In dieser schnellebigen Zeit ist jeder in der Gefahr, am Wesentlichen vorbeizugehen, weil er nur allzu schnell meint, gar keine Zeit dafür zu haben. Für die modernen „Katholiken“ etwa ist die Weihnachtszeit meist schon mit Neujahr wieder zuende. Mancher schafft es womöglich noch bis zum Dreikönigsfest, einen Gedanken an das Christkind in Erinnerung zu halten, aber dann ist sicher alles vorbei, denn es ist ja inzwischen schon Fasching geworden. Wie gut, daß nach der alten Ordnung die Weihnachtszeit bis zum Fest Maria Lichtmeß ausgreift und uns somit längere Zeit gewährt, dem Weihnachtsgeheimnis auf den Grund zu gehen. Darum wollen wir auch die Gedanken vom Dezember (Göttlicher Gast) nochmals aufgreifen und fortführen, ist ja das Geheimnis der Menschwerdung Gottes ganz und gar grundlegend für unseren christkatholischen Glauben.
Das göttliche Geheimnis erfordert ein offenes und bereites Herz, denn nur diesem kann es sich auch offenbaren. Die göttliche Wahrheit ist nicht allein für den Verstand, sie ist letztlich für das Herz bestimmt, weswegen man ihr nicht distanziert und mit kühlem Intellekt begegnen kann, wie etwa ein Mathematiker einer mathematischen Aufgabe. Dementsprechend muß man die göttliche Wahrheit nicht nur einfach verstehen, sondern man muß sie lieben und leben. Wobei man sogar sagen kann, daß nur derjenige, der sie auch liebt, sie auch recht zu leben versteht. In der Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften von Staudenmaier aus dem Jahre 1834 ist zu lesen:
„Wer wahrhaft Theologe (Gottesgelehrter) sein will, muß das Göttliche schon ergriffen haben, er muß es lieben und leben. Wie es kein wahres Leben gibt ohne Erkenntnis, so gibt es auch keine wahre Erkenntnis ohne Leben. Erkennen und Leben bedingen sich gegenseitig; die klar erkannte Wahrheit erregt mächtig Gemüt und Wille; aber das Erkennen wird weder klar, noch fest, noch sicher, wenn es uns nicht zum Leben und zur Tat wird. Die größten Meister des christlichen Erkennens waren stets auch große sittliche Charaktere. Was wir lieben, das leben wir; was wir aber lieben, das offenbart uns durch die Liebe sein Innerstes; was wir daher lieben und leben, das kommt in unserem Bewußtsein zu unendlicher Klarheit. Der also, dessen einzige und höchste Liebe das Göttliche ist, wird auch das Göttliche verstehen; der Gleichgültigkeit oder gar dem Hasse bleibt es ewig fremd... Wir müssen zurückkehren zur Einfachheit der Idee und des Lebens, in der die Unschuld und die Lauterkeit des Kindessinnes wohnt, der das Göttliche am reinsten zu schauen vermag. Deshalb hat die kindliche Unbefangenheit für den Theologen eine so große Bedeutung; und Christus setzt sie selbst als das an, nach dem seine Jünger als nach etwas Größerem, als sie schon hatten, zu streben hätten. Es ist sein eigener Geist, sein eigener Sinn, was der Erlöser an den Kindern liebt und will und segnet... Das Erste im Erkennen des Übersinnlichen ist überall die Kontemplation (das betrachtende Anschauen), nicht die Reflexion (das vernünftige Erwägen), die erst nachfolgt... Johannes, der Jünger, den der Herr liebhatte, er hat am reinsten und wahrsten und tiefsten das Wort vom ewigen WORTE verstanden. Wer daher in die Theologie eintreten will, diesen Sinn aber verloren hat, muß ihn durch geistige Wiedergeburt zuvor wiedergewonnen haben.“
Wo könnte man diesen lauteren Kindessinn, welcher die Voraussetzung für ein echtes Glaubensverständnis ist, besser erlernen als an der hl. Krippe? Dem göttlichen Kind sollte doch jeder in kindlicher Unbefangenheit begegnen können, da sich die erschreckende göttliche Majestät in so unbegreiflicher Weise verbirgt, um für uns anziehend zu erscheinen. Die Begegnung mit dem Kind in der Krippe ist darum immer auch ein Selbsttest dafür, ob man noch kindlich glauben kann oder schon von der modernen Zweifelssucht angekränkelt ist, die den eigenen Verstand zum Maß aller Dinge macht und deswegen am Ende an jeglicher Erkenntnismöglichkeit der Wahrheit ver-zweifelt.
Jesus, die Quelle aller Heiligkeit
Lassen wir uns nochmals von Pierre de Bérulle in die Wunderwelt des Stalles von Bethlehem entführen, seine Worte besitzen ja, wie wir inzwischen wissen, eine eigene Kraft, uns zu verzaubern.
„‘O neue und unerhörte Mischung! Wunderbare Zubereitung! Der Seiende ist im Werden; der Ungeschaffene wird geschaffen, der alle Bereichernde wird arm, der die Fülle ist, ist erschöpft, damit wir seiner Fülle teilhaft werden!‘ (Gregor von Nazianz). Daß der Mensch, der nur ein vergehender Hauch ist, nunmehr Gott wird, und daß dieser Gott-Mensch durch alle Stufen, alle Zustände des Menschen hindurchgeht, sie adelnd, heiligend, ja vergöttlichend! Und durch diese neue Einheit entsteht nicht nur ein neues Wesen, ein neuer Mensch, ein neuer Adam, sondern auch eine neue Weltordnung, ein neuer Zustand des Alls. Gott stellte bei der Schöpfung die Ordnung der Natur auf und gleichzeitig setzte er die Ordnung der Gnade auf Erden und die der Glorie im Himmel fest. Drei verschiedene, wunderbare Ordnungen, an denen er den Menschen Anteil geben wollte. Aber nun entsteht eine neue Ordnung in der Welt, ein neuer Zustand des Alls, weit erhabener über den Stand der Glorie als der des Himmels über der Erde, als der Stand der Glorie erhaben ist über der Ordnung der Gnade, und diese über der Natur, und diese über dem Nichts. Und diese Einheit göttlicher Subsistenz führt die Welt in eine so erhabene und mächtige und einmalige Einheit ein, daß sie alle Dinge in sich faßt und durch alle übrigen Ordnungen hindurchwirkt. Denn alles, was aus Gott durch Schöpfung hervorging und durch Heiligung in ihn zurückkehrt, ist nunmehr auf diese letzte Ordnung hin ausgerichtet: auf das höchste Mysterium, die Inkarnation als Quell und Prinzip aller Dinge, als Punkt, bei dem alles endet, als Ziel, worauf alles sich beziehen muß, da es Gott selbst gefallen hat, hier Ursprung zu nehmen, sich hier einzuschließen, hier zu enden und sich daraufhin zu beziehen.“
Auf den Flügeln des göttlichen Glaubens schwingt sich der Theologe, der wahre Gottesgelehrte und Gottbegeisterte, empor in die Wunderwelt Gottes – über die Welt der Natur hinweg ins Reich der Gnade und der Glorie des Himmels. Drei verschiedene, wunderbare Ordnungen, an denen er den Menschen Anteil geben wollte. Leider haben die Menschen nicht genügend Glaubensfestigkeit und Gottvertrauen bewiesen, weshalb sie seit der Erbsünde aus dem zweiten und dritten Reich herausfielen und ein gottfernes Leben fristen mußten, das allein durch die gottgegebene Verheißung eines kommenden Erlösers erträglich war. Erst der Gott-Mensch war wieder fähig, durch alle Stufen, alle Zustände des Menschen aufs Neue hindurchzugehen, sie adelnd, heiligend, ja vergöttlichend! Wie aufregend erscheint auf diesem Hintergrund das Leben Jesu Christi, wie bedeutsam wird jede Seiner Handlungen, auch der kleinsten. Aber Jesus Christus durchschreitet nicht einfach nur unsere Welt, indem er 33 Jahre darin lebt, nun entsteht eine neue Ordnung in der Welt, ein neuer Zustand des Alls, weit erhabener über den Stand der Glorie als der des Himmels über der Erde, als der Stand der Glorie erhaben ist über der Ordnung der Gnade, und diese über der Natur, und diese über dem Nichts.
Sobald das göttliche Kind in der Krippe liegt, ist die neugeschaffene Gnadenordnung in unserer Welt jedem Menschen, der Augen hat zu sehen, sichtbar geworden, denn in diesem Kind, im menschgewordenen Gottessohn, ist unsere Sündenwelt wieder mit der Welt der Gnade und Glorie innigst und unlösbar verbunden. Ein neuer Anfang ist gemacht, die Zeit der Erlösung beginnt und die Gnade erobert mehr und mehr unsere Menschenwelt, indem sie die Sünde zurückdrängt. Denn alles, was aus Gott durch Schöpfung hervorging und durch Heiligung in ihn zurückkehrt, ist nunmehr auf diese letzte Ordnung hin ausgerichtet: auf das höchste Mysterium, die Inkarnation als Quell und Prinzip aller Dinge, als Punkt, bei dem alles endet, als Ziel, worauf alles sich beziehen muß, da es Gott selbst gefallen hat, hier Ursprung zu nehmen, sich hier einzuschließen, hier zu enden und sich daraufhin zu beziehen.
Der Menschensohn, ein bloßer Mensch?
Der göttliche Glaube offenbart uns die verborgenen Ratschlüsse Gottes und läßt uns das höchste Geheimnis erkennen, das Gott in unserer Welt gewirkt hat und wirken kann, die Menschwerdung Gottes nämlich, die Inkarnation als Quell und Prinzip aller Dinge, als Punkt, bei dem alles endet, als Ziel, worauf alles sich beziehen muß. Von diesem Geheimnis waren die wahren Christen aller Zeiten fasziniert und durchdrungen. Voller Dankbarkeit gegen die unbegreifliche Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes haben sie das neue Leben der Gnade angenommen und sich mit höchstem Ernst bemüht, sich Gott ganz zu schenken, indem sie Seine hl. Gebote inmitten des Heidentums achteten und beharrlich nach Heiligkeit strebten. Davon ist leider heutzutage kaum noch etwas übrig geblieben. Der übernatürliche Glaubensgeist ist in den letzten 150 Jahren fast vollkommen erloschen, weshalb auch die weltverändernde Kraft des Glaubens erlahmte. Im Zuge der modernistischen Irrlehren hat man letztlich aus dem Gott-Menschen einen Menschen gemacht, der vielleicht noch durch manche seiner Taten aus der Menge herausragt und ein besonderes Vorbild für uns sein kann, aber damit durchaus nichts Einmaliges, Einzigartiges, Göttlichgeheimnisvolles mehr ist und sein muß. Von diesem Einmaligen, Einzigartigen, Göttlichgeheimnisvollen bleiben im Modernismus allein ein paar wenige Worthülsen übrig – mit denen jedoch die modernen „Katholiken“ offensichtlich zufrieden sind. Was für ein armseliger Rest ist das, wenn man das gottgeschenkte Geheimnis betrachtet, Jesus Christus, das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende allen Seins. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren eine Vielzahl von Katholiken von einem gefährlichen Rationalismus und Naturalismus befallen, so daß M. J. Scheeben im Jahre 1871 in seinem Aufsatz „Die theologische und praktische Bedeutung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes, besonders in seiner Beziehung auf die heutige Zeit“, schreibt:
„Es ist höchst charakteristisch, daß dieselben oben erwähnten theologischen Schulen in Deutschland, welche die Fülle des übernatürlichen Einflusses Christi auf seine Mutter und seinen Stellvertreter geleugnet, auch die Fülle der Gnade der Wahrheit, die aus der Gottheit Christi für seine eigene menschliche Natur sich ergab, mehr oder minder geleugnet oder beeinträchtigt, und die übernatürliche Vollkommenheit dieser heiligen Menschheit nicht nach der göttlichen Macht und Würde ihres Inhabers, sondern nach dem Maße der natürlichen Vollkommenheit und Entwicklung gewöhnlicher Menschen beurteilt haben – man sprach von einem allmählich sich entwickelnden Messias- und Gottesbewußtsein, einer Freiheitsprobe, einer Bewährung durch die Versuchungen u.s.w., woraus sich dann ergab, daß die Gottheit Christi nicht bloß für andere Menschen unter dem Schleier seiner menschlichen Natur verhüllt war, sondern der Sohn Gottes sogar für sich selbst ein Deus absconditus (= ein verborgener Gott) blieb. Solche Anschauungen verraten eine weitgreifende Verkennung der Gottheit Christi und können nur dazu beitragen, ihren Glanz zu verdunkeln. Gottlob, daß die Kirche, vom Heiligen Geiste geleitet, die Gottheit Christi und ihre Bedeutung anders versteht, und solchen naturalistischen Auffassungen gegenüber, die das Übernatürliche möglichst weit von der Natur fernhalten wollen, in unseren beiden Dogmen die eminentesten und glänzendsten Ausstrahlungen der Sonne der Gnade und Wahrheit und damit die göttliche Würde und Kraft dieser Sonne selbst in ihr volles Licht gestellt hat.“
Die hier beschriebenen irrigen Ansichten über die Gottheit Christi sind inzwischen zum Allgemeingut der modernistischen Theologen und der modernen Menschenmachwerkskirche geworden. Unter der Worthülse „Sohn Gottes“ gähnt eine unheimliche Leere, deren Folge endloses Theologengeschwätz ist. Denken wir etwa an das Jesusbuch Josephs Ratzingers. Was steckt letztlich hinter diesen irrigen Ansichten? M. J. Scheeben zitiert in seinem Artikel aus der Jesuitenzeitschrift „Civilta Cattolica“ (Die katholische Gesellschaft): „Der große Irrtum unserer Zeit ist der offene oder versteckte Rationalismus. Der Rationalismus ist die Vergötterung der Vernunft und konsequenterweise des Menschen. In Deutschland hat er zur Selbstvergötterung, zur Anbetung des eigenen Ich geführt und zum Pantheismus, welcher nur eine Form der Vergötterung des Menschen ist. Die unvermeidliche Konsequenz dieses Systems ist die Leugnung des Sündenfalles der ersten Menschen und der Fortpflanzung der Erbsünde mit ihren Folgen. Der Rationalismus behauptet, der Mensch sei vollkommen, er genüge sich selbst; er brauche nur seine natürlichen Eigenschaften zu entwickeln, um glücklich zu sein; er finde in sich selbst sein Glück. Das Übel, die Leiden und Mühseligkeiten, denen er begegnet, schreibt er nicht den Fehlern und Schwächen der menschlichen Natur, sondern den religiösen und bürgerlichen Einrichtungen, welche er abschaffen, und an deren Stelle er aus seinem Schoß entsprungene Institutionen setzen will, und zwar mittels neuer Gesetze, die er als eine Quelle des Fortschritts und des Glücks in der Zukunft anpreist.“
Nur wenn wir diese Ausführung ruhig durchdenken und die weitere Entwicklung der Gesellschaft daraus deuten, verstehen wir unsere heutige Situation – sowohl in der Kirche als auch im Staat. Der Mensch, der den Erlöser leugnet, hat begonnen, sich selbst zu erlösen und eine neue, vermeintlich bessere Welt zu erbauen. Trotz zweier Weltkriege ist er nicht zur Einsicht gelangt, daß dieses Unternehmen Wahnsinn ist. Im Gegenteil, er baut fleißig an dieser neuen Weltordnung weiter, einer Weltordnung, in der Jesus Christus, der einzige Erlöser des Menschengeschlechtes, keinerlei Platz mehr hat. In der Jesuitenzeitschrift „Civilta Cattolica“ heißt es weiter: „Das Dogma von der Erbsünde zählt zu den unbestreitbaren Wahrheiten des Glaubens schon seit den ersten Jahrhunderten der Kirche. Demnach ist es passender, indirekt eine positive Wahrheit aufzustellen, welche dieses alte Dogma bestätigt und sozusagen erneuert; und diese positive Wahrheit ist keine andere, als die 'unbefleckte Empfängnis Mariä', da der Glaube an sie alle Wahrheiten umfaßt, welche den modernen Irrtümern entgegenstehen. Diese Wahrheit hat den Vorteil, daß sie nicht rein spekulativ ist und nur den Geist aufklärt, wie dies der Fall sein würde bei einer feierlichen Beurteilung der umlaufenden Irrtümer; sie wendet sich auch ans Herz, indem sie anknüpft an den Gegenstand eines den Gläubigen teuren Kultes. Dadurch, daß die 'unbefleckte Empfängnis' als Dogma des Glaubens verkündet wird, wird bestätigt: daß der Mensch gefallen ist, daß die Erbsünde auf alle Kinder Adams übergeht, daß Jesus Christus für den ersten Sündenfall des ersten Menschen genugtun mußte, daß die Gnade zur Sühne der Sünde notwendig ist, daß der Mensch sein Glück nicht in sich selbst findet, daß wir hier auf Erden in der Verbannung leben, daß wir unsere Sünden sühnen müssen durch Aneignung der Verdienste des Erlösers, wenn wir anders zur Seligkeit gelangen wollen.“
Das Kind in der Krippe ist unser Erlöser. Diese Tatsache wird uns besonders durch seine heiligste Mutter vor Augen gestellt, denn die Immaculata ist die Ersterlöste und als solche zugleich die vollendetste Frucht der Erlösung. Aber ihr Sohn wird all die Gnaden erst noch verdienen müssen, die Seiner heiligsten Mutter im Voraus geschenkt wurden. Deswegen ist Sein Leben von Anfang an ein Opferleben, in das auch Seine Mutter und der hl. Josef von Anfang an einbezogen waren – und schließlich jeder einzelne Mensch. Durch die „unbefleckte Empfängnis“ wird somit bestätigt: „daß der Mensch gefallen ist, daß die Erbsünde auf alle Kinder Adams übergeht, daß Jesus Christus für den ersten Sündenfall des ersten Menschen genugtun mußte, daß die Gnade zur Sühne der Sünde notwendig ist, daß der Mensch sein Glück nicht in sich selbst findet, daß wir hier auf Erden in der Verbannung leben, daß wir unsere Sünden sühnen müssen durch Aneignung der Verdienste des Erlösers, wenn wir anders zur Seligkeit gelangen wollen“.
Die neue Schöpfung in Jesus Christus
Kommen wir nun nochmals auf Pierre de Bérulle zurück und lassen wir ihn seinen Gedanken zuende führen. „So geht von dieser neuen Ordnung eine Änderung und ein neues Verhalten der göttlichen Vorsehung aus. Denn nicht mehr der Himmel herrscht jetzt über die Erde, sondern die Erde herrscht über den Himmel, und der Erste Beweger ist nicht mehr in den Himmeln, sondern auf der Erde, seitdem Gott sich auf der Erde inkarniert hat. Der menschgewordene Gott ist fortan der Erste Beweger, der erste Himmel, der die anderen bewegt; sogar Ordnung, Zustand und Lage der Hauptteile der Welt sind umgeworfen durch die von Gott in diesem Mysterium vorgenommene Umwerfung seiner selbst. Jetzt ist der Himmel nicht mehr oberhalb der Erde, sondern eine Erde ist oberhalb aller Himmel, nämlich die Erde unserer Menschheit, die in Jesus Christus lebt. Sie subsistiert im ewigen Wort, ist ein neuer Himmel, unbewegt in sich selbst, aber alles bewegend, ein neues Zentrum des Alls, auf das alle geistige und körperliche Kreatur zustrebt, das alles in seine Einheit hinein versammelt, alles durch seine Kraft an sich zieht, ein Zentrum, das nicht in der Mitte der Welt, sondern höher als die Welt steht. Und nicht mehr der Engel beherrscht die Menschen, sondern ein Mensch beherrscht alle Menschen und alle Engel. Sie alle, und selbst der oberste der Engel, nehmen ihre Weisungen auf Erden von diesem Menschen entgegen, einem Kind von drei Jahren, drei Monaten, drei Tagen. Ja, die Engel lernen sogar von Menschen, die diesem Gottmenschen anhängen und dienen, von armen Sündern, von törichten und unwissenden Menschen, nur weil diese ihm nachfolgen und seine Jünger sind; die Engel, sage ich, lernen demütig auf Erden von ihnen die Geheimnisse der göttlichen Allmacht, von der niedrigen, geheimnisvollen Ökonomie der Menschwerdung. Dinge, die sie im Himmel und im Licht der Glorie in ihrem ganzen Umfang und in all ihren Wundern nicht kennen. Das hat den Apostel, da er vom gleichen Mysterium sprach, zu sagen veranlaßt, daß ihm der Auftrag zufiele, die Herrlichkeit und den unfaßlichen Reichtum Jesu Christi zu verkünden und das seit Äonen in Gott verborgene Mysterium kundzutun, damit die vielfältige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten offenbar werde durch die Kirche (vgl. Eph 3,3.9f).“
Das Kind in der Krippe ist wahrer Gott und als solcher steht es über allen Dingen dieser Welt, ja es ist diesen als Erster Beweger innerlich gegenwärtig, denn ohne Gott könnten sie weder sein noch tätig sein. Mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes verändert sich unsere Welt grundlegend, wenn auch unsichtbar. Unsere Welt wird nämlich in der menschlichen Natur Jesu hinaufgehoben bis zur ewigen Gottheit: Sie subsistiert im ewigen Wort, ist ein neuer Himmel, unbewegt in sich selbst, aber alles bewegend, ein neues Zentrum des Alls, auf das alle geistige und körperliche Kreatur zustrebt, das alles in seine Einheit hinein versammelt, alles durch seine Kraft an sich zieht, ein Zentrum, das nicht in der Mitte der Welt, sondern höher als die Welt steht.
Diese neue Wirklichkeit macht uns allein unser hl. Glaube ansichtig. Mit seiner Hilfe durchschauen wir die menschliche Natur dieses Kindes in der Krippe und nehmen seine verborgene göttliche Natur wahr, die in der Einheit der zweiten göttlichen Person der eine Gottmensch Jesus Christus ist. In IHM eingeschlossen ist unser aller ewiges Heil. Das ganze Christentum ist letztlich Jesus Christus, der Gottmensch: Und nicht mehr der Engel beherrscht die Menschen, sondern ein Mensch beherrscht alle Menschen und alle Engel. Sie alle, und selbst der oberste der Engel, nehmen ihre Weisungen auf Erden von diesem Menschen entgegen, einem Kind von drei Jahren, drei Monaten, drei Tagen.
Man muß vor dem Kind in der Krippe niederknien, muß es lange schweigend betrachten und seine Kleinheit, Hilflosigkeit, Verletzlichkeit und seine völlige Angewiesenheit auf die Liebe seiner Mutter tief erwägen, um sodann vollkommen überrascht und außer sich zu erkennen: Ihm gehorchen alle Engel des Himmels und jedes Ding in unserer Welt, von den größten Sternen bis hin zum kleinsten Sandkorn. Nur mit einem Wink Seines Willens bewegt ER die ganze Welt! Das hat den Apostel, da er vom gleichen Mysterium sprach, zu sagen veranlaßt, daß ihm der Auftrag zufiele, die Herrlichkeit und den unfaßlichen Reichtum Jesu Christi zu verkünden und das seit Äonen in Gott verborgene Mysterium kundzutun, damit die vielfältige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten offenbar werde durch die Kirche (vgl. Eph 3,3.9f).
Nach dem hl. Paulus ist also die eigentliche, wichtigste, hauptsächliche Aufgabe der katholischen Kirche, das seit Äonen in Gott verborgene Mysterium kundzutun, nämlich den Gottmenschen Jesus Christus, sodaß selbst den Mächten und Gewalten die vielfältige Weisheit Gottes offenbar werde durch die Kirche. Was für ein aufregender Gedanke! SEIN Kommen besitzt notwendigerweise eine weltbewegende und weltverwandelnde Kraft, denn GOTT ist immer allmächtig – auch wenn ER als Kind in einer Krippe liegt. Wer darum wirklich an IHN glaubt und aus Seiner Gnade lebt, der wird selbst durch IHN verwandelt werden, denn: „Wer in Christus ist, ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2 Kor 5, 17).
Schaut man unter dieser Voraussetzung auf das moderne Europa, so muß man feststellen, das Christentum ist alt geworden und das Bekenntnis Jesu Christi lau. Wer ist noch fasziniert von den göttlichen Möglichkeiten, welche uns durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes eröffnet wurden? Wir nennen diese göttlichen Möglichkeiten Heiligkeit. In Christus Jesus unserem Herrn wurden uns wunderbare, schwindelerregende Möglichkeiten, unsere Leben verwandeln zu lassen und zu verwandeln, wiedergeschenkt. Es ist heute jedem leicht einsichtig, nur wenn wir die übermenschliche, göttliche Größe und Lebensfülle des göttlichen Wortes glaubend und anbetend erfaßt haben, werden wir auch sein „Kommen“ in unsere Welt als das gewaltigste Ereignis begreifen können, das jemals in unserer Welt geschehen ist, sodaß dieses Ereignis uns auch zur entsprechenden Tat bewegt. Wie unfaßlich ist letztlich SEIN Kommen und wie unermeßlich groß SEIN Geheimnis. Die liturgischen Texte der hl. Weihnacht gebrauchen mit Vorliebe das schlichte „venit“, „Er kam“ als Antwort auf die Menschenbitte des „veni“, „komm“ der Adventszeit. Dieses schlichte „Er kam“ entspricht letztlich auch allein dem äußerlich so stillen Kommen des Herrn. Dieses „Kommen“ heißt für Ihn natürlich nicht den Ort wechseln, sondern: vor unseren Augen sichtbar werden, während Er vorher unsichtbar war. „Nicht durch eine bloße örtliche Veränderung kam Gottes Weisheit zu uns, sondern in der Weise, daß sie im sterblichen Fleisch den sterblichen Menschen erschien. Sie kam dorthin, wo sie schon war, weil sie ja in dieser Welt war und die Welt durch sie gemacht worden ist“ (Hl. Augustinus).
Warum ist Er denn eigentlich gekommen? Er, der Reiche ist dem Armen nachgegangen, der Arzt kommt zu dem Kranken — denn wir waren zu schwach, um zu Ihm zu gehen: „... unser Blick war an das Dunkel gewohnt, Er aber wohnt im unnahbaren Licht; wir lagen wie jener Gelähmte auf unserem Elendsbett, und da konnten wir nicht hinaufreichen bis zu seiner Höhe. Deshalb ist der gütige Helfer und Arzt unserer Seelen von seinem Thron herabgestiegen zu uns und hat das Leuchten seiner Herrlichkeit unseren schwachen Augen angepaßt“ (Hl. Bernhard).
Oder wie der hl. Anselm schreibt:
„Herr, als wir noch deine Feinde waren und der alte Tod über alles Fleisch seine Zwingherrschaft ausübte —, war doch das ganze Geschlecht Adams ihm kraft der Erbschuld verfallen —, da warst du eingedenk deiner überreichen Barmherzigkeit. Du schautest von deinem Hochsitze herab in dieses Tal der Tränen und des Jammers. Herr, du sahst an die Drangsal deines Volkes, und im Inneren gerührt von zarter Liebe, dachtest du wieder an uns mit Gedanken des Friedens und der Erlösung. Obschon du warst der Sohn Gottes, wahrer Gott, Gott dem Vater und dem Heiligen Geiste gleich ewig und wesensgleich, wohnend in unzugänglichem Lichte, das All tragend durch das Wort deiner Kraft, hast du es doch nicht verschmäht, Erhabener, dich zu neigen in den Kerker unserer Sterblichkeit. Dort wolltest du kosten und austrinken unser Elend, um uns wieder einzusetzen in die Herrlichkeit.
Es war deiner Minne zu wenig, einen Cherub, einen Seraph oder einen aus den Engeln zu bestimmen, daß er das Werk unserer Rettung vollzöge. Du selbst hieltest es nicht unter deiner Würde, zu uns zu kommen im Auftrage des Vaters, dessen übergroße Minne wir in dir erfahren haben.
Du kamst, sage ich — doch hast du deinen Platz nicht geändert —, und schenktest uns deine Gegenwart im Fleische. Du stiegst herab vom königlichen Throne deiner erhabenen Herrlichkeit — in die Maid, die sich selbst so klein und verächtlich vorkam, die sich als Erste gesiegelt hatte mit dem Gelübde jungfräulicher Keuschheit. In ihrem heiligen Schoße ließ die unaussprechliche Kraft des Heiligen Geistes dich empfangen und geboren werden in einer wahren menschlichen Natur. Doch dieses Geborenwerden tat weder der göttlichen Hoheit in dir Abbruch, noch verletzte es in der Mutter die jungfräuliche Unversehrtheit.
Arm geboren.
Welch liebenswerte, welch staunenswerte Herablassung! Du, unermeßlich herrlicher Gott, hast es nicht verschmäht, ein verachteter Wurm zu werden. Der du Herr bist über alle, wolltest erscheinen als Mitknecht deiner Knechte. Wenig dünkte es dich, unser Vater zu sein, du, Herr, würdigtest dich, auch unser Bruder zu werden. Und du, Herr des Alls, über jeden Mangel erhaben, schrecktest nicht davor zurück, gleich bei deiner Geburt zu verkosten die Härte der drückendsten Armut. Gab es doch, wie die Schrift uns erzählt, keinen Platz mehr in der Herberge für dich, als du geboren wurdest. Auch hattest du keine Wiege, die deine zarten Glieder aufnahm; sondern du wurdest in Windeln gehüllt und in die elende Krippe eines schmutzigen Stalles gelegt — und doch umspannst du den Erdball mit deiner Hand — von vernunftlosen Tieren borgte deine Mutter eine Krippe als Lagerstätte für dich.
So tröstet euch, tröstet euch, die ihr aufwachset in schmutzigen Lumpen der Armut — teilt doch Gott mit euch die Armut. Er ruht nicht auf molligem Pfühl eines Prunkbettes; man findet ihn nicht im Lande der Weichlinge. — Was rühmst du dich noch, Reicher? Du versinkst im Pfühl eines buntgestickten und weichlichen Bettes, während der König der Könige es vorzog, durch seine Liegestatt das Stroh der Armen zu ehren. Was verwünschest du ein hartes Lager, während doch das zarte Knäblein, dem alles in die Hand gegeben ist, rauhe Viehstreu vorzog deinen Seidendecken und deinen Daunenkissen!“ (aus: Betrachtungen des hl. Anselm, Theatinerverlag München, 1926).
Der wunderbare Austausch
Die ganze Weihnachtszeit stehen wir immer wieder staunend vor dem Wunder Gottes, der „durch seines Sohnes Erniedrigung die erniedrigte Welt wieder erhoben hat“, und wir beten die heilige Menschheit dessen an, der „Mensch geworden ist wie wir, damit wir der göttlichen Natur teilhaftig werden können“ (Hl. Leo d. Große). Herr, kann ich das wirklich glauben: Du, der Reiche, bist um meinetwillen arm geworden - damit ich durch Deine Armut reich würde? „Ich hatte nicht, was Dein eigenstes ist, und Du hattest nicht, was mein eigenstes ist. Darum nahmst Du an, was mein ist, um mir zu erwirken, was Dein ist“, so der hl. Ambrosius. Und die hl. Liturgie faßt in klassischer Kürze unseren wichtigsten Weihnachtswunsch in die Worte: „Gott, wir bitten dich in Demut: daß der menschgewordene Heiland der Welt, wie er für uns Urheber der Gotteskindschaft ist, ebenso auch Spender der Unsterblichkeit sei!“
Wenn die Kirchenväter über das Weihnachtsgeheimnis nachsinnen, beginnen sie über jenen wunderbaren Austausch zu jubeln, der in dem Kind in der Krippe sichtbar vor uns liegt. Die göttliche Allmacht hat eine wunderbare Einheit geschaffen — eine Einheit, einzig, einmalig im ganzen Weltgeschehen: der Mensch Jesus kann sagen: ich bin Gott — das göttliche WORT kann sprechen: ich bin Mensch.
Eine unbegreifliche Einheit, Nähe, Gegenwart. Nicht nur wie Gott in seiner Schöpfung und mit ihr „eins“ ist durch seine Allgegenwart ist ER in diesem Kind. Nicht nur wie Gott in seinem Tempel wohnt und ihn „erfüllt“, ihn durch seine besondere Nähe durchdringt und heiligt — nirgends hier ist ein Geschaffenes, trotz aller Nähe, in die Einheit einer göttlichen Person aufgenommen. Nur im Gottmenschen ist unsere Natur zur Würde des Gotteseins erhoben. Und so geschieht der wunderbarer Austausch: „Unsichtbar in seinem Bereich — ist er sichtbar geworden in unserem. Der Unbegreifliche — wollte sich von uns mit Händen greifen lassen. Vor aller Zeit und über aller Zeit — nahm er einen Anfang in der Zeit. Der HERR des Weltalls — hat seine Gottesmajestät verhüllt und Knechtsgestalt angenommen. Gott, von dem jedes Leid fern ist — wollte als Mensch leiden können. Der Unsterbliche — hat sich dem Gesetz des Todes unterworfen“ (Hl. Leo d. Große).
Wir müssen in diesen Weihnachtstagen besonders um die Gnade eines erleuchteten Glaubens bitten, eines Glaubens, der dieses Wunder festhält, um es mehr und mehr zu bestaunen. Hören wir nochmals den hl. Papst Leo d. Großen:
„Nimm die Kraft des WORTES weg — und keine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, der Jesus heißen soll; nimm die Wirklichkeit des Fleisches weg — und kein Kind liegt in Windeln in einer Krippe.
Nimm die Kraft des WORTES weg — und keine Weisen kommen, das Kind anzubeten, zu dem ihnen der Wunderstern den Weg gewiesen; nimm die Wirklichkeit des Fleisches weg — und kein Kind muß vor Herodes nach Ägypten in Sicherheit gebracht werden.
Nimm die Kraft des WORTES weg — und du hörst keine Stimme des Vaters; Das ist mein vielgeliebter Sohn; nimm die Wirklichkeit des Fleisches weg — und kein Johannes bezeugt: Seht das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegnimmt!
Nimm die Kraft des WORTES weg — und kein Kranker wird von ihm geheilt, kein Toter zum Leben erweckt; nimm die Wirklichkeit des Fleisches weg — und er braucht nicht Speise für seinen Hunger und keinen Schlaf für seine Müdigkeit.
Das ist eben unser katholischer Glaube, daß er beides umfaßt: der eine Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist für uns wie für Petrus Gott und Mensch.“
Kardinal Newman
Den Schluß unserer Erwägungen soll ein etwas längerer Text von Kardinal John Henry Newman bilden. Dieser Text war ursprünglich von Newman nur für sich selbst geschrieben und erst nach seinem Tod von den Vätern des Oratoriums in Birmingham herausgegeben worden. Man hört es aus diesen Zeilen Wort für Wort heraus, sie sind über Jahre hinweg gereift und die Frucht langer Betrachtungen. Uns führen sie von der Krippe weg mitten ins Leben dessen, welcher der Sohn des ewigen Vaters und der zugleich der Sohn Mariens ist.
„Die Liebe (sympathy) kann ein ewiges Gesetz genannt werden; denn sie ist Sinnbild der unaussprechlichen gegenseitigen Liebe der allerheiligsten Dreifaltigkeit oder besser, die Liebe der drei göttlichen Personen ist Urbild und Erfüllung aller menschlichen Liebe. Gott, die unendliche Einheit, war immer in drei Personen. Der Vater war von Ewigkeit her selig in seinem Sohne und seinem Geiste, und sie in Ihm; von Ewigkeit der Eine Gott und doch nicht einsam, genießt Er in der unbegreiflichen Vielheit seiner selbst und in der Wiederholung seiner Person eine unendlich vollkommene Seligkeit, die durch nichts Geschaffenes vermehrt werden kann. Satan allein ist unfruchtbar und einsam, eingeschlossen in sich selber, er und seine Anhänger.
Als der Sohn für uns auf die Erde kam und unser sterbliches Fleisch annahm, wollte Er nicht ohne menschliche Liebe leben. Dreißig Jahre lang verbrachte er mit Maria und Joseph und bildete auf Erden einen Schatten der himmlischen Dreieinigkeit. Oh, welch vollkommener, seelischer Einklang herrschte zwischen diesen Dreien! Jeder Blick des einen wurde von den anderen verstanden, besser, als wenn er in tausend Worten ausgesprochen wäre; und nicht nur verstanden, sondern auch aufgenommen, erwidert und erfüllt. Es war wie das vollkommene Zusammenstimmen dreier Instrumente, die alle klingen, wenn eines angeschlagen wird, und in vollkommener Harmonie denselben Ton geben. Gestört wurde die heilige Einheit zuerst durch den Tod Josephs. Es trat zwar keinerlei Mißton ein; denn bis zum letzten Augenblicke seines Lebens war er eins mit ihnen, und ihre Bande wurden nur noch fester und inniger, als der Verfall seiner Kräfte eintrat und die letzte Krankheit und der Tod kamen. Es war wie eine Melodie, die in bestimmten Akkorden ein Lied durchzieht und von allen in voller Harmonie gesungen wurde. Dieses Lied schloß bei Josephs Tode mit einem tieferen und schwächeren Ton; nicht als ob Joseph mit seiner Heiligkeit die Fülle der Harmonie vermehrt hätte; aber die Liebe schließt schon an sich eine Zahl ein, und als Joseph starb, legte sich über eine der drei Harfen stummes Schweigen.
Oh, welcher Augenblick der Liebe zwischen den drei Personen in der Stunde, da Joseph starb! Sie gebeugt über ihn und ihn haltend, er in rückhaltloser, tiefster Andacht sie anschauend und auf sie gestützt, in den Armen Gottes und der Gottesmutter! Wie eine Flamme zum letztenmal aufleuchtet und dann zusammensinkt, so dieser letzte, unaussprechliche Augenblick, in dem alle drei den Schmerz der Trennung vorausempfanden. Nur ein Moment, sehr verschieden durch Freude, nicht durch Trauer, kommt ihm an Stärke der Empfindung gleich: nämlich der Augenblick der Geburt Jesu. Jesu Geburt und Josephs Tod, zwei Momente von unaussprechlicher Lieblichkeit und Anmut, ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit! Der heilige Joseph geht ein in die Vorhölle, fern vom Angesicht Gottes, um zu warten, bis seine Zeit gekommen sei; Jesus geht predigen, leiden und sterben, und Maria soll Zeuge seiner Schmerzen sein und nach der Auferstehung weiter leben ohne Ihn, inmitten der Wirrnisse des Lebens und der Herzenshärte der Heiden.
Jesu Geburt und Josephs Tod, mit diesen beiden Momenten beginnt und endigt die lebendige, reine, vollkommene Liebe zwischen den drei Gliedern der irdischen Dreieinigkeit. Der Tod Josephs, der sie zerbrach, war der Aufbruch für anderes; denn mit ihm begann die Änderung, die sich auch auf den Sohn und die Mutter erstreckte. Dreißig Jahre lang hatten beide in völliger Verborgenheit vor der Welt füreinander gelebt. Nun sollte Jesus scheiden, um seine Predigt und sein Leiden zu beginnen, und als erste unvermeidliche Probe eigener Wahl beraubte Er sich selbst der freudevollen Gemeinschaft der Herzen, die zwischen Ihm und seiner heiligen Mutter vom Augenblick der Empfängnis an bestand und deren Urbild Er eine ganze Ewigkeit hindurch mit dem Vater und dem Heiligen Geiste besessen hatte.
O meine Seele, du darfst diese Einheit der drei Herzen betrachten und selber Anteil haben an ihrer Liebe durch den Glauben, wenn auch nicht durch Schauen. O mein Gott, ich glaube und ich weiß, daß eine Gemeinschaft himmlischer Dinge damals auf Erden begonnen und seither nie mehr aufgehört hat. Es ist meine Pflicht und meine Freude, darin einzutreten; es ist meine Pflicht und meine Freude, ein Akkord in dieser wunderbaren Musik zu sein, die in dem Hause von Nazareth zu erklingen begonnen hat. Gib mir Deine Gnade, die allein mich diese Harmonie vernehmen und begreifen läßt, auf daß sie in mir nachklinge. Laß meine Seele mit Jesus, Maria und Joseph atmen; laß mich in Verborgenheit mit ihnen leben, fern von der Welt und ihren Gedanken. Laß mich auf sie schauen in Freud und Leid und leben und sterben in ihrer süßen Liebe.
Der letzte Tag der irdischen Gemeinschaft zwischen Jesus und Maria war der der Hochzeit zu Kana. Damals wurde schon die beglückende Innigkeit in etwa gestört, weil sie nicht mehr allein füreinander leben konnten; mit dem Schritt in die Öffentlichkeit begannen sie, ihren Platz in der neuen Ordnung der Dinge einzunehmen, die sich nun vor ihnen auftat. Jesus offenbarte seine Herrlichkeit durch sein erstes Wunder und auch die Herrlichkeit seiner Mutter, indem Er es auf ihre Bitte hin wirkte. Er ehrte sie noch besonders, indem Er auf ihr Wort die Ordnung seiner Pläne änderte und, obwohl die Zeit seiner Wunder noch nicht gekommen war, auf ihre Bitte hin das erste gewissermaßen vorwegnahm. Jedoch mit Erfüllung ihres Wunsches nahm Er Abschied von der Mutter in den Worten: »Frau, was ist zwischen Mir und dir?« So ging Er segnend, aber unwiderruflich von ihr und verließ einsam und ohne Hilfe sein Paradies. In der Tat, der wahre Hohepriester der Welt mußte, um seine Mission an dem Menschengeschlecht zu erfüllen, frei von menschlichen Banden und von der Anhänglichkeit an Fleisch und Blut sein. Ein Grund für sein langes Zusammensein mit der Mutter in Nazareth mag der gewesen sein, zu zeigen, daß Er, um Mensch zu werden, auf die Glorie und Seligkeit im Himmel verzichten wollte und, um Priester zu werden, auch auf die unschuldigen und reinen Freuden des irdischen Herdes verzichten wollte. Von Melchisedech wird im Alten Bunde weder Vater noch Mutter erwähnt; die Leviten zeigten sich ihres Priesteramtes erst würdig und wurden dem Priesterstande eingereiht, wenn sie sich gegen natürliche Neigungen stark erwiesen und zu Vater und Mutter sprachen: »Ich kenne euch nicht«, ja sogar das Schwert gegen ihre Blutsverwandten erhoben, wenn die Ehre des Herrn der Heerscharen dieses Opfer verlangte. In ähnlicher Weise sagte auch der Herr zu seiner Mutter: »Was ist zwischen Mir und dir?« Das war die Weihe-Trennung des Opfers, der erste klare Schritt zu der großen Opferhandlung, die feierlich für das Heil der Welt vollzogen werden sollte; es ist die Opferung vor der Darbringung der Hostie. O mein teuerster Erlöser, der Du für mich auf Deine Mutter verzichtet hast, gib mir die Gnade, um Deinetwillen auf alle meine irdischen Freunde und Angehörigen mit Gleichmut zu verzichten!“ (Aus: Kardinal Newman, Gott und die Seele, Matthias-Grünewald-Verlag Mainz, 1937)