Richtig glauben

Für einen Katholiken ist es ohne Zweifel heute sehr schwer geworden, seinen Glauben zu bewahren. Die sog. Moderne – also die besondere Art wie der sich modern nennende, denkende und lebende Mensch seine Welt eingerichtet hat – hat nämlich das Verständnis vom Glauben völlig verändert, weshalb ein Katholik mit seinem Glauben vollkommen an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden ist. Weil jedoch jeder Katholik wenigstens in gewissem Maße immer auch ein moderner Mensch ist, ist er doch in vielerlei Hinsicht gezwungen, sich im praktischen Leben an die Moderne anzupassen, läuft er ständig Gefahr, seinen Glauben unbemerkt so zu verändern, daß er ebenfalls nicht mehr im katholischen, sondern im modernen Sinne glaubt. Mit anderen Worten, er verliert seinen übernatürlichen Glauben und bewahrt nur noch einen rein natürlichen – dem er sodann nur noch mehr oder weniger das Etikett „übernatürlich“ aufklebt, weil er auch noch katholisch sein möchte. Weil diese Gefahr inzwischen überall lauert, wollen wir uns damit etwas eingehender befassen.

Kardinal John Henry Newman, der vom Anglikanismus zur katholischen Kirche konvertiert ist, sich also notwendigerweise mit der Besonderheit des katholischen Glaubens auseinandersetzen mußte, beschreibt im Jahre 1879 die Lage in folgender Weise: „Es ist mir eine wahre Freude, sagen zu dürfen: Von Anfang an habe ich gegen ein großes Zeitübel gekämpft: seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren bemühe ich mich nach meinen besten Kräften, den Geist des Liberalismus im Religiösen abzuwehren. Dringender denn je hat die Heilige Kirche Streiter nötig, die den Kampf dagegen aufnehmen, denn - leider! - will ein Irrtum, einer Schlingpflanze gleich, die ganze Welt überwuchern... Liberalismus im Religiösen bedeutet, daß es im Bereich der Religion keine positive Wahrheit gebe. Jedes Credo könne neben dem anderen als gleichwertig bestehen. Diese Lehre gewinnt täglich an Substanz und Überzeugungskraft. Es ist für sie völlig ausgeschlossen, eine Religion anzuerkennen, die den Anspruch erhebt, die wahre zu sein. Der Liberalismus fordert, daß Toleranz gegenüber allem und jedem geübt werden müsse, weil alles nur eine Sache der verschiedenen Meinung sei: die geoffenbarte Religion sei keine Wahrheit, sondern Gefühl und Geschmackssache, nicht eine objektive Wirklichkeit, nichts Übernatürliches: und jeder einzelne habe das Recht, das auszudrücken, was im Augenblick seine Phantasie anspreche. Frömmigkeit gründe nicht notwendigerweise auf Glaube. Man könne in protestantische und katholische Kirchen gehen, von beiden Gutes bekommen, und doch zu keiner von beiden gehören. Sie können in geistlichen Gesprächen und Gefühlen brüderlich zusammen sein, ohne auch nur einen Blick auf die Frage der gemeinsamen Lehre zu werfen oder deren Notwendigkeit zu sehen. Weil also die Religion für jeden so durchaus persönliche Sache und sein Privatbesitz sei, müßten wir notwendigerweise im Verkehr von Mensch zu Mensch davon absehen...“

1. Glaube und Glaube ist nicht gleich: Notwendige Unterscheidungen

Zum Selbstverständnis des modernen Menschen gehört es, sich einzubilden, also im modernen Sinne irrational zu glauben, er sei allen vergangenen Zeiten weit überlegen, er sei also gebildeter, freier, aufgeklärter, sittlich vollkommener usw. als alle früher lebenden Menschen. Ganz besonders nährt der heutige Mensch diese Einbildung gegenüber dem „dunklen Mittelalter“, das bei den meisten Zeitgenossen als das Beispiel schlechthin einer primitiven, dümmlich-naiven, ja barbarischen Welt gilt. Dieses Klischee des dunklen Mittelalters braucht der moderne Mensch, um die Einbildung von seiner angeblichen Überlegenheit lebendig halten zu können. Man braucht nur an entsprechende Filme zu denken, die diese dümmlich-primitive Geschichtsfälschung mehr oder weniger gekonnt auf die Leinwand bannten, um zu verstehen, auf welch schwachen Füßen das Ganze steht.

Während also nach dem Urteil heutiger Menschen der mittelalterliche Mensch noch besonders primitiv gewesen sein soll, weil er noch an Gott und an die Kirche als göttliche Institution glaubte und deswegen in Glaubens- und Sittenfragen seiner Kirche gehorchte, empfindet es derselbe moderne Mensch als durchaus nicht primitiv, wenn er sein „Wissen“ großteils aus einem rechteckigen Kasten bezieht, der die Fähigkeit hat, bewegte Bilder und dazu passende Töne wiederzugeben. Dabei glaubt der moderne Mensch diesem rechteckigen Kasten viel blinder als der mittelalterliche Mensch vermeintlich seiner Kirche geglaubt haben soll, ohne auch nur im Ansatz in Erwägung zu ziehen, daß das ihm dargebotene „Wissen“ von einer verschwindend kleinen Interessengruppe kontrolliert wird, deren erstes Ziel es ist, möglichst viel Geld zu verdienen und dementsprechend das Verhalten der Masse zu steuern.

Ein mittelalterlicher Mensch hätte diesem Kasten wohl nichts geglaubt, weil ihm die Anonymität dieses „Wissens“ unheimlich erschienen wäre, während der moderne Mensch tatsächlich das, was doch zunächst immer nur Illusion sein kann und auch ist, ganz naiv für wahr und für wirklich hält, obwohl er die Wahrheit oder Wirklichkeit des Gesehenen und Gehörten anhand der gesehenen Bilder und der gehörten Töne niemals wird beurteilen können.

Die modernen Medien nützen hier kaltblütig eine Grundbefindlichkeit des menschlichen Lebens aus: Jeder Mensch muß glauben! Je weniger man sich über diesen Sachverhalt Rechenschaft ablegt, desto leichter ist man bereit, irgendjemandem irgendetwas zu glauben. Ohne Glauben gibt es auch kein umfangreicheres Wissen. Denn normalerweise hat niemand die Zeit oder auch die Möglichkeit, alles, was er von anderen erfährt, persönlich nachzuprüfen. Solches gelingt höchstens einem Fachmann in seinem sehr eng umgrenzten Wissensbereich, wobei selbst dieser Fachmann sich auf eine ganze Reihe von nicht hinterfragten Voraussetzungen oder Grundlagen stützen muß, die von seiner Wissenschaft mehr oder weniger unbefragt allgemein anerkannt werden.

Je gründlicher darum das Wissen eines wahren Fachmannes ist, desto klarer sieht dieser wahrhaft Wissende ein, wie viel er nicht weiß, weil er mit seinem durch vieles Studium erweiterten Wissen immer auch umso mehr ungeprüfte Voraussetzungen akzeptieren mußte. Er hat es immer klar vor Augen: einen Großteil meines „Wissens“, besitze ich allein aufgrund von Glauben. Was diese Einsicht in einer solcherart ideologisierten modernen Welt bedeutet, verstehen wohl nur ganz wenige wahrhaft Gebildete, die man früher Philosophen nannte, also Liebhaber der Weisheit. An einen echten Philosophen wollen wir uns deswegen auch anlehnen, wenn nun wir unseren Gedanken weiter ausfalten.

2. Begriffsbestimmung

In seinem Büchlein „Über den Glauben“ beschreibt Josef Pieper den Glauben folgendermaßen: „Glauben heißt immer: jemandem etwas glauben (vgl. Thomas von Aquin II,II, 129,6). Der im strikten Wortsinn Glaubende akzeptiert, auf das Zeugnis von jemand anderem hin, einen Sachverhalt als wirklich und wahr. Das ist der grundrißhaft vollständige Begriff von Glauben.“

Glauben zielt also nicht zunächst auf den zu glaubenden Sachverhalt, sondern auf die Person desjenigen, der diesen Sachverhalt beglaubigt, wie man es in der deutschen Sprache so treffend ausdrückt. Mithin ist ein Glaube nur dann vernünftig, wenn der Zeuge des zu glaubenden Sachverhalts glaubwürdig ist, also entsprechende Voraussetzungen mit sich bringt, das zu Glaubende recht, wahr, sicher, zweifelsfrei zu bezeugen. Damit man jemandem vernünftigerweise Glauben schenken kann, muß dieser ein entsprechendes Wissen von der Sache haben und zudem bereit sein, dieses Wissen anderen mitzuteilen. Somit kann man im menschlichen Bereich im ganz strengen Sinne nur demjenigen Glauben schenken, den man entsprechend genau kennt, dessen Glaubwürdigkeit man deswegen auch beurteilen kann.

Sobald man diese Einsicht ernst nimmt, muß man sich wohl eingestehen, in wie vielen Fällen von Glaubensleistung man im Leben äußerst leichtgläubig war – womöglich sogar bei den meisten. Dieses Selbstkennen des anderen ersetzt im wissenschaftlichen Bereich gewöhnlich die Anerkennung durch die sog. wissenschaftliche Welt. Wobei einem sogleich die Fragwürdigkeit einer solchen Anerkennung klar wird, sobald ein Wissenschaftsbetrieb ideologisiert ist – und welcher Wissenschaftsbetrieb ist das heute nicht, d.h. welcher Wissenschaftsbetrieb ist nicht von Fremdinteressen abhängig und mag dieses Fremdinteresse auch nur Geld heißen? Wenn ich etwa für die Atomindustrie ein Gutachten über die Gefahrlosigkeit der Atomtechnik für Mensch und Umwelt erstellen soll, dann mag ich mit noch so viel Wissen und guten Willen an die Arbeit gehen, das Ergebnis steht immer schon fest, unsere Atomkraftwerke sind auf jedem Fall sicher.
Darum ist es leicht einsichtig, jemand verdient umso mehr Glauben, je mehr er durch sein Leben zeigt, es geht im ausschließlich um die Wahrheit – und nicht etwa um Anerkennung, Ruhm, Einfluß, Macht, usw.

Greifen wir nochmals auf Josef Pieper zurück, um das Gesagte zusammenzufassen: „Würde man einen wahrhaft Glaubenden fragen: Was eigentlich glaubst du? – dann bräuchte er nicht so sehr inhaltlich einzelnes zu nennen; sondern er müßte, falls er ganz präzis sein wollte, auf seinen Gewährsmann zeigen und zur Antwort geben: Ich glaube das von Jenem Gesagte. Damit hätte er das entscheidende gemeinsame Merkmal aller von ihm im einzelnen geglaubten Sachverhalte genannt, das, was ihn veranlaßt, sie alle für wahr zu halten; er hätte den Grund angegeben, weswegen er das einzelne als Wahrheit akzeptiert. Der Grund ist nämlich nichts anderes als daß jener Jemand es so gesagt hat. 'In allem Glauben ist der, dessen Aussage man zustimmt, das Entscheidende [principale]; demgegenüber sind die Inhalte, denen man zustimmt, in gewissem Sinn sekundär' - so Thomas von Aquin in seinem Traktat über den Glauben.“

Dieser Gedanke Josef Piepers spitzt den Begriff des Glaubens auf das Wesentliche zu, wodurch uns das Entscheidende faßbar wird: Im Glauben verläßt man sich ausschließlich auf das Urteil dessen, dem man Glauben schenkt. Wobei im täglichen Leben dieses Eigentliche meist verdeckt wird, da wir dem anderen normalerweise zwar glauben und trauen, aber durchaus nicht ausschließlich „auf sein Wort hin“ Glauben schenken, sondern weil das Gesagte etwa zu dem schon Gewußten stimmt und es deswegen eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit für dessen Richtigkeit gibt, usw.

Lassen wir nun nochmals Josef Pieper in einem etwas längeren Text aus seinem Büchlein über den Glauben unseren Glaubensbegriff präzisieren: „Wenn wirklich jenes Äußerste einmal zuträfe [daß nämlich einer, ohne jeden Anhaltspunkt sonst, aus keinem anderen Grund, als weil jemand anders so sagt, etwas vorbehaltlos als Wahrheit akzeptierte], dann müßte der in solch radikalem Sinn Glaubende konsequenterweise alles, was sein Gewährsmann etwa sonst gesagt hat oder in Zukunft noch sagen wird, gleichfalls für wahr halten. Dies aber braucht man nur einen Augenblick zu bedenken, und schon ist über allen Zweifel klar: So etwas kann es legitimerweise im Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht geben. Glaube in jenem äußersten Sinn, wie ihn der Ausdruck 'an jemanden glauben' spiegelt, darf unter mündigen Menschen weder geleistet noch gefordert werden. [Das unmündige Kind glaubt, was die Mutter sagt, aus keinem anderen Grund, als weil sie es sagt. Daß es aber für das Kind keinen anderen Grund gibt, etwas für wahr zu halten: genau dies macht seine Unmündigkeit aus.]“

Wir Katholiken glauben zwar anderen Menschen, insoweit sie glaubwürdig sind, aber wir glauben niemals an sie. Mit diesem „an jemanden Glauben“ würde eine Sekte begründet. Ein Mensch würde zum Maß aller Dinge erhoben, seine Anhänger würden ihm deswegen in allem kritiklos folgen und wären zudem bereit, alles zu tun, was er sagt – nur aufgrund der Tatsache, daß er es gesagt hat. Josef Pieper bringt in seinem Buch ein Beispiel aus „Grimms Deutschem Wörterbuch“: „in dem Artikel 'Glauben', der erst im Jahre 1936 erschienen ist, findet man diese Grenzüberschreitung folgendermaßen beschrieben: 'Aus dem Bereich des Übernatürlich-Religiösen wird «Glaube» im 18. Jahrhundert mit besonderem Sinngehalt auf das Gebiet des Natürlich-Diesseitigen übertragen und bedeutet hier zumeist ein starkes gefühlsmäßiges Verhältnis zu innerweltlichen Werten, Idealen, Persönlichkeiten usw., das an innerer Kraft und sittlichem Gehalt dem religiösen «Glauben» verwandt erscheint' – wofür dann folgende sprachliche Belege angeführt werden: 'Glaube an sich selbst', 'Glaube an die Menschheit', 'Glaube an Deutschland', 'Glaube an den Führer'.“

Diese Gedankenreihe zeigt, wie einerseits das Wissen über den wahren, übernatürlichen Glauben von Generation zu Generation immer mehr verloren ging und wie man dadurch anderseits geneigt wird, Eigenschaften, die nur dem übernatürlichen Glauben zukommen, fälschlicher Weise auf andere Bereiche zu übertragen. Von „Glaube an sich selbst“, über „Glaube an die Menschheit“, wobei ein weiterer Wesenszug des Glaubens verfälscht wird, Glaube geht auf eine konkrete Person und nicht auf ein Abstraktum, wie etwa die Menschheit, gelangt man zu „Glaube an Deutschland“, und endet schließlich bei „Glaube an den Führer“. Die Voraussetzung für diesen letzten „Glauben“, der ein ganzes Volk in unermeßliches Unglück gestürzt hat, ist, daß der Begriff des Glaubens als solcher bei den meisten Menschen schon ins Irrationale verformt worden ist. Da dieser „Glaube“ keine vernünftige Basis mehr hat, wird man schließlich bereit, jemandem alles zu glauben und zudem alles zu tun, was dieser sagt. Falscher Glaube führt normalerweise zu blindem Gehorsam.

Es ist also eine ganz entscheidende, festzuhaltende Einsicht: Unter Menschen gibt es niemals einen absoluten, rückhaltlosen Glauben. Diese Art des Glaubens verstieße gegen die Natur des Menschen. Der Mensch als endliches Wesen mit endlichem, also immer auch beschränktem Wissen, woraus eine vielfache Möglichkeit des Irrtums resultiert, verdient niemals absoluten Glauben. Deswegen ist Glaube im vollen und strikten Sinn nur möglich, wenn es Jemanden gibt, der unvergleichlich höher über dem mündigen Menschen steht als dieser über einem unmündigen Kind, und daß dieser Jemand auf eine dem Menschen vernehmliche Weise gesprochen hat. Ein solcher „Jemand“ ist aber allein Gott.

3. Glaube an Gott

Sobald Gott ins „Spiel“ kommt – für den modernen Menschen ist fast alles nur noch Spiel – wird es schwierig, weil sodann nicht mehr die nüchterne Vernunft ausschlaggebend ist – auch wenn dieser moderne Mensch sich bei seinem Unglauben noch so nüchtern und vernünftig vorkommt – sondern der vom Gefühl fehlgeleitete Wille. Glauben kann man immer nur freiwillig, denn wie der hl. Thomas von Aquin es in seiner knappen, aber ganz präzisen Weise sagt: Beim Glauben finde sich ein Element der Vollkommenheit und eines von Unvollkommenheit; die Vollkommenheit liege in der Festigkeit der Zustimmung, die Unvollkommenheit liege darin, daß kein Sehen zustande komme; dies habe aber zur Folge, daß im Glaubenden eine Art „Denk-Unruhe“ zurückbleibe. Im Gegensatz zum Schauenden hält der Glaubende die geglaubte Wahrheit nur mit dem Willen fest, weil sein Verstand die Wahrheit nicht fassen kann – was für alle sog. Geheimnisse des Glaubens im strikten Sinne des Wortes gilt. Darum kann man ohne Übertreibung endlos über solche geheimnisvollen Wahrheiten nachdenken, sie immer und immer wieder betrachten. Oder mit den Worten des hl. Thomas ausgedrückt: „Die Bewegung [des Geistes] ist noch nicht gestillt; vielmehr ist in ihm noch immer forschendes Bedenken dessen, was er glaubt – wiewohl er doch dem Geglaubten mit völliger Festigkeit zustimmt.“

Beim religiösen Glauben kommt etwas hinzu, was im alltäglichen Glauben fehlt. Die Glaubenszustimmung zu einem sich offenbarenden Gott ist nicht neutral in dem Sinne, daß sie das eigene Leben unangetastet ließe. Glauben heißt immer auch sich bekehren, also das Leben zum Besseren ändern. Deswegen ziehen es die meisten Menschen heute vor, nicht zu glauben, weil sie ihr Leben nicht entsprechend dem Wort Gottes ändern wollen. Gott darf ihnen nicht zu nahe treten, sie denken: „Ein unpersönlicher Gott: schön und gut! Ein Gott des Wahren, Schönen und Guten hinter der eigenen Stirn: das ist noch besser! Eine gestaltlose Lebenskraft, aus der wir schöpfen können: das ist von allem das Beste! Aber Gott selber, der Lebendige, der am anderen Ende der Schnur zieht, der vielleicht mit ungeheurer Schnelligkeit auf uns zukommt, der Jäger, der König, der Bräutigam – das ist etwas ganz und gar anderes. Es kommt ein Augenblick, da Menschen, die in ‚Religion‘ herumgestümpert und Gott ‚gesucht‘ haben, plötzlich erschreckt zurückfahren: Angenommen, wir hätten ihn gefunden? Schlimmer noch, angenommen, er hätte uns gefunden? Das ist dann eine Art Rubikon (=Grenzfluß). Der eine überschreitet ihn, der andere nicht. Aber wenn man ihn überschreitet, dann gibt es keine Sicherheit gegen Wunder.“ So C. S. Lewis in seinem Buch über das Wunder.

Sobald Gott aus der Anonymität heraustritt, und für uns persönliche Wirklichkeit wird, „gibt es keine Sicherheit gegen Wunder“ mehr. C.S. Lewis spricht damit etwas ganz Entscheidendes an: Ein Gott, der Wunder wirkt, muß ernst genommen werden, denn er bewegt wahrhaft die Geschicke unserer Welt. Ein Gott dagegen, dem man die Fähigkeit, Wunder zu wirken, abspricht, ist nicht der Rede wert. Denn wie sollte dieser Gott noch irgendetwas in meiner Welt bewegen können, verändern können, eingreifen können? Ein Gott, der keine Wunder wirkt, ist nur der Spielgefährte meiner eigenen Gedanken, Wünsche, Phantasien, einen solchen Gott kann man getrost aus der eigenen Lebensplanung streichen.

Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß die Modernisten ihrem Gott die Fähigkeit, Wunder wirken zu können, abgesprochen haben. Damit zeigen sie jedem, der es sehen möchte, daß ihr Glaube kein wahrer Glaube mehr ist und sein will. Die Modernisten glauben an keinen echten Gott, einen Gott, der ihnen wirklich etwas zu sagen hätte. Nein, sie lassen ihren Gott immer nur das sagen und tun, was sie ihm gemäß ihrer eigenen Ideologie zugestehen wollen. Nicht Gott ist das Maß ihres Glaubens, sondern ihr Glaube ist das Maß ihres Gottes. Ideologie ist wesentlich selbstverschuldete Verblendung, darum ist sie immer mit Wahrnehmungsstörungen verbunden. Es könnten noch so viele Wunder auf der Welt geschehen und es sind wahrlich im Laufe der Jahrhunderte viele und große Wunder geschehen, ein Modernist wird dennoch keines davon wahrnehmen, denn Wunder kommen in seinem Denksystem ganz einfach nicht vor, also gibt es auch keine Wunder in der Geschichte, Wunder sind nur Projektionen der eigenen Glaubensvorstellung in die Welt hinein. Gemäß dieser ideologischen Vorgabe liest der Modernist alle Wunder aus der Heiligen Schrift und dem Leben der Heiligen feinsäuberlich aus, sodaß plötzlich ein echter Gott, der wirklich Wunder wirkt, für ihn eine ernsthafte Bedrohung ist.

Wenn aber Gott wirklich existiert und zwar nicht als ein Was, sondern als ein „Wer“, also als ein Jemand, der reden kann, dann gibt es auch keine „Sicherheit“ gegen das Wunder der Offenbarung! Warum sollte dieser Gott, der die ganze Welt geschaffen hat, nicht zu seinen Geschöpfen reden können und wollen? Wenn Gott aber redet, dann ist die einzig sinnvolle, vernunftgemäße Antwort des Menschen darauf Glauben! In dem umfangreichen Werk des Jesuiten Julius Beßmer, „Theologie und Philosophie des Modernismus“ ist zu lesen: „Soll der Glaube vernünftig sein, so muß er auf der Überzeugung beruhen, daß Gott gesprochen hat. Erst dann kann ich gewisse Wahrheiten auf Gottes Wort und Autorität hin annehmen, wenn ich mich überzeugen kann, daß Gott sie geoffenbart hat. Wo sind nun diese Beweise für die Tatsache einer göttlichen Offenbarung? Die katholische Theologie und mit ihr die ganze alte Apologetik sah die sichersten und zuverlässigsten Beweise in den Wundern, welche zur Beglaubigung der Offenbarung gewirkt wurden, und in der Erfüllung von Prophezeiungen, auf die sich Moses, die Propheten, der Heiland selber und seine Apostel berufen hatten. In diesen Wundern und Prophezeiungen sah man das göttliche Siegel für die Wahrheit der Offenbarung.“

4. Glaube an den menschgewordenen Gott

Nun hat aber Gott nicht nur irgendwie mit uns Menschen geredet, sondern: „Vielmals und auf vielerlei Weise hat Gott vor Zeiten durch die Propheten zu den Vätern gesprochen; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben über das All eingesetzt, durch den er auch die Welten erschaffen hat. Dieser ist der Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens und trägt das All durch sein machtvolles Wort. Nachdem er die Reinigung von den Sünden vollzogen hatte, hat er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt“ (Hebr. 1,1-3).

Die heilige Kirche hat diesen Text aus dem Brief des hl. Apostels Paulus an die Hebräer zur Lesung der dritten Messe des hl. Weihnachtsfestes bestimmt. Gott ist wahrer Mensch geworden und hat „zu uns gesprochen durch den Sohn“. Ist ein unmittelbareres Sprechen Gottes mit seinem Geschöpf denkbar? Nein! Wenn also Gott zu uns durch Seinen Sohn gesprochen hat, dann müssen wir Ihm glauben! Wir müssen Seine Worte als wahr annehmen, denn wie der hl. Ambrosius ganz zu Recht fragt: „Wem sollte ich in bezug auf Gott eher glauben als Gott?“ Eine nur allzu treffende Frage, auf die man natürlich nur antworten kann: In bezug auf Gott gibt es nichts Vernünftigeres als dem Wort Gottes vorbehaltlos zu glauben!

So einfach dies scheint und in Wirklichkeit auch ist, so schwierig erscheint ein solcher Glaube heute! Denn die sog. Moderne hat die Einfachheit des Glaubens zerstört. Der moderne Mensch kann nicht mehr einfach glauben, weil er selbst allzu kompliziert ist, lebt er doch in einem geistigen Chaos. Dieses Chaos verdanken wir der geistesgeschichtlichen Fehlentwicklung der letzten Jahrhunderte.

Zunächst hat der Zweifel die Grundlagen des übernatürlichen Glaubens zerfressen. Schon im Jahre 1877 beobachtet John Henry Newman voller Sorge die Endphase dieser Entwicklung: „Der religiöse Skeptizismus breitet sich unheilvoll aus -, und das große Unglück besteht darin, daß von vornherein eine allgemeine Neigung zur Seite des Unglaubens vorherrscht, da er vernünftiger und wahrscheinlicher zu sein scheint. Ein Gedanke gewinnt die Oberhand, nämlich daß große Wandlungen kommen werden, sodaß die Menschen an den Atheismus glauben, bevor sie die Offenbarung entdeckt haben...“

Und an einer anderen Stelle klagt er: „Ich sehe darin [nämlich im Skeptizismus] eine wirkliche Seuche, seltsam um sich greifend. Sie breitet sich nicht durch einsichtige Gründe, sondern durch Einbildung aus. Diese täuscht nämlich eine mögliche und glaubhafte Sicht der Dinge vor, welche den Geist verfolgt und ihn schließlich überwältigt. Es beginnt damit, daß man sich die Frage stellt: 'Wie können wir sicher sein, daß dies nicht so ist?' Dieser Gedanke verbirgt vor unserem Geiste das wirklich vernünftige Fundament, auf welchem unser Glaube gründet. Damit geben wir unseren Glauben auf. Und wie kann er überhaupt noch zurückgewonnen werden, wenn nicht allein durch ein wundervolles Eingreifen der Gnade Gottes. Möge Gott uns alle vor diesem schrecklichen Trug der letzten Tage bewahren! Ich blicke mit großer Besorgnis - ja, ich muß sagen mit Bangen - auf die nächste Generation.“

Der Skeptizismus, die Zweifelsucht, „verbirgt vor unserem Geiste das wirklich vernünftige Fundament, auf welchem unser Glaube gründet“. Wenn aber der Glaube kein vernünftiges Fundament mehr hat, dann ist er nicht mehr tragfähig für die göttliche Offenbarung. Der wahre, göttliche Glaube löst sich unaufhaltsam in ein irrationales, gefühlsmäßiges Meinen auf. Wir haben das Ende dieser Entwicklung miterlebt als der Modernismus mit dem „2. Vatikanum“ die Bastionen geschliffen hat und wie eine Springflut alle kirchlichen Bereiche erfaßte. Es gibt seither nur noch sehr wenige wahre Katholiken, also Glaubende, die noch im katholischen Sinne unterscheidungsfähig sind, weil sie ihren theologischen Glauben bewahrt haben. Ein Katholik ist seinem Wesen nach ein Antimodernist.

Mit der Zweifelsucht verbindet die Moderne die Sucht nach ständiger Neuerung. Durch diese Sucht wird die Fähigkeit, Wahres noch als zeitlos wahr zu erkennen und anzuerkennen, erstickt. Auch das beschreibt John Henry Newman schon im Jahre 1832 in einem seiner Essays erstaunlich treffend: „Einem kultivierten Geist, der sich an der Mannigfaltigkeit der Literatur und des Wissens sowie an den stets anwachsenden Entdeckungen der Wissenschaft erquickt und am immer frischen Zustrom von Informationen aus der Politik und den verschiedenen Ländern interessiert ist, dem wird die Religion im allgemeinen aus Mangel an Neuigkeiten langweilig vorkommen. Darum sucht er unentwegt, was sein Gefühl erregt, und geht darin auf. Immer hat er neue Gegenstände im Religiösen, neue Systeme und Pläne, neue Lehren, neue Prediger nötig, um jene Gier zu befriedigen, welche die sogenannte Verbreitung des Wissens geschaffen hat. Der Geist wird krankhaft empfindlich und wählerisch; unzufrieden mit den Dingen, wie sie sind, begierig nach Abwechslung als solcher, so als müßte die Veränderung an sich schon eine Abhilfe darstellen.“

Modern sein wollen heißt, Tag für Tag anders sein zu müssen. Nichts haßt der moderne Mensch so sehr wie die Beständigkeit und nichts liebt er so sehr wie die Veränderung. Was soll da noch ein ewiger gleichbleibender Glaube? Ein ewig unveränderlicher Gott? Wie sollte dieser ewig unveränderliche Gott bei diesen unruhevollen, ständig gehetzten Menschen noch Gehör finden? Wie sollten Seine göttlichen Worte noch auf einen fruchtbaren Boden fallen können? John Henry Newman gibt mit dem hl. Paulus zu bedenken: „Der Glaube kommt aus dem Hören [vom Hören], aus dem Wort Gottes. Rationalisten sind jene Menschen, die sich mit den Schlußfolgerungen ihrer eigenen Überlegungen begnügen, wir aber sind 'auf Grund des Glaubens gerettet'. Selbst bei Fällen und Personen, bezüglich derer wir zu wahren Schlußfolgerungen gelangen können, dürfen diese Folgerungen nur auf Grund des festen Bewußtseins geglaubt werden, daß ‚Gott gesprochen hat‘. Es kann sein, daß ein Mensch ein echter Theist [ein Gottgläubiger im weitesten Sinne des Wortes] und ohne jeden Falsch ist, doch muß er darum noch nicht gläubig [im katholischen Sinne] sein. Was ihm zum Glauben noch fehlt, ist die Gnade Gottes, die er als Antwort auf das Gebet empfängt.“

Der wahre Glaube führt uns zu einer wahren Gottesbegegnung. Gott ist plötzlich keine bloße Theorie, keine Idee, kein genialer Einfall mehr, sondern persönliche Wirklichkeit, oder noch genauer gesagt, geheimnisvolle dreipersönliche Wirklichkeit. Wir erfassen diese Wirklichkeit Gottes unmittelbar im Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes! Wenn Gott wahrhaft Mensch geworden ist, dann ist Gott kein Unbekannter mehr, kein Fremder mehr, vielmehr ist Er jedem sichtbar geworden. Wenn jemand nach Gott fragt, kann ich ihm sagen: Du mußt nur hingehen und Ihn anschauen, etwa jetzt in der Weihnachtszeit als Kind in der Krippe. Darin liegt der Zauber der hl. Weihnacht begründet, wie es die Präfation so unnachahmlich schön ausdrückt: „Denn die geheimnisvolle Menschwerdung des Wortes zeigt dem Auge unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit; indem wir Gott so mit leiblichen Augen schauen, entflammt Er in uns die Liebe zu unsichtbaren Gütern.“

Müßte man nicht denken, daß es alle Menschen hinzieht zur Krippe, daß alle Menschen Ihn sehen wollen? John Henry Newman drückt es einmal so aus: „'Gott, der befahl, daß aus der Finsternis Licht aufstrahle, ließ auch in unseren Herzen ein Licht erstrahlen, daß aufleuchte die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Jesu Christi' (2 Kor 4, 6), das heißt, in einer wahrnehmbaren Gestalt, als ein wirklich existierendes Einzelwesen. Zur selben Zeit begann er sofort zu uns als Einzelwesen zu sprechen. ... So war es in gewissem Sinne eine Offenbarung von Antlitz zu Antlitz.“

Wir können, dürfen, sollen, müssen Ihn von Antlitz zu Antlitz sehen. Unfaßbar ist diese Gnade. Je mehr man dies begreift, desto mehr beginnt man zu fragen: Warum gehen so wenige Menschen hin und schauen? Warum lassen sie sich nicht von Ihm bezaubern? Warum haben sie Augen und sehen nicht und Ohren und hören nicht?

Nur aus der wirklichen, man möchte fast sagen, berührenden Begegnung mit dem menschgewordenen Gott kann unser Leben verwandelt werden. Das ist das Unterscheidende des katholischen Glaubens, er ist ein Glaube an den menschgewordenen Gott. Einen Gott, der uns im Fleische erschienen ist, wie der hl. Apostel Johannes in seinem zweiten Brief schreibt: „Denn viele Verführer sind in die Welt ausgezogen, die nicht bekennen, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist; dies ist der Verführer und der Antichrist. Seht euch vor, daß ihr nicht verliert, was ihr erarbeitet habt, sondern den vollen Lohn empfangt. Wer sich über die Lehre Christi hinwegsetzt und nicht in ihr bleibt, hat Gott nicht; wer aber in der Lehre bleibt, hat sowohl den Vater als auch den Sohn“ (2 Joh. 7-9).

Jesus Christus, der im Fleisch gekommen ist, ist den meisten Menschen zu nahe. Ihre Herzen sind nicht bereit, sich anrühren zu lassen. Sie können ihre Zurückhaltung, die aus der Sünde stammt, nicht überwinden. Deswegen fliehen sie in den Unglauben. Die Menschen früherer Generationen waren auch Sünder, aber sie flohen in die Hände des Barmherzigen Gottes. Sie ließen sich von der göttlichen Erlöserliebe anrühren – aber das war natürlich der barbarische mittelalterliche Mensch. Der moderne, aufgeklärte, über alle anderen Menschen der Vergangenheit sich überhebende Mensch stirbt lieber in der Verzweiflung – wie schrieb der hl. Johannes: „dies ist der Verführer und der Antichrist“!

Wir Katholiken aber wollen nochmals unseren Blick zur Krippe wenden, indem wir die Worte John Henry Newmans bedenken: „In allem Christus zu sehen, geoffenbart in sichtbaren Zeichen, Seine Anordnungen zu betrachten: nicht in sich selbst, sondern als Zeichen Seiner Gegenwart und Macht, als Ausdruck Seiner Liebe, als Seine eigentliche Gestalt und das wahre Antlitz dessen, der uns immer anblickt, immer in Liebe umfängt, Ihn so Tag für Tag in Herrlichkeit geoffenbart zu sehen, ist das nicht für jene, die daran glauben, ein unaussprechliches Glück?“

Ganz sicher, für uns, die an Ihn glauben, ist Er „ein unaussprechliches Glück“ – möge das für jeden von uns auch ganz und gar wahr sein!