1. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen wir unseren Glauben an den gekreuzigten Heiland: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben.“ „So notwendig es für den Christen ist, an die Menschwerdung des Sohnes Gottes zu glauben, so notwendig ist es auch für ihn, an Sein Leiden und Seinen Tod zu glauben“, bemerkt dazu der heilige Thomas von Aquin in seiner Erklärung zum Glaubensbekenntnis.
„Daß aber Christus für uns gestorben ist, ist so hart, daß es unser Verstand kaum zu fassen vermag, ja daß es ihn in jeder Weise übersteigt.“ „Ein Werk wird geschehen in euren Tagen, das niemand glaubt, wenn davon erzählt wird“, heißt es beim Propheten Habakuk (Hab, 1,5). So nimmt es nicht wunder, daß selbst die Apostel sich mit den Leidensvorhersagen des Heilands sehr schwer taten. „In jener Zeit nahm Jesus die Zwölf beiseite und sprach zu ihnen: 'Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem: dort wird alles in Erfüllung gehen, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben. Er wird den Heiden ausgeliefert, verspottet, mißhandelt und angespien werden; man wird Ihn geißeln und töten; aber am dritten Tage wird Er wieder auferstehen.' Allein sie verstanden nichts davon; diese Rede war für sie dunkel, und sie begriffen nicht, was damit gemeint war“ (Lk 18,31-34). „Denn so groß ist die Gnade Gottes und Seine Liebe zu uns, daß Er mehr für uns getan hat, als wir begreifen können“, bemerkt der engelgleiche Lehrer.
2. „Doch sollen wir nicht glauben, Christus hätte in der Weise den Tod erlitten, daß die Gottheit in Ihm gestorben wäre, sondern nur so, daß die menschliche Natur in Ihm starb; denn Er ist nicht gestorben sofern Er Gott, sondern nur sofern Er Mensch war.“ Das ist wichtig zu beachten. In Christus finden sich ja beide Naturen, die göttliche und die menschliche, und so besteht die Gefahr einer Vermischung oder Verwechslung. Sterben konnte selbstverständlich nur die menschliche Natur, nicht die göttliche.
Drei Beispiele sollen uns das klar machen: „Das erste findet sich in uns selbst. Wenn der Mensch stirbt und sich die Seele vom Körper scheidet, dann stirbt nicht die Seele, sondern der Körper, das heißt das Fleisch. So ist auch beim Tode Christi nicht die Gottheit, sondern nur die menschliche Natur gestorben.“ Das zweite Beispiel ist das eines Kleides, das ein König trägt. Denn ein Einwand lautet: „Aber wenn die Juden nicht die Gottheit getötet haben, könnte man meinen, daß sie keine größere Schuld begingen, als wenn sie einen anderen Menschen getötet hätten.“ Dagegen nun der Vergleich: „Dem ist entgegenzuhalten: wenn jemand das Kleid, das der König trägt, besudelt, so lädt er die gleiche Schuld auf sich, wie wenn er den König selbst besudelt hätte. So sind auch die Juden, die in Christus zwar nicht die Gottheit, sondern nur die menschliche Natur töten konnten, ebenso strafbar, wie wenn sie die Gottheit selbst getötet hätten.“ Zumal durch die hypostatische Union die Menschheit mit der göttlichen Person viel inniger vereint ist als ein Kleid mit dem König. Das dritte Beispiel: „Es ist schon gesagt worden, daß der Sohn Gottes das Wort Gottes ist und daß Seine Fleischwerdung verglichen werden kann mit der Niederschrift des königlichen Wortes auf Pergament. Wenn daher jemand ein Pergament des Königs vernichtete, so gälte es das gleiche, als hätte er das Wort des Königs vernichtet. Und so ist auch die Schuld der Juden für ebenso groß zu halten, als hätten sie das Wort Gottes getötet.“ [Man sollte vielleicht vorsorglich darauf aufmerksam machen, daß der heilige Thomas hier den Sprachgebrauch der Bibel verwendet, welche die Verfolger Jesu, die sich vor allem unter den Pharisäern und im Hohen Rat fanden, kurz „die Juden“ nennt. Keineswegs soll damit gesagt sein, daß alle damals lebenden Juden oder gar spätere Generationen die Verantwortung dafür trügen, waren ja nicht einmal alle Mitglieder des damaligen Hohen Rates beteiligt, wie etwa Nikodemus und Joseph von Arimatäa.]
3. Die nächste Frage lautet: „Aber war es denn notwendig, daß das Wort Gottes für uns gelitten hat?“ Der Aquinate antwortet darauf: „Es war höchst notwendig, und zwar vor allem aus zwei Gründen: damit Sein Leiden ein Heilmittel gegen die Sünde und ein Vorbild für das Leben werde.“ Zuerst also ist das Leiden Christi als ein Heilmittel zu betrachten, das uns gegeben ist gegen „alle Übel, die wir uns durch die Sünde zuziehen“. „Solcher Übel aber sind fünf“, sagt der heilige Thomas und zählt sie uns auf. Das erste ist die „Befleckung der Seele“. „Wenn der Mensch sündigt, befleckt er seine Seele; denn wie die Tugend die Schönheit der Seele ausmacht, so bewirkt die Sünde ihre Befleckung.“ So spricht der Prophet Baruch im Bilde Israels die Seele an: „Israel, was weilst du im Lande deiner Feinde, wie kommt es, daß du in den Schmutz gelegt bist mit den Toten?“ (Bar 3,10). „Dieser Makel wird aber durch das Leiden Christi entfernt; denn Christus hat in Seinem Leiden durch Sein Blut ein Bad bereitet, um damit die Sünder reinzuwaschen, wie es in der Heiligen Schrift heißt: 'Er hat uns reingewaschen von unseren Sünden in Seinem Blute' (Apk 1,5).“ Konkret geschieht das bei der Taufe, aber auch bei der Beichte. „Reingewaschen aber wird die Seele in der Taufe, welche aus dem Blut Christi läuternde Kraft hat. Daher fügt jeder, der sich nachher wieder durch die Sünde befleckt, Christus Schmach zu und sündigt mehr als vorher.“ Der heilige Paulus mahnt die Hebräer: „Wer das Gesetz Moses für nichtig erklärte, mußte, bei zwei bis drei Zeugen, ohne Erbarmen sterben. Wieviel schlimmer, meint ihr, wird die Strafe sein, die einer verdient, wenn er den Sohn Gottes mit Füßen tritt, das Bundesblut, wodurch er geheiligt ward, verachtet und gegen den Geist der Gnade frevelt?“ (Hebr 10,28). Welch eine Gnade, daß es das Sakrament der Buße gibt, welche auch diesen Frevel wieder gutmacht!
Das zweite Übel ist die „Beleidigung Gottes“. „Wie nämlich das Fleisch die fleischliche Schönheit liebt, so liebt Gott die geistige, das heißt die Schönheit der Seele. Wenn sich also die Seele durch die Sünde verunstaltet, so wird Gott dadurch beleidigt, und Er haßt den Sünder.“ Daraus ist ersichtlich, wie sehr Gott die allerseligste Jungfrau lieben muß, wie sehr Er aber auch etwa die Teufel und Dämonen hassen muß. „Gott sind verhaßt der Gottlose und sein gottloses Werk“, heißt es im Buch der Weisheit (Weish 14,9). „Durch das Leiden Christi wird dies aber aufgehoben, denn Er hat Gott dem Vater für die Sünde eine Genugtuung geleistet, die der Mensch selbst nicht leisten konnte; Seine Liebe und Sein Gehorsam waren größer als der Abfall und die Sünde der ersten Menschen.“ So wurde der Haß und der Zorn Gottes von der sündigen Menschheit abgewendet. „Wir wurden mit Gott, als wir noch Seine Feinde waren, durch den Tod Seines Sohnes versöhnt“ (Röm 5,10).
Als drittes Übel folgt die Schwachheit. „Der Mensch, der einmal gesündigt hat, meint, er könne sich nachher der Sünde enthalten. Aber gerade das Gegenteil tritt ein: denn durch die erste Sünde wird der Mensch geschwächt und geneigter zum Sündigen, und die Sünde beherrscht ihn und bringt ihn, soweit es an ihm liegt, in einen solchen Zustand, daß er sich – wie einer, der in eine Grube gefallen ist – nicht mehr erheben kann ohne Unterstützung durch göttliche Kraft.“ Das ist geschehen nach dem Sündenfall unserer Stammeltern. „Nachdem also der Mensch sündigte, wurde unsere Natur geschwächt und verdorben und mehr zum Sündigen geneigt. Aber Christus hat diese Schwäche und Hinfälligkeit vermindert, wenn auch nicht ganz aufgehoben; denn durch das Leiden Chrsti ist der Mensch gestärkt und die Sünde so geschwächt worden, daß sie ihn nicht mehr so sehr beherrscht und er, unterstützt von der Gnade Gottes, die ihm in den Sakramenten – die ihre Wirkkraft aus dem Leiden Christi haben – zuteil wird, den Kampf aufnehmen und der Neigung zur Sünde widerstehen kann.“ „Unser alter Mensch ward mitgekreuzigt, damit unser der Sünde verfallener Leib seine Macht verliere...“ (Röm 6,6).
Ein viertes Übel wird genannt: „Die Strafe für die Sündenschuld.“ „Die Gerechtigkeit Gottes fordert, daß jeder, der sündigt, gestraft werde.“ Das ist eine Wahrheit, die heute gerne vergessen wird. Man spricht nur noch von Gottes Barmherzigkeit, nicht mehr von Seiner Gerechtigkeit, dabei vergessend, daß die sog. Eigenschaften Gottes im Grunde alle eins sind mit Ihm und weder von Ihm noch untereinander zu trennen. „Die Strafe richtet sich aber nach der Schuld“, das verlangt die Gerechtigkeit. „Da aber die Schuld der Todsünde – weil der Sünder gegen das unendlich Gut, das heißt gegen Gott, dessen Gebote er verletzte, gesündigt hat – eine unendliche ist, so ist auch die der Todsünde gebührende Strafe unendlich.“ Das ist die Strafe der ewigen Verdammnis, die Höllenstrafe. „Aber Christus hat uns durch Sein Leiden diese Strafe abgenommen und selbst getragen.“ Hier eben erweist sich die wahre Barmherzigkeit Gottes, die Seiner Gerechtigkeit keinerlei Abbruch tut: daß Er selbst Seinen eingeborenen Sohn dahingab, um die Strafe für uns zu zahlen. „Unsere Sünden trug Er in Seinem Leibe“, wundert sich der heilige Petrus (1 Petr 2,24). „Denn das Leiden Christi hat solche Kraft, daß es hinreicht, alle Sünden der ganzen Welt zu sühnen, und wenn es auch Hunderttausende wären. Daher werden diejenigen, die die Taufe empfangen, von allen Sünden reingewaschen, und aus dem gleichen Grunde kann auch der Priester die Sünden nachlassen.“ Darum werden in der Taufe nicht nur die Sünden, sondern auch alle Strafen nachgelassen, und in der Beichte wird wenigstens ein Teil der Strafen erlassen und die ewige Strafe in eine zeitliche umgewandelt. „Und je mehr sich einer dem Leiden Christi gleichförmig macht, um so mehr wird er Verzeihung erlangen und Gnade verdienen.“ Das ist der Segen, der aus der Kreuzesnachfolge kommt.
Das fünfte Übel schließlich ist die „Verbannung aus dem Reiche Gottes“. „So wie diejenigen, die einen König beleidigen, gezwungen werden, dessen Reich zu verlassen, so wurde auch der Mensch wegen der Sünde aus dem Paradies vertreiben: gleich nachdem Adam gesündigt hatte, wurde er aus dem Paradiese gejagt und dessen Pforte geschlossen.“ Damit war auch der Himmel für die Menschheit verschlossen. „Aber Christus hat durch Sein Leiden jene Pforte wieder geöffnet und die Verbannten in das Reich zurückgerufen. Durch das Öffnen der Seite Christi ist auch die Pforte des Paradieses geöffnet worden, und das Vergießen Seines Blutes hat die Makel abgewaschen, Gott versöhnt, die Schwäche hinweggenommen, die Strafe getilgt und die Verbannten ins Reich zurückgerufen. Daher wurde dem Schächer gesagt: 'Heute noch wirst du bei Mir im Paradies sein!' Das wurde vorher noch keinem gesagt, nicht Adam, nicht Abraham, nicht David; aber gerade 'heute', das heißt als die Pforte geöffnet wurde, suchte und fand der Schächer Vergebung.“ „Zuversichtliche Hoffnung haben wir, in das Heiligtum einzugehen durch das Blut Christi“, sagt darum der heilige Paulus (Hebr 10,19).
4. Doch nicht nur als Heilmittel gegen die Übel der Sünde, sondern auch als Vorbild für das Leben ist uns das Leiden Christi von größtem Nutzen. „Wie der heilige Augustinus sagt, reicht das Leiden Christi hin, um unser Leben gänzlich durchzuformen. Wer nämlich vollkommen leben will, hat nichts anderes zu begehren als das, was Christus am Kreuz begehrte, und nichts anderes zu verachten als das, was Er verachtete; denn das Beispiel keiner einzigen Tugend ist dem Kreuze fern.“ Im Kreuz liegt die ganze Weisheit Gottes, wie uns der heilige Ludwig Maria von Montfort sagt. Es ist die Schule der Weisheit und der Gottesliebe.
„Suchst du ein Beispiel der Liebe, so denke an die Rede des Herrn: 'Eine größere Liebe hat niemand, als wenn er sein Leben für seine Freunde hingibt' (Jo 15,13). Dies hat Christus am Kreuz getan; und wenn Er sogar Sein Leben für uns hingab, sollte es uns nicht schwerfallen, um Seinetwillen jegliches Leiden auf uns zu nehmen.“ „Wie kann ich dem Herrn vergelten all das, was Er an mir getan?“ so betet der Priester bei der heiligen Messe mit dem Psalmisten (Ps 115,12), ehe er den Kelch mit dem Kostbaren Blut ergreift.
„Suchst du ein Beispiel der Geduld, so findest du das beste am Kreuze. Die Geduld erweist sich auf zweierlei Weise groß: entweder indem man Schweres geduldig erleidet oder indem man ein Leiden auf sich nimmt, das man vermeiden könnte. Christus hat am Kreuze große Leiden geduldig ertragen; Er hätte sie vermeiden können und hat es nicht getan. Seine Geduld am Kreuze war daher überaus groß.“ Die Größe der Leiden Christi deutet der Prophet Jeremias an in seinen Klageliedern: „O ihr alle, die ihr am Wege vorübergeht, achtet auf und seht, ob es einen Schmerz gibt wie meinen“ (Klag 1,12). Der Prophet Isaias schreibt: „Von der Fußsohle an bis zum Haupt ist nichts Heiles an Ihm“ (Is 1,6). Christus hat alle unsere Leiden getragen in einem für uns unvorstellbaren Ausmaß, und Er tat es in Geduld, denn „da Er litt, drohte Er nicht“ (1 Petr 2,23). Auch tat Er es in voller Freiheit und Freiwilligkeit. Darum: „Mit Geduld laßt uns dem uns vorgelegten Kampf zulaufen, den Blick auf Jesus gerichtet, den Urheber und Vollender des Glaubens, der das Kreuz statt der Ihm zu Gebote stehenden Freude auf Sich nahem, ohne der Schmach zu achten“ (Hebr 12,1).
„Suchst du ein Beispiel der Demut, so blicke auf zu dem Gekreuzigten. Denn obwohl Er Gott war, wollte Er von Pontius Pilatus gerichtet werden und sterben. Er, der der Herr und das Leben der Engel ist, wollte für den Diener, den Menschen sterben.“ „Da Er in der Gestalt Gottes war, dachte Er nicht, am Gleichsein mit Gott selbstsüchtig festhalten zu müssen, sondern Er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, wurde Menschen gleich und in seinem Äußeren wie ein Mensch erfunden; Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis in den Tod, den Tod am Kreuze“ (Phil 2,6-8). Und so: „Suchst du ein Beispiel des Gehorsams, so folge dem nach, der dem Vater gehorsam gewesen ist bis zum Tode. 'Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die vielen zu Gerechten gemacht' (Röm 5,19).“ „Und darum hat Ihn Gott so hoch erhoben und gab Ihm den Namen, der über jedem Namen ist, auf daß im Namen Jesu ein jedes Knie sich beuge im Himmel, auf Erden und unter der Erde, und jede Zunge bekenne 'Herr, Jesus Christus', zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,9-11).
Schließlich: „Suchst du ein Beispiel der Verachtung des Irdischen, so folge dem nach, der der König der Könige und der Herr der Herrschenden ist, in dem sich alle Schätze der Weisheit finden, und der dennoch am Kreuze hing: nackt, verspottet, angespien, geschlagen, mit Dornen gekrönt, mit Galle und Essig getränkt, tot.“ Als König und Herr der ganzen Welt stand Ihm alles zur Verfügung. Doch Er hat alles gering geachtet. „Hänge deshalb nicht an Kleidern, und an Reichtum, denn 'sie haben Meine Kleider unter sich geteilt'; nicht an Ehre, denn 'Ich habe Spott und Schläge erfahren'; nicht an Würde, denn 'sie flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf Mein Haupt'; nicht an Genüssen, denn 'in Meinem Durst tränkten sie Mich mit Essig'. Christus achtete als Mensch die irdischen Güter gering, um zu zeigen, was wir geringachten sollen.“