde von evangelischen und einfachen Seelen, auf die der Schatten des hl. Petrus gefallen ist und die die gegenwärtige Kirche der Katakomben darstellen.
Für sie hat Melanie geschrieben, und für sie allein seien diese demütigen Seiten der Hirtin veröffentlicht, die die Masse verschmähen wird.
‚Ich will nicht mehr in die Schule gehen, weil dort zu viel Lärm gemacht wird. Ich habe Angst, daß meine Seele das hört‘, sagte dieses Kind, das der Schöpfer aller Welten unendlich über seinen Donner gesetzt hat“ (Ebd. S. 24).