Es gibt heutzutage keine Gelehrten mehr, die zugleich Heilige sind. Diese Tatsache ist sicherlich viel gewichtiger als es wir es gewöhnlich wahrhaben wollen, denn ein Wissen ohne Glauben und ohne Heiligkeit löst sich aus der Weisheit Gottes und verselbständigt sich. Sodann stellt sich die Frage, in welchem Dienst steht fortan dieses Wissen? Unser Wissen kann von oben oder von unten inspiriert sein, denn schließlich ist auch der Teufel ein Gelehrter, und zwar ein viel größerer Gelehrter als alle Genies dieser Welt zusammengenommen. Nach seinem Sturz hat er seine Intelligenz, die er als höchster Engel besessen hat, nicht verloren, nur steht sie jetzt nicht mehr im Dienste Gottes, sondern vollkommen im Dienst seiner eigenen Bosheit und seines Hasses.
Geschichtlich gesehen, hat sich schon im Laufe der Renaissance das Wissen immer mehr von der Theologie gelöst und verselbständigt. Damit wurde das Wissen zum Weltwissen im modernen Sinne, also zu einem Wissen ohne Gott, zu einem Herrschaftswissen, das vor allem dazu dient, die Welt zu beherrschen und die Natur in den Dienst des menschlichen Vergnügens zu nehmen. Inzwischen hat sich ein ganzes Heer von Wissenschaftlern diesem Ziel verschrieben, und ausgestattet mit unvorstellbar großen finanziellen Mitteln treibt es ihre Sache voran. Doch welchen Wert hat dieses Wissen für den Menschen wirklich und sobald man das Wort unseres göttlichen Lehrmeisters bedenkt: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?“ (Mk 8, 36)?
Ein wenig anders gefragt: Wie gelangt man zu einem wahren Wissen, bei dem man die Seele nicht verliert, sondern diese für die Ewigkeit gewinnt? Eine Antwort auf diese Frage kann uns das Lebensbeispiel des hl. Thomas von Aquin geben. Dieser große Gelehrte, dieser außerordentliche Theologe hat sein Wissen nicht aus sich, nicht einmal so sehr aus den Büchern, sondern letztlich aus Gott geschöpft. Lassen wir uns sein Seelenleben ein wenig beschreiben, dann werden wir besser verstehen, um was es eigentlich geht. Wir nehmen unsere Darstellung aus dem Buch von P. Jordanus Jansen OP, Der hl. Thomas von Aquin, Kevelaer 1898, Verlag von Butzon&Berker, Zwölftes und Dreizehntes Kapitel. Wir haben jedoch Sprache und Rechtschreibung unserer Zeit angepaßt und zuweilen einen ergänzenden Kommentar eingearbeitet.
Das innerliche Leben des hl. Thomas
Zum größten Teil ist die Geschichte des hl. Thomas die Darstellung seiner Lehrtätigkeit, seiner Predigt und seiner wissenschaftlichen Werke. Doch sind uns auch manche Züge aus seinem inneren Leben aufbewahrt worden, welche wir jetzt zur Nachfolge wie in einem Bild sammeln wollen.
„Das ganze Leben des englischen Lehrers“, sagt Wilhelm de Tocco, „kann man mit dem Silber vergleichen.“ Es besitzt das Weiße des Silbers wegen der Reinheit der Meinung und Absicht, die Schönheit des Silbers wegen der Einfalt der Taten, den Klang des Silbers wegen des hellen Schalles der reinen Lehre. Auch einem Netz ist das Leben des Heiligen ähnlich, weil es auf vollkommene Weise aus allen Tugenden zusammengeflochten ist. Wir können darauf die Worte des hl. Apostels Jakobus anwenden: „Die Weisheit, welche von oben herabkommt, ist zunächst rein, dann friedsam, bescheiden, nachgiebig, dem Guten hold, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, sie richtet und heuchelt nicht. Und die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden gesät denen, die Frieden halten“ (Jak. 3,17f).
Die Lehre des hl. Thomas ist der Ausdruck seines Wandels, denn die Tat ging bei ihm der Lehre voran, nach dem Beispiel unseres Heilands Jesus Christus.
Sein erster Grundsatz war: Laß nicht nach in deinen frommen Übungen, sondern füge eher andere hinzu. Unablässig flehte er zu Gott um einen glühenden Eifer, eine unermüdliche Beharrlichkeit, den Geist der Arbeit, Opferfreudigkeit und der Ausdauer, sowie der Abtötung. Gern las er in den Lebensbeschreibungen der Heiligen und in den Unterhaltungen des Cassianus (Es ist gemeint: “Johannes Cassian – Unterredungen mit den Vätern“), um das Feuer der göttlichen Liebe zu entzünden und den Mut zur Überwindung jeder Widerwärtigkeit zu entflammen. Er pflegte dann jedes Kapitel wiederholt und mit gesteigerter Aufmerksamkeit durchzulesen.
Denn es war sein zweiter Grundsatz, daß man, um in der Tugend gleichwie in den Wissenschaften fortzuschreiten, sich bei einem Buch halten muß, welches man mit Bedacht gewählt hat, aber nur bei einem. Das Lesen einer großen Anzahl von Büchern mißbilligte er. Jemand bat ihn, ihm die Mittel zu nennen, um gelehrt zu werden. Er antwortete: „Studiere nur in einem Buch!“ Der hl. Thomas denkt also genauso wie der hl. Ignatius von Loyola, dessen Grundregel ist: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.“
Ein jeder, der nach der Vollkommenheit oder der Weisheit strebt, sagte er drittens, soll ohne Unterlaß beten, um durch das inständige Gebet die Heiligkeit und die Wissenschaft zu erhalten. Unter den Gebetsübungen verstand er hauptsächlich die Betrachtung, die Wachsamkeit, die Gewissenserforschung, die Übung in der Gegenwart Gottes. Buchstäblich befolgte er die Ermahnung des Apostels: „Die aber, welche Christi sind, haben ihr Fleisch gekreuzigt, samt den Lastern und Gelüsten“ (Gal. 5, 24). Tugend ohne äußere und innere Abtötung, Heiligkeit ohne Selbstverleugnung und Entsagung nannte er eine Torheit.
Niemand meine darum jedoch, der hl. Thomas sei menschenscheu, trübsinnig oder abstoßend in seinem Umgang gewesen. Das Gegenteil ist wahr. Er war sehr liebevoll und menschenfreundlich, anspruchslos, dienstfertig und nachgiebig. Er haßte Faulheit und Trägheit und verlangte, daß jeder in seinem Stand mit Lust und Eifer an der Erfüllung seiner Pflichten arbeite.
Eines Tages fragte ihn seine Schwester, die Gräfin von San Severino, wie sie selig werden könne. Er antwortete: „Wenn du es willst.“ „Was ist“, fuhr sie fort, „das Begehrenswerteste in diesem Leben.“ „Gut zu sterben“, war seine Antwort.
Aus allem geht deutlich hervor, daß er im Besitz der vier Haupttugenden war, welche die Grundlage der Vollkommenheit bilden: Die Vorsicht in der Wahl der Mittel; die Gerechtigkeit, denn er gab Gott, was Gottes, und den Menschen, was den Menschen gehörte; die Stärke in der Ertragung jeder Widerwärtigkeit; die Mäßigkeit im Gebrauch von Speise und Trank.
Sein ganzes Leben hindurch behielt Thomas nur ein Ziel vor Augen: Gott, die Sonne seines Glücks. Zu ihm strebte er unablässig hin, ohne auch nur einen Finger breit aus Leidenschaft oder des Vorteils wegen abzuweichen. Wie der Seefahrer sein Schiff durch die brausenden Wogen zwingt bis zum rettenden Hafen, so verfolgte auch er seinen Weg, unbeirrt durch Anfechtungen, Versuchungen und Stürme, bis er in Gott, seinem höchsten Gut, ausruhen durfte. Einmal davon überzeugt, daß die Güter dieser Erde sein Herz nicht befriedigen konnten, kostet es ihm geringe Mühe, sich von denselben zu trennen. Der reiche Graf mit den glänzenden Aussichten, aus dem Blut der Normannenfürsten und dem Kaiserhaus der Hohenstaufen verwandt, überwindet alle Hindernisse, widersteht allen Lockungen, verschmäht alle Würden, und kämpft um die Wonne, ein Bettelmönch zu sein. Er verachtet allen Glanz der Welt, um Christus zu gewinnen. Darum betet er: „Laß mich, o Gott, immer fester an Dich glauben, auf Dich hoffen, Dich immer inniger lieben. Nichts möge mich freuen oder mich betrüben, als was zu Dir führt oder von Dir trennt. Niemanden möge ich zu gefallen trachten oder zu mißfallen fürchten als Dir. Verächtlich möge mir alles Vergängliche werden und teuer sei mir all das Deine um Deinetwillen und Du, o Gott, über alles. Zum Ekel sei mir jeder Freude ohne Dich und nichts will ich begehren außer Dir. Es freue mich jede Arbeit für Dich und die Ruhe ohne Dich möge mir zum Abscheu sein.“
Die Gottesliebe des englischen Lehrers war zart und Gott hatte ihm die Gabe der Tränen verliehen. Seine Liebe war erhaben und wurde oft mit der Wonne und dem Jubel der Verzückung belohnt. Am meisten wurde er in diesem Zustand der Extase versetzt, wenn er sich betend vor einem Kreuz oder vor dem allerheiligsten Sakrament niederkniete, besonders aber bei der Darbringung des hl. Meßopfers. Sein ganzes Streben und Sinnen wird ausgedrückt durch die Worte, welche er einstmals bei einer Erscheinung sprach: „Thomas, welchen Lohn begehrst du?“ so fragte ihn eine geheimnisvolle Stimme. Und der Heilige, niedergebeugt vor dem Kreuz antwortete: „Nichts, als Dich, o Herr!“ Das Kreuz war das Buch der Liebe und des Leidens, in welchem er täglich las, aus dem er das Licht bezog, um den Willen Gottes zu erkennen und die Kraft schöpfte, um ihn auch vollkommen zu erfüllen.
„Die Liebe“, so sprach er eines Tages zu seinen Schülern und Mitbrüdern, „die Liebe pflegt den Liebenden in das Geliebte zu verändern, so daß wir elend und unbeständig werden, wenn wir niedrige und vergängliche Dinge lieben. 'Sie sind abscheulich geworden, wie dasjenige, das sie liebten', sagt der Prophet Osias. Wenn wir aber Gott lieben, werden wir göttlich, denn wer dem Herrn anhängt, wird eines Geistes mit ihm. Wie die Seele das Leben des Leibes ist, so ist Gott das Leben der Seele, sagt der hl. Augustinus. So wirkt die Seele mit Kraft und Vollkommenheit, wenn sie durch die Liebe wirkt, ohne die Liebe wirkt sie nicht, denn wer nicht liebt, bleibt im Tod. Würde also jemand alle Gaben des Heiligen Geistes besitzen ohne die Liebe, so hätte er das Leben nicht. Weder die Gabe der Sprachen, noch jene des Glaubens gibt ohne die Liebe das Leben. Die Liebe zu Gott ruht nie. Sie vollbringt Großes, wo sie gefunden wird. Scheut sie die Arbeit, dann ist es die Liebe nicht, sagt der hl. Gregorius. Ein Beweis der Liebe ist also die Bereitwilligkeit in Erfüllung der Befehle Gottes… Die Liebe zu Gott ist auch eine Zuflucht in den Widerwärtigkeiten. Denn demjenigen, welcher die Liebe besitzt, bringt das Unglück keinen Schaden, sondern Vorteil, wie der hl. Paulus sagt. Ja, für jenjenigen, der liebt, sind die Trübsale und Bedrängnisse süß … Die Liebe endlich führt zur Seligkeit. Nur denjenigen, welche die Liebe Gottes besitzen, wird das ewige Glück verheißen und ohne diese Liebe genügt nichts“ (S. Th. Opp. 1, XVI p. 98).
Alle Pflichten seines Standes erfüllte der Heilige mit der größten Pünktlichkeit. Er ließ keinen Augenblick unbenutzt vorbeigehen, so daß er einer der tätigsten und eifrigsten Männer war, welche jemals die Bewunderung der Welt erweckt haben. „Frater Thomas“, sagt einer seiner Ordensbrüder von ihm, welcher lange Jahre mit ihm Umgang hatte, „war ein Mann von heiligmäßigen Sitten und erbaulichem Wandel, demütig, fromm, friedfertig, keusch, ein Freund der Betrachtung, mäßig im Genuß von Speise und Trank, gleichgültig in Betreff seiner Kleidung. Außer der für Schlaf und Erholung bestimmten Zeit war er immer beschäftigt mit Studium, mit Gebet, mit Erteilung des Unterrichts, mit der Verkündigung des göttlichen Wortes.“
Aus der Liebe zu Gott sproßte bei dem hl. Thomas die Liebe zum Nächten hervor. Er hegte ein zartes Mitleid für Unglückliche und Bedürftige an Seele und Leib, denen er mit leiblichen und geistigen Werken der Barmherzigkeit zu Hilfe kam, wo er nur immer konnte. Er war allen gegenüber wohlwollend und freundlich, geduldig im Ertragen der Fehler, für jeden zugänglich. Für die Sünder war er ein liebevoller Hirte. Er verabscheute freilich die Sünde und strafte da, wo dies nötig schien, mit Würde und Ernst, jedoch auch immer mit Sanftmut und Vorsicht. Er hielt einen jeden für vollkommener als sich selbst. Seinen Gegnern gegenüber ließ er sich nie vom Zorn hinreißen. Er war gerecht in seinem Urteil, aber auch unerschrocken und unbeirrt in der Verteidigung der Wahrheit.
Soviel ihm die klösterliche Armut dies gestattete, teilte er den Armen von seinen Kleidern und an Lebensmitteln mit. Er bedurfte ja so wenig für sich, daß er immer noch etwas für andere übrig behielt.
„Zwei Dinge“, so sagte er öfters, „erhalten die Freundschaft: die Demut und die Geduld.“ Gerne vergab er denjenigen, die ihm haßten und verfolgten und besiegte ihren Zorn durch seine große Sanftmut.
„Die Gnade“, so lehrte er, „zerstört die natürlichen Gefühle der Liebe und Freundschaft nicht, sondern veredelt und kräftigt diese.“ Deshalb hegte er für seine Verwandten, seine Freunde und Ordensbrüder eine aufrichtige Liebe, er besuchte sie, unterhielt sich gern und oft mit ihnen und schloß sie in seine Gebete ein.
Dies zeigt so recht seine Freundschaft mit dem hl. Bonaventura. Das gleiche Alter und dasselbe Vaterland, die Wissenschaft und die Heiligkeit hatten diese großen Seelen zueinander hingezogen. Wir wissen nicht bestimmt, wo und wann sie einander kennengelernt haben. Die Überlieferung sagt uns nur, daß sie sich oft gegenseitig in ihren armen Klosterzellen zu Paris besuchten.
Eines Tages trat Bonaventura in die Zelle seines Freundes. Nach kurzem Gespräch wandte er sich an Thomas mit der Frage: „Mein Bruder, welches ist doch das Buch, aus dem du die schönen Gedanken schöpfst, die die ganze Welt mit Bewunderung erfüllen?“„Dies ist mein Buch“, erwiderte Thomas, indem er seinem Freund das Kreuz zeigte. An einem anderen Tag ging Thomas in Begleitung eines Mitbruders zu Bonaventura. Er fand den Freund mit dem Abfassen einer Schrift beschäftigt. „Lassen wir“, sprach er zu seinem Ordensbruder, „einen Heiligen zum Ruhme eines Heiligen schreiben.“ Bonaventura arbeitete nämlich gerade an der Lebensbeschreibung des hl. Franziskus.
Papst Sixtus V. sagt von St. Thomas und St. Bonaventura: „Sie sind wie zwei Oliven und wie zwei brennende Leuchten im Hause Gottes, welche durch die Salbung der Liebe und das Licht der Wissenschaft die ganze Kirche erleuchten.“ Durch eine besondere Fügung der göttlichen Vorsehung, gingen sie zugleich, wie zwei aufgehende Sterne, aus zwei berühmten Orden hervor. Zeitgenossen, Mitschüler in denselben Studien, erwarben beide den Magistertitel. Vom Papst Gregorius zur Kirchenversammlung berufen, wurden sie von diesem sehr geehrt. Sie waren während der Pilgerfahrt durch dieses Leben eng verbunden durch brüderliche Liebe, geistliche Freundschaft und beiderseitige Teilnahme an guten Werken. Hoffen wir, daß beide, nachdem sie zur ewigen Freude des Himmels und zur Anschauung Gottes gelangt sind, dort für uns, die wir noch in diesem Tal der Tränen wandeln, beten und durch ihre mächtige Fürsprache den Beistand Gottes erflehen mögen!
Von der göttlichen Weisheit heißt es: „Zugleich mit ihr erhielt ich auch alle anderen Güter; in ihren Händen war unschätzbarer Reichtum“ (Weish. 7,11). So wuchsen beim hl. Thomas aus der wahren und höchsten Weisheit, der Liebe zu Gott und zum Nächsten, alle anderen Tugenden hervor.
Besonders wert waren ihm die Armut und der Gehorsam. Bistümer und Abteien wurde ihm angeboten, er war aber nicht zu bewegen, dieselben anzunehmen. Selbst in geringfügigen Sachen übte er die evangelische Armut. So bediente er sich beim Schreiben seiner Summa gegen die Heiden nicht des damals noch seltenen Papiers, sondern des weniger teuren Pergaments. Er hätte alle Reichtümer und die Ehren dieser Welt besitzen können, aber er suchte seinen Reichtum und seine Ehre einzig darin, dem armen und demütigen Jesus folgen zu dürfen.
Den Gehorsam stellte er noch höher. Das Wesen des Ordenslebens, pflegte er zu sagen, besteht darin, daß der eine Mensch dem andern gehorche, um Gott zu dienen, wie auch Christus einem Menschen untertan war. Oftmals suchte er den Rat anderer, wobei er sich jeder Zurechtweisung gerne fügte. Der Gehorsam, so sagt ein Schriftsteller von ihm, war sein Kompaß und sein Polarstern. Aus Gehorsam wurde er Baccalaureus, Licenziat, Magister. Der Gehorsam bewog ihn, oftmals den Wanderstab zu ergreifen, um in den verschiedenen Städten zu lehren. Köln, Paris, Rom, Orvieto, Perguia, Bologna und Neapel waren der Schauplatz seiner Lehrtätigkeit und seiner Predigt. Aus Gehorsam begab er sich, schon krank und müde, nach Lyon zur Kirchenversammlung.
Gehorsam setzt tiefe Demut voraus. Thomas war demütig und arglos wie ein Kind. Die Demut ist nicht die schwerste Tugend für jemanden, der unbekannt und verborgen lebt, oder dem von Gott nur mittelmäßige Talente verliehen worden sind. Etwas anderes aber ist es, auf der Höhe des Ruhmes und der Wissenschaften zu stehen, dann aber alle Ehre Gott zuzuschreiben, für sich selbst nichts zu verlangen und in Armut und Entsagung zu leben, wie dieses der engelgleiche Lehrer tat. Man nannte ihn das Orakel der Theologie. Die Päpste Urban IV. Und Clemens IV. zeichneten ihn durch ihre Freundschaft aus. Er wurde von Königen und Fürsten geehrt, Kardinäle, Bischöfe, Universitäten rühmten seine Gelehrsamkeit und nannten ihn ein Wunder der Welt. Thomas aber achtete dies alles gering und hielt sich für den Geringsten seiner Mitbrüder. Er verlangte nur, als einfacher Ordensmann zu leben und zu sterben.
Als ihn eines Tages vergeworfen wurde, seine Gelehrsamkeit sei nicht so groß, als es den Anschein hätte, antwortete er: „Ihr habt recht, gerade um die Welt eines Besseren über mich zu belehren, studiere ich ohne Unterlaß.“
Noch wenige Tage vor seinem Tod offenbarte er in vertraulichem Gespräch dem Frater Reginaldus: „Gott sei gepriesen, niemals hat meine Gelehrsamkeit, meine Würde als Doktor, nie ein einziger wissenschaftlicher Sieg die geringste Regung der Eitelkeit in mir hervorgerufen. Immer wurden dieselben durch meine Vernunft unterdrückt.“ Bei solchen Gelegenheiten pflegte er mit der Hand ein kleines Kreuzzeichen über der Brust zu machen.
Aus dieser Demut und Geringschätzung seiner selbst entsprang bei ihm jene Mäßigung, mit welcher er in den scholastischen Wettkämpfen die Wahrheit verteidigte, so daß er sich niemals von Übertreibung und Leidenschaftlichkeit hinreißen ließ. Er konnte mit dem Apostel Paulus ausrufen: „Das ist unser Ruhm, das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfalt des Herzens und in Aufrichtigkeit vor Gott, nicht in fleischlicher Weisheit, sondern in der Gnade Gottes in dieser Welt gewandelt sind“ (II. Corinth. 1,12).
O, wie schön ist ein keusches Geschlecht im Glanz der Tugend. Denn unsterblich ist sein Andenken und bei Gott und den Menschen ist es anerkannt (vgl. Weish. 4,1) In den vordersten Reihen dieser keuschen Geschlechter strahlt der hl. Thomas. Nicht umsonst wurde er der engelhafte Lehrer genannt. Unschuldig und rein war er in der Jugend, unschuldig im Mannesalter. Mit dem geheimnisvollen Gürtel angetan, wurde er gekräftigt in der Reinheit seiner Seele. Deshalb verdient er von jedem Christen besonders aber von der studierenden Jugend, als Patron der Keuschheit erwählt zu werden.
Der heilige Lehrer wußte, wie uns von den Schreibern seiner Lebensgeschichte mitgeteilt wird, daß die Weisheit nicht in einer Seele wohnt, die in den Banden des Bösen gefangen ist, noch in einem Leib, der der Sünde unterworfen ist. Darum war sein ganzes Streben auf die Bewahrung der jungfräulichen Reinheit der Seele und des Leibes gerichtet. Überzeugt, dies nicht durch eigenes Verdienst zu können, rief er täglich den Beistand Gottes dazu an. „Liebster Jesus“, flehte er, „ich weiß sehr wohl, daß jedes vollkommene Geschenk und vorzüglich die Gabe der Keuschheit von dem überaus mächtigen Einfluß Deiner Gnade abhängt, und daß kein Geschöpf ohne Dich etwas vermag. Deshalb bitte ich Dich, du wollest die Keuschheit meiner Seele wie auch meines Leibes mit Deiner Gnade verteidigen. Und sollte ich je einen sinnlichen Eindruck in mich aufgenommen haben, der ihre Keuschheit und Reinheit beflecken könnte, so verbanne Du, der Du der allerhöchste Herr aller Kräfte meiner Seele bist, ihn von mir, damit ich mit unbefleckten Herzen in Deiner Liebe und in Deinem Dienste fortschreiten und mich alle Tage meines Lebens keusch auf den reinsten Altären Diener Gottheit aufopfern möge!“
Es ist gewiß, daß Thomas die Lilie der Jungfräulichkeit unverletzt bewahrte. Seine Beichtväter Raymundus, Severus und Reginaldus de Piperno bekundeten eidlich, daß seine Beichte derjenigen eines fünfjährigen Kindes gleich war. Kaum wurde er von einer leichten Versuchung zur Sinnlichkeit angefochten.
Dem Frater Albertus von Brescia erschienen eines Tages der hl. Augustinus und der hl. Thomas. Letzterer trug auf dem Haupt eine goldene Krone, reich mit edlen Steinen besetzt, um den Hals zwei Ketten, die eine aus Gold, die andere aus Silber. Auf seiner Brust funkelte ein großer Edelstein, dessen Strahlen die ganze Kirche erhellten. Auch der Mantel war wie besät mit kostbaren Steinen, wohingegen seine Tunika und das Skapulier weiß wie frischfallender Schnee waren. Auf Thomas hindeutend sagte der hl. Augustinus: „In der himmlischen Glorie ist er mir gleich, jedoch übertrifft er mich durch die Krone der Jungfräulichkeit.“ Einer seiner Schüler bezeugte von ihm, daß er niemals einen Menschen von solcher Reinheit gesehen habe.
Im Buch der Weisheit heißt es: „Ist ein keusches Geschlecht gegenwärtig, so sehnet man sich danach. Ewig triumphiert es mit der Siegeskrone, und trägt den Preis für die Kämpfe unbefleckter Reinheit davon“ (Weish. 4). Diesen Preis hat der Frater Angelikus, der engelgleiche Bruder erhalten, indem er zur Bewahrung der Unschuld die notwendigen Mittel anwendete: Die Arbeit, die Wachsamkeit, die Abtötung und das Gebet.
„Drei Hindernisse sind es besonders“, schreibt der Heilige, „durch welche die Bewahrung der Herzensreinheit erschwert wird. Von diesen liegt das eine auf Seiten unseres Körpers, das ist die Begierlichkeit, das zweite auf Seiten der Seele, das sind die bösen Gedanken; das Dritte auf Seiten der Dinge außer uns, das sind die gefährlichen Personen und Sachen. Um die Reinheit des Herzens zu bewahren, muß man sich in die Einsamkeit und Zurückgezogenheit begeben und ist es notwendig, sich Entziehen von Speise und Schlaf, körperliche Arbeiten, Entbehrungen, geistliche Lesung und fromme Übungen aufzuerlegen“ (De perfectione vitae spiritualis. C. IX. - Von der Vollkommenheit des geistlichen Lebens).
Der Heilige selbst übte stets die größte Enthaltsamkeit. Das Geringste genügte ihm. Er war zufrieden mit den einfachsten Speisen und dem ärmlichsten Gewand. Er legte sich ein freiwilliges strenges Fasten auf. Jeder Genuß war ihm gleichgültig, so daß er nur das Notwendigste zu sich nahm und auch dieses so mechanisch, daß er oft nicht einmal merkte, wann die Speisen abgetragen wurden. Den Geschmack hatte er fast völlig verloren.
Der Wandel des Heiligen war im Himmel. Nach dem Beispiel seines göttlichen Meisters, welcher die Nächte im Gebet durchwachte, war ihm das Gebet und der stille Verkehr mit Gott überaus lieb. Sobald seine vielen Berufsgeschäfte ihm dies gestatteten, überließ er sich ungestört dieser Lieblingsneigung seines Herzens. Jedesmal bevor er zu schreiben, zu studieren, zu disputieren oder zu lehren anfing, flehte er unter heißen Tränen zu Gott um Kraft und Erleuchtung. Stieß er bei seinen Studien auf besonders schwierige Stellen, so nahm er seine Zuflucht zum Gebet und zur Abtötung.
Er hegte eine zärtliche Andacht zum heiligen Sakrament. Erhaben sind seine Schriften über dies hochheilige Geheimnis, groß und innig war seine Liebe und Andacht zu demselben. Täglich las er die heilige Messe, wonach er noch eine oder manchmal zwei heilige Messen zur Danksagung anhörte. Bei der Darbringung des heiligen Meßopfers geriet er öfters in eine solche Verzückung, daß heiße Tränen der Freude seinen Augen entströmten. Mit unauslöschlichem Durst trank er aus dieser Quelle der Gnade und der Wonne. Die Gebete und Hymnen, welche er zu Ehren des anbetungswürdigen Sakramentes verfaßte, verkünden Jahrhunderte nach seinem Tod immer noch seine kindlich-fromme Verehrung. Stundenlang weilte er am Fuß des Altars in Anbetung des verborgenen Gottes versunken, „Adorote devote, latens Deitas...“:
In Demut bet' ich dich, verborgene Gottheit, an,
Die du den Schleier hier des Brotes umgetan.
Mein Herz, das ganz in dich anschauend sich versenkt,
Sei ganz dir untertan, sei ganz dir hingeschenkt.
Dort suchte er Trost und Hilfe in allen Mühseligkeiten dieses Lebens:
O Denkmal meines Herrn an seinen bittern Tod,
O lebenspendendes und selbst lebend'ges Brot!
Gib, daß von dir allein sich meine Seele nährt
Und deine Süßigkeit stets kräftiger erfährt.
Nicht minder groß war auch seine Liebe zur allerseligsten Jungfrau Maria. Zwei Beweggründe zogen ihn besonders zu dieser Mutter der göttlichen Gnade: erstens weil sie die Patronin der Keuschheit und zweitens weil sie der Sitz der Weisheit ist. Oftmals erschien sie ihrem Diener und erklärte ihm die schwierigsten Stellen, welchen er bei seinen Studien begegnete. Die Handschrift der Summa contra Gentiles (Summa gegen die Heiden) ist am Rande öfters mit den Worten „Ave Maria“ beschrieben. Auch wählte der engelhafte Lehrer das Ave Maria zum Gegenstand eines besonderen Kommentars, gleichwie auch eine Reihe von Festpredigten, die er zu Neapel hielt, dasselbe Thema behandelten. Es ist selbstverständlich, daß Thomas, welcher alle Fragen der Theologie mit solcher Tiefe und solchem Scharfsinn behandelte, auch der Lehre über die Gottesmutter seine Aufmerksamkeit zuwandte. Wir finden seine Lehre über Maria in seinen Werken zerstreut. Soweit es die Form betrifft, unterscheidet sie sich sehr von derjenigen der alten Kirchenväter und anderer Scholastiker. Diese haben die Herrlichkeit und die Vorzüge der allerseligsten Jungfrau mit flammender Begeisterung in glanzvollen Bildern als Lobredner geschildert. Thomas aber verherrlichte die Gottesmutter als Gelehrter in dialektischer Form und sorgsam gewählten Ausdrücken. Dies ist nicht etwa ein Abbruch an Verehrung für die Himmelkönigin, sondern es ist die notwendige Folge des ganzen Wesens und der Methode des hl. Thomas.
Kindliche Einfalt kennzeichnen seine Andacht zu den übrigen Heiligen. Es waren besonders die Apostelfürsten Petrus und Paulus, die hl. Agnes, der hl. Petrus Martyrer, der hl. Dominikus, welche er mit gläubigen Vertrauen verehrte.
Im Brevier des Predigerordens heißt es vom hl. Thomas: „Die schöne Blume der Unschuld und die Lilie der Jungfräulichkeit haben den Sänger der Wahrheit auf die Wissenschaft vorbereitet.“
Nur wenn man diesen Zusammenhang beachtet, versteht man die wahre Wissenschaft. Denn nur ein reines Herz vermag Gott zu schauen, nur ein reines Herz vermag sich zu jenen Wahrheiten erheben, die himmelweit über unserem irdischen Wissen stehen. Der hl. Thomas vereinigte mit den reichsten Gaben und glänzendsten Talenten – wie ein ausgezeichnetes Gedächtnis, einen scharfen Verstand, ein nie schwankendes Urteil, eine unzerstörbare Geistesgegenwart und eine unerschöpfliche Fülle von Gedanken, eine gründliche und allgemeine Kenntnis, daß er nicht nur auf der Höhe seiner Zeit, sondern auch der vorhergehenden Jahrhunderte stand – ein heiliges Leben. Er gebrauchte selbst die Mittel, die er anderen empfahl, um zu dieser großen Liebe und tiefen Erkenntnis der göttlichen Wahrheit zu gelangen, nämlich: Heiligkeit des Lebens, Abscheu vor der Sünde, Reinheit des Körpers, Gebet, Abtötung, Arbeit und Studium. So heißt es in einem Brief an einen Studenten:
„Mein Sohn, du fragst mich, welches das wahre Mittel ist, große Fortschritte in deinen Studien zu machen und in den sicheren Besitz der Weisheit zu gelangen? Ich will dir folgenden Rat geben: Beschäftige dich nicht gleich anfangs mit schwierigen Fragen, sondern dringe stufenweise bis zu ihnen vor. Die Kenntnis, welche du über die einfachsten Wahrheiten erworben hast, wird dich, ohne daß du es gewahrst, zur Erforschung der tiefsten Wahrheiten führen. Beeile dich nicht, das zu sagen, was du denkst, noch dasjenige zu zeigen, was du gelernt hast. Sprich wenig und gib keine voreiligen Antworten. Fliehe die unnützen Gespräche, denn man verliert dabei die Zeit und den Geist der Andacht. Besonders bewahre sorgfältig die Reinheit des Gewissens, tue nie etwas, wodurch dasselbe befleckt werden könnte und dich in den Augen Gottes mißfällig machen würde. Bete ohne Unterlaß. Liebe die Einsamkeit, um die ganze Zeit, welche du einer nützlichen Unterhaltung widmen könntest, auf die Betrachtung zu verwenden. In das Geheimnis des Bräutigams wirst du eingeweiht werden, sobald du dich mit ihm zu unterhalten verstehst. Die Einsamkeit soll dich aber nicht verdrießlich und mürrisch machen, sondern du sollst jederzeit freundlich und sanftmütig in deinem Umgang sein, ohne jedoch mit jemanden eine zu vertraute Freundschaft zu schließen. Die Folge des vertrauten Umgangs ist gewöhnlich eine geringere Wertschätzung. Überlasse jedem die Sorge für das, was ihn angeht, und bekümmere dich nicht um das, was in der Welt vor sich geht oder geredet wird. Stelle dir recht lebhaft das Leben und die Taten der Heiligen vor, wandle ihre Wege, soweit dir dies möglich ist, und bleibe demütig, wenn du ihre Vollkommenheit nicht erreichen kannst. Begnüge dich nicht damit, das, was du hörst oder siehst, nur oberflächlich in dich aufzunehmen, sondern versuche in dessen Sinn einzudringen und ihn zu ergründen. Bleibe niemals in Zweifel über Dinge, welche du mit voller Gewißheit wissen kannst. Strebe mit heiligem Eifer, deinen Geist zu bereichern. Bewahre alle Kenntnisse, welche du dir erwerben kannst, in der Vorratskammer deines Gedächtnisses, und zwar in guter Ordnung, wie wenn du ein Gefäß füllen müßtest. Lege jedoch den vor Gott erhaltenen Talenten keinen Zwang an und suche nie zu ergründen, was immer über den Bereich deines Verstandes gehen wird. Wenn du diese meine Ratschläge genau befolgst, so darfst du sicher sein, deinem Wunsche gemäß in den Besitz der Weisheit zu gelangen. Dein Leben wird voller Blüten und Früchte sein. Du wirst die ganze Zeit hindurch, solange du das Joch dieses sterblichen Lebens trägst, den Weinberg des Herrn bereichern.“
Das ist also der Weg zur wahren Wissenschaft. Bedenkt man diese Anweisung des hl. Thomas, versteht man plötzlich sehr gut, weshalb es heute keine wahren Wissenschaftler mehr gibt, Wissenschaftler, denen die gesamte Wirklichkeit vor Augen steht und die aus diesem Blick auf das Ganze ihre Forschung vor Gott verantworten. Wenn es noch solche Wissenschaftler gäbe, sähe unsere Welt sicher anders aus.
Den Abschluß unserer Gedanken soll ein Gebet bilden, das der hl. Thomas, ehe er studierte, predigte oder schreib, häufig sprach: „Unaussprechlicher Schöpfer, der Du aus den Schätzen Deiner Weisheit drei Hierarchien von Engeln angeordnet und über den strahlenden Himmel in wunderbarer Ordnung gesetzt und die Teile des Weltalls herrlich zusammengefügt hast; Du, der Du wahre Quelle des Lichtes und der Weisheit und ihr höchster Ursprung genannt wirst! Würdige Dich, über die Finsternisse meines Verstandes einen Strahl Deiner Klarheit zu ergießen! Entferne von mir die zweifache Nacht, in der ich geboren bin, der Sünde nämlich und der Unwissenheit! Du, der Du die Zungen der Kinder beredt machst, bilde meine Zunge und ergieße auf meine Lippen den Segen Deiner Gnade! Gib mir Schärfe des Verständnisses, Kraft zum Behalten, die Fähigkeit zum Lehren, Scharfsinn zum Erklären, reichliche Gnade zum Reden! Lenke meinen Anfang, unterstütze mich beim Fortschreiten und führe mich zur vollkommenen Vollendung! Du, der Du wahrer Gott und Mensch bist, der Du lebst und regierst, in alle Ewigkeit. Amen.“