Der heilige Ludwig Maria Grignion de Montfort bezeichnet in seinem „Goldenen Buch“ das Geheimnis der Menschwerdung, welches sich bei der Verkündigung des Engels Gabriel an die allerseligste Jungfrau ereignete, „mit drei Worten als das verborgenste, das erhabenste und das am wenigsten bekannte“. „Das verborgenste, denn in diesem Geheimnis hat Christus im Schoße Mariä und in Übereinstimmung mit ihr alle Heiligen vorherbestimmt, weswegen der heilige Leib Mariä auch die aula sacramentorum, der Saal der Geheimnisse Gottes, genannt wird.“ So hat die allerseligste Jungfrau in diesem Augenblick nicht nur den Gottessohn als das Haupt, sondern auch alle Glieder Seines Mystischen Leibes, der Kirche, empfangen.
„Das erhabenste Geheimnis, da in ihm alle anderen Geheimnisse seines Lebens enthalten sind, deren Erfüllung er schon bei seinem Eintritt in diese Welt freiwillig übernahm. Denn Jesus ingrediens mundum dicit: Ecce venio ut faciam voluntatem tuam etc. (Hebr. 10,5ff). 'Darum spricht Jesus bei seinem Eintritt in die Welt: Siehe, ich komme, zu vollbringen, Gott, Deinen Willen.' Daher kann dieses Geheimnis auch kurz der Inbegriff aller Geheimnisse genannt werden, da es den Willen und die Gnade zu allen einschließt.“ Der Heiland vollzieht in diesem Augenblick im Schoß Mariens Sein Opfer, das zugleich das Meßopfer und das Kreuzesopfer enthält und hervorbringen wird. Alle Geheimnisse Seines Lebens, aber auch alle Geheimnisse der Kirche, namentlich die heiligen Sakramente, werden hier grundgelegt.
„Es ist schließlich auch das am wenigsten bekannte Geheimnis, denn es ist, was die wenigsten ahnen, er Thron der Barmherzigkeit, der Freigebigkeit und der Ehre Gottes. Es ist der Thron der Barmherzigkeit für uns, denn gerade an diesem Feste erkennen wir, daß wir uns Jesus nur durch Maria nähern, nur durch ihre Vermittlung Jesus sehen und sprechen können. Und Jesus, der seine geliebte Mutter allezeit erhört, gewährt hier auch allezeit den armen Sündern seine Gnade und Barmherzigkeit: Adeamus ergo cum fiducia ad thronum gratiae (Hebr. 4,16), 'laßt uns also mit Vertrauen zum Throne der Gnade hinzutreten'.“ Daher rührt auch das Geheimnis der Kirche, durch deren Vermittlung allein wir Jesus sehen und sprechen können, und deren Bitten Gott allzeit erhört.
„Dieses Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes ist auch der Thron der Freigebigkeit des Allerhöchsten in Maria. Denn während Christus als der neue Adam in diesem wahren irdischen Paradies wohnte, wirkte er an Maria dort so viele verborgene Wunder der Gnade, daß weder Engel noch Menschen sie begreifen können. Deshalb nennen die Heiligen Maria die 'Herrlichkeit Gottes': Magnificentia Dei, gleich als ob Gott nur in Maria Herrliches vollbringe. Solummodo ibi magnificus Dominus (Is. 33,21).“ Auch hier ist bereits das Geheimnis der Kirche grundgelegt und vorgebildet, in welcher Christus wie in Seinem irdischen Paradiese wohnt und Seine Wunder der Gnade wirkt.
„Dieses Geheimnis ist endlich auch der Thron der Ehre für Gott, den Vater, weil Jesus Christus in Maria seinen gegen den Menschen erzürnten Vater vollkommen versöhnt. Die Ehre, welche ihm die Sünde geraubt hat, ersetzt er ihm vollkommen und erweist durch das Opfer seines Willens und seiner selbst ihm mehr Ehre, als alle Opfer des alten Bundes ihm hätten geben können, ja eine unendliche Ehre, welche ihm sonst kein Mensch erwiesen hat und erweisen konnte.“ Wiederum setzt sich dieses Erbe fort in der heiligen Kirche, in welcher das heilige Opfer des Menschensohnes fortwährend gefeiert wird durch alle Jahrhunderte bis ans Ende der Welt.
So führt uns das heutige Fest der Verkündigung Mariens tief in das Wesen und den Ursprung unserer heiligen Mutter, der Kirche, hinein. Ja, nach dem Heiland verdanken wir die Kirche ganz der allerseligsten Jungfrau, die zum Wort des heiligen Engels ihr „Fiat“ gesprochen hat.