I. Ein hervorstechendes Merkmal unserer babylonischen Zeit ist die Konfusion, das Durcheinander, die Zersplitterung, die Parteiungen, das Fehlen jeder Einheit und Einigkeit, und das sogar unter den Katholiken. Es ist ja nicht erst seit der vatikanischen „Familiensynode“ so, daß wir es selbst unter den Würdenträgern mit verschiedenen Parteien zu tun haben. Da gibt es „Konservative“ und „Progressive“ und alle möglichen Schattierungen derselben, wobei heute ja schon einer als „konservativ“ gilt, wenn er die „Homo-Ehe“ ablehnt, mag er im übrigen jeden liturgischen Greuel einschließlich Ministrantinnen und Handkommunion praktizieren. Dann gibt es die „Bewegung der Tradition“ und darin auch wieder die verschiedensten Gruppierungen, die „Indultisten“, wie sie einer einmal nannte, d.h. „Motu proprio“-Fans, „Ecclesia Dei“-Gemeinschaften etc., „Lefebvristen“ wie die „Piusbruderschaft“ (die allerdings zunehmend zu den „Indultisten“ aufschließt und deren Platz der „Pius-Widerstand“ einzunehmen beginnt), und die „Sedisvakantisten“, wobei man hier wieder in „Opinionisten“, „Sedisprivationisten“ und „Totatlisten“ zu differenzieren pflegt. Das ist aber nur eine ganz grobe Einteilung und Klassifizierung. Tatsächlich scheint es inzwischen soviele Arten von Katholizismus zu geben wie es Katholiken gibt.
Wir wollen uns hier nicht die Mühe machen, eine Systematik all dieser unterschiedlichen Richtungen zu bieten. Uns geht es vielmehr darum, den Grund dieses Phänomens herauszuarbeiten. Das ist nicht weiter schwer, wissen wir doch, daß die Einheit der Kirche und damit die Einheit unter den Katholiken durch den Heiligen Geist gewirkt wird, welcher sich dazu Seines Organs par excellence bedient: des Papstes. Der Nachfolger Petri ist es, welcher die Einheit der Kirche herstellt und erhält. Darum ist auch der Zerfall der Einheit unter den Katholiken heute das deutlichste Zeichen, daß dieses Organ der Einheit ausgefallen ist. Anders ist der gegenwärtige Zustand schlicht nicht erklärlich.
II. Matthias Joseph Scheeben schreibt in seiner Abhandlung „Die theologische und praktische Bedeutung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes, besonders in seiner Beziehung auf die heutige Zeit“, wo er die Unfehlbarkeit des Papstes mit den übernatürlichen Eigenschaften der Kirche in Beziehung setzt: „Neben der Heiligkeit hebt Christus keine Eigenschaft Seiner Kirche so sehr hervor, wie die Einheit derselben. Wie er Seine Einheit mit dem Vater als Ideal der durch ihn zu vermittelnden Einheit der Menschen mit Gott und untereinander aufgestellt hat, und daher in der Eucharistie in so wunderbarer Weise die Glieder der Kirche mit sich selbst als ihrem Haupte zu einem Leibe vereinigt: so muß auch die Kirche in der Einheit ihres inneren Lebens und ihres äußeren Organismus diese innere Einheit ihres Wesens darstellen und verwirklichen.“
Er fährt fort: „Als der Leib Christi muß sie ein sichtbares Haupt haben, welches im Namen und in der Kraft Christi der Regulator ihres Lebens ist, wie Christus selbst die Quelle desselben, ein Haupt, mit welchem äußerlich die Glieder so notwendig zusammenhangen, wie sie innerlich mit Christus zusammenhangen, und durch dessen äußere, regulierende Tätigkeit die Einheit des Lebens ebenso in sich selbst erhalten und gefördert, wie nach außen dargestellt wird. Da nun die Einheit des Lebens in der Kirche zunächst und vor allem eine Einheit des Glaubens ist und sein soll: so muß das äußere Prinzip der kirchlichen Einheit so beschaffen sein, daß es wahrhaft der Regulator des Glaubens im ganzen Körper sein kann, daß dieser Glaube stets mit ihm übereinstimmen und zusammenhangen, d. h. von ihm geleitet und getragen werden kann und muß, und daß es folglich die Macht hat, die Übereinstimmung aller in demselben Glauben ebenso wohl zu bewirken und erhalten, als sie zu repräsentieren und darzustellen.“
Die Einheit der Kirche ist wesentlich Einheit im Glauben. Darum setzt die „Bedeutung und Stellung des äußeren Prinzips der kirchlichen Einheit“, nämlich des Papstes als ihrem sichtbaren Haupt, „notwendig voraus und kann nur daraus vollkommen verstanden und begriffen werden, daß dieses Prinzip in unzertrennlichem Zusammenhang und ungestörter Einheit und Übereinstimmung mit dem inneren Prinzip der kirchlichen Einheit, dessen Organ es ist, mit Christus und Seinem Heiligen Geiste verbunden bleibt, daß seine Lehre stets der wirkliche Ausfluß und der treue ungefälschte Ausdruck der Lehre der ewigen Wahrheit und ihres Geistes ist: sonst wäre die Einheit der Kirche nicht wesentlich eine Einheit der Wahrheit, in der Wahrheit und durch die Wahrheit. So wahr sie aber dieses ist, und so wahr zugleich ihr äußerer Organismus auf die vollkommenste Darstellung und Erhaltung der Einheit der Wahrheit berechnet sein muß: so wahr ist die übernatürliche Unfehlbarkeit des sichtbaren Oberhauptes der Kirche die wesentliche Bedingung und der vollkommenste Ausdruck der übernatürlichen Einheit der Kirche.“
Ohne das unfehlbare Lehramt des Papstes gäbe es die kirchliche Einheit nicht. Auch die eucharistische Gemeinschaft mit Christus hängt von der Unfehlbarkeit des Papstes ab. Denn wenn „die Glaubensgemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle die notwendige Bedingung der eucharistischen Gemeinschaft mit Christus ist, und dieselbe ihrerseits wieder durch die Unfehlbarkeit des Oberhauptes der Kirche bedingt wird: dann muß auch die letztere ebenso wesentlich in der übernatürlichen Einheit der Kirche enthalten sein, ihr zugrunde liegen und ihr Wesen offenbaren, wie die Eucharistie selbst: Nur deshalb kann die Einheit, die communio fidei mit dem Heiligen Stuhle die Bedingung der Gemeinschaft der Gnaden der Eucharistie sein, weil auf dem Heiligen Stuhle in der Person des Papstes derselbe Christus seine Schafe um sich selbst als den einen Hirten zu einer Herde versammelt, welcher in der Eucharistie als Speise des Lebens seine Schafe mit seinem eigenen Leibe und Blute nährt und sie dadurch mit sich zu einem geheimnisvollen Leibe vereinigt“.
Daraus folgt: „Nimmt man dagegen die Unfehlbarkeit des Papstes weg, dann muß sofort das Band der kirchlichen Einheit gelockert und zerrissen werden ... Die fundamentale Einheit der Kirche kann dann nicht mehr wesentlich in dem Zusammenhange und in der Verbindung mit einem gemeinschaftlichen Zentrum bestehen; die Einheit der Übereinstimmung in demselben Glauben und Leben wird nicht mehr durch die Kraft des gemeinschaftlichen Zentrums wirksam bestimmt und erhalten, wie sie auch nicht mehr durch dasselbe wirksam repräsentiert und geltend gemacht wird.“ In diesem Fall müßte es „entweder dem Heiligen Geiste überlassen bleiben, wie weit er ohne die organische Verbindung der Glieder mit dem Haupte die zerstreuten Glieder in der Einheit des Glaubens zusammenführen will, oder der freien Bewegung der einzelnen Menschengeister, wie weit sie sich noch aus freiem Entschlusse, ohne durch die Anziehungskraft des Zentrums bewältigt zu werden, sich zusammenfinden wollen“. Und ist das nicht eine Beschreibung der Situation, in welcher wir uns befinden?
Scheeben erklärt: „Wenn es schon auf diesem Wege faktisch gelänge, eine Einheit oder Übereinstimmung des Glaubens und der Lehre zu erzielen, so wäre diese zusammengewürfelte Einheit doch nicht die wirkliche Einheit der Kirche, bei der die Einheit des Lebens, wie beim organischen Körper, wesentlich durch den Zusammenhang eines Gliedes mit dem anderen und die Abhängigkeit von demselben bedingt wird.“ Deshalb erweist sich „die Herstellung einer allgemeinen, vollen und stetigen Übereinstimmung im Glauben ohne die wirksame Anziehungskraft des Zentrums als eine Unmöglichkeit; die freie Bewegung der menschlichen Geister zeigt sich tatsächlich als die fruchtbare Mutter unzähliger Glaubens- und Meinungsverschiedenheiten, und der Heilige Geist will, obgleich er es vermöchte, schon deshalb nicht durch seine innerliche Erleuchtung alle Kontroversen beseitigen, weil er die Menschen an die Kirche fesseln will, sie nicht wirksam fesseln könnte, wenn sie nicht bei seinen Organen in der Kirche die volle Gewißheit des Glaubens und die Lösung ihrer Kontroversen zu suchen hätten“. Da haben wir den Grund, warum es heute nicht gelingen will, die Katholiken wieder zu sammeln, zumal der „Geist der Zeit, der Geist Babels, d. i. der Verwirrung und Zerstreuung“ dem kräftig entgegenwirkt. Aber vielleicht haben wir hier auch den Grund, warum Gott diesen Zustand zugelassen hat, nämlich die Menschen durch das Erfahren des Mangels an Einheit wieder an die Kirche zu fesseln.
III. Das Gegenteil der wahren Einheit im Glauben ist allerdings nicht die Verwirrung und Zerstreuung, sondern der Zentralismus, die „Zentralisation“, wie Scheeben es nennt, „das Schoßkind des Liberalismus“. Er definiert: „Die Zentralisation im schlimmen Sinne des Wortes, bezeichnet die das Leben erstickende und vergiftende Einheit. Die erstickende Einheit besteht in der Unterdrückung der berechtigten Mannigfaltigkeit und selbständigen Bewegung der einzelnen Glieder eines Körpers durch die Obmacht des Zentrums, wodurch der lebendige Organismus zur Maschine herabgesetzt wird.“ Letztlich ist dies die Diktatur oder Tyrannei, in welcher der Liberalismus stets endet: „Eine solche Zentralisation betreibt und befürwortet der Liberalismus im politischen Leben überall, wo er die Macht erlangt; und wo er es vermochte, hat er es auf religiösem Gebiete, z. B. im Josephinismus, ebenso gemacht.“ So erleben wir heute etwa auf politischem Gebiet, daß gerade die „liberalsten“ Parteien am lautesten nach Gesetzen schreien, welche ihre Ideologie zur allen zwingend auferlegten Norm machen sollen.
„In der Kirche aber wird eben durch die Unfehlbarkeit des Inhabers der Zentralgewalt die unnatürliche Unterdrückung der einzelnen Glieder vonseiten derselben im Prinzip gebrochen und in der Praxis paralysiert. Wegen ihrer Unfehlbarkeit kann die höchste Gewalt in der Kirche keine die Rechte der einzelnen Glieder umstoßenden Grundsätze aufstellen und beharrlich durchführen; sie nährt vielmehr in den Gliedern das Bewußtsein der Wahrheit, mithin auch das Bewußtsein ihrer wahren Vorteile und Rechte; sie würde folglich bei der praktischen Verletzung der letzteren sich selbst im Wege stehen, und durch das von ihr selbst genährte Leben der Glieder gehindert werden, dieselben als bloße Maschine zu behandeln.“ Gerade die päpstliche Unfehlbarkeit ist der beste Schutz gegen Tyrannei und Diktatur. „Zudem kann die Zentralgewalt der Kirche, so lange sie durch die Anerkennung ihrer Unfehlbarkeit bei allen Gliedern die Interessen der Wahrheit und den festen Anschluß an sie selbst gesichert weiß, desto leichter eine reiche Mannigfaltigkeit in der praktischen Anwendung und Darstellung der Wahrheit und eine freiere Bewegung in der kirchlichen Disziplin gestatten, während alle übrigen Zentralgewalten (wie z. B. die der orientalischen schismatischen Kirchen und die der Staaten), weil sie dieses Vertrauen nicht besitzen, desto mehr darauf bedacht sein müssen, die Erhaltung der Einheit der Gesellschaft durch unmittelbare Leitung und skrupulöse Normierung aller Einzelheiten des sozialen Lebens zu sichern und geltend zu machen.“ Daher die Sparsamkeit der Kirche mit ihren Gesetzen, die allesamt in ein kleines Büchlein passen, während die Gesetzesflut der bürgerlichen Gewalten von Tag zu Tag anschwillt und kaum mehr in einer Bibliothek Raum finden will.
„Noch mehr als die erstickende, verhindert die Unfehlbarkeit der kirchlichen Zentralgewalt die vergiftete und vergiftende Einheit, welche durch die Herrschaft eines falschen Zentrums, d. h. einer gesetzlosen eigensüchtigen Partei hervorgebracht wird, wie sie der Liberalismus ebenfalls überall, wo er kann, ins Werk setzt.“ Das geschieht durchaus auch in „Traditionalisten“-Kreisen, wo sich selbsternannte „kirchliche Obere“ zu unumschränkten Willkürherrschern aufschwingen. „Die Unfehlbarkeit bewirkt nämlich, daß die kirchliche Zentralgewalt niemals die Launen einer menschlichen Partei zu Grundsätzen des ganzen Lebens der Kirche machen, daß niemals der Einfluß der Partei bei ihr den Einfluß des Heiligen Geistes ganz verdrängen und aufheben und sich an die Stelle des Heiligen Geistes setzen kann, und daß, wenn schon auf dem Gebiete der Disziplin lokale, persönliche oder nationale Einflüsse sich in störender Weise geltend machen können, gleichwohl das Prinzip, durch welches dieselben paralysiert und gehemmt werden können, immer unangetastet bleibt.“
Scheeben gelangt zu dem Schluß: „Im Grunde ist es also nicht die Furcht vor der 'Zentralisation' durch den Papst, sondern die Furcht vor der Durchkreuzung der eigenen Zentralisationsgelüste, namentlich der Gelüste, die ganze Kirche nach 'den modernen Ideen' gewisser Gelehrten und Politiker einzurichten, was das Geschrei gegen die Unfehlbarkeit des Papstes veranlaßt.“ Und steckt nicht eine ähnliche Furcht dahinter, wenn man, um ein „Widerstandsrecht“ gegen den als legitim anerkannten Papst zu behaupten, zwar nicht direkt die Unfehlbarkeit des Papstes leugnet, aber doch sie minimalisiert und in immer engere Schranken weist, weil sie ja angeblich so sehr übertrieben worden sei?
Uns jedenfalls scheint damit genug gesagt, um einzusehen, wie dringend wir dieser so überaus wohltuenden wahren Einheit im Glauben bedürften, und woran es liegt, daß sie uns Katholiken verlorengegangen ist. (Wohlgemerkt: Sie ist uns Katholiken derzeit verlorengegangen, nicht aber der Kirche als solcher, welche sie unverlierbar besitzt. Nicht die Kirche hat ihr unfehlbares Papsttum verloren, sondern uns fehlt derzeit sein aktueller Träger.) Wie sehr müssen wir also den Himmel bestürmen, daß er endlich Erbarmen mit uns hat und uns wieder einen wahren Hirten, einen wahren „Heiligen Vater“ schenke. Nur durch ihn werden wieder alle Katholiken guten Willens in die Einheit des Schafstalls Christi geführt werden, um dort einträchtig ihre Weide zu finden.