Die allerwenigsten Katholiken nehmen den Modernismus in seiner ganzen, den Glauben zerstörenden Tragweite wahr. Manche begreifen vielleicht noch, daß diese Irrlehre diese oder jene Glaubenslehre leugnet, womöglich nehmen sie auch noch wahr, daß sie letztlich den ganzen Glaubensinhalt der Beliebigkeit preisgibt, aber die meisten sehen nicht oder wollen auch nicht sehen, daß mit dem Modernismus das Wesen des Glaubens zerstört wird. Man kann sich diese Tatsache nicht oft genug vor Augen führen und man kann den Grund dafür nicht oft genug durchdenken, will man den daraus folgenden Gefahren für den Glauben sicher entgehen.
Beim katholischen Glauben geht es nicht nur um den Glaubensinhalt, also die einzelnen Glaubenssätze, die uns die Kirche zu glauben vorlegt, es geht auch immer darum, in der rechten Weise zu glauben. Und diese besondere Art des Glaubens verbindet den Katholiken in einer ganz einmaligen Weise mit seiner Kirche. Man spricht vom „sentire cum Ecclesia“, vom Mitdenken, Mitfühlen des Katholiken mit der Kirche. Dieses gehört wesentlich zum katholischen Selbstverständnis, ja im Grunde trägt es den Glauben und prägt ihn in einer ganz außerordentlichen Weise.
Daß das wirklich so ist, wird heute jedem leicht greifbar, denn das „sentire cum Ecclesia“ ist inzwischen fast vollkommen zerstört worden, zerstört worden nicht nur bei den amtskirchlichen „Katholiken“, sondern auch bei den sog. Traditionalisten. Der Grund dafür liegt in dem zwiespältigen Verhältnis der meisten Traditionalisten zu „Rom“. Genauer gesagt, zu den kirchlichen Autoritäten in Rom, noch genauer gesagt, zum kirchlichen Lehramt. Trotz der Modernismuskrise, trotz des „2. Vatikanums“, ja selbst trotz der Schaffung einer ganz neuen Menschenmachwerkskirche haben sich sehr viele Katholiken dazu verleiten lassen, diese neurömischen, modernistischen Autoritäten zwar als kirchliche Autoritäten anzuerkennen, ihnen aber den gewöhnlichen, ordentlichen Gehorsam zu verweigern. Sie rechtfertigen dieses Verhalten meist damit, daß der Papst ja nicht in allen seinen lehramtlichen Äußerungen unfehlbar sei. Er könne sich also in all denjenigen Verlautbarungen, die keinen unfehlbaren Charakter haben, immer auch irren – und oft genug hätten sich die Päpste in der Kirchengeschichte auch schon geirrt. Stereotyp werden dann als Beispiele die Päpste Honorius, Vigilius und Liberius genannt, also die von verschiedensten Häretikern vergangener Jahrhunderte bemühten Beispiele aus der Kirchengeschichte. Wegen dieser irrenden Päpste gehorchen wir dem Papst immer nur im Rahmen seiner Unfehlbarkeit und müssen wir dem Papst auch nur innerhalb dieses Rahmens gehorchen, so erklärt man schließlich den Gläubigen, die das dann auch wirklich glauben.
Was sich so einfach und auf den ersten Blick einleuchtend anhört, ist es in Wirklichkeit nicht. Vielmehr verändert sich mit dieser Optik des „Rahmenpapstes“ das Verhalten des Katholiken zum Lehramt grundlegend. Denn erstens geht der Katholik nunmehr grundlegend, systematisch, immer mit Mißtrauen an jede Verlautbarung Roms heran. Zweitens macht er sich jeweils selbst zum Richter über das Lehramt, d.h. er wird letztlich selbst zum Lehramt. Drittens beginnt er, gezwungen durch die sich mehrenden nachkonziliaren Irrtümer, die unfehlbaren Akte des Lehramtes mehr und mehr einzuschränken und sie auf ein absolutes Minimum zu reduzieren, so daß aktuell, de facto, in der Wirklichkeit vom unfehlbar lehrenden Lehramt nichts mehr übrigbleibt. Für das eigene Glaubensleben jedenfalls hat dieses Lehramt, oder besser gesagt Leeramt jegliche Bedeutung verloren.
Ein Großteil der traditionellen „Katholiken“, bzw. Auchkatholiken, hat dieses Verhalten inzwischen so verinnerlicht, daß sie kaum noch korrigiert werden können, weil sie es wohl auch gar nicht mehr wollen. Als etwa bei einem Gespräch mit solcherart Traditionalisten darauf hingewiesen wurde, daß immerhin Julius Beßmer S.J. in seinem Buch „Theologie und Philosophie des Modernismus“ noch 1912 auf Seite 530 ganz selbstverständlich und allgemein schreibt: „Jeder Katholik weiß, daß er den Lehrentscheidungen des Apostolischen Stuhles, auch wenn sie nur von der Kongregation des Heiligen Offiziums oder von der Indexkongeregation und der heiligen Kongregation für die Sakramente ausgehen, sich mit innerer Zustimmung zu unterwerfen hat“, haben diese Auchkatholiken ganz spontan und wie aus der Pistole geschossen, erstaunlicher Weise einmal nicht auf Honorius, Vigilius und Liberius verwiesen, sondern auf Papst Bonifaz VIII. und das Konzil von Florenz. Das sind zwei weitere, unter den Traditionalisten weit verbreitete vermeintliche Fehler des Lehramtes, die diesmal als Gegenargument zu Julius Beßmers Aussage herhalten mußten und den eigenen, beständigen, gewohnheitsmäßigen Ungehorsam gegen das ordentliche Lehramt der Kirche rechtfertigen sollten. Dieses inzwischen zutiefst eingewurzelte Verhalten scheint selbst durch noch so klare, eindeutige, von den größten Theologen vorgebrachte Gründe nicht mehr korrigiert werden zu können. Es dürfte inzwischen bei vielen sog. Traditionalisten ein irreparabler Schaden entstanden sein. Die Gewohnheit, dem als legitim anerkannten neurömischen Lehramt zutiefst zu mißtrauen und selbst Lehramt zu spielen, hat offensichtlich schon zu tiefe Wurzeln getrieben.
Weil wohl die allermeisten Traditionalisten von diesem Fehlverhalten irgendwie angekränkelt sind, wollen wir auf zwei der 18 Regeln des hl. Ignatius von Loyola zum rechten Denken in der Kirche eingehen. Diese aus dem berühmten Exerzitienbüchlein des großen Ordensgründers der Gegenreformationszeit stammenden Regeln sollen den Exerzitanten helfen, „das wahre Fühlen zu erlangen, das wir in der diensttuenden Kirche haben sollen“.
In der ersten Regel heißt es: „In Absehung jeglichen [privaten] Urteils müssen wir den Geist gerüstet und bereit halten, dazu hin, in allem zu gehorchen der wahren Braut Christi Unseres Herrn, die da ist Unsere Heilige Mutter, die Hierarchische Kirche.“
Diese erste Regel formuliert ganz allgemein das Grundverhalten des Katholiken. Er muß sein privates Urteil in den Sachen des Glaubens und der Sitten dem Urteil der Kirche unterordnen, d.h. dem kirchlichen Lehramt gehorchen. Der hl. Ignatius bringt an dieser Stelle drei Begriffe für die Kirche, die dieses Verhalten erklären, bzw. rechtfertigen. Die Kirche, der man das Urteil unterordnet, ist keine rein menschliche Gemeinschaft, sondern die wahre Braut Christi Unseres Herrn. Als solche ist sie ohne Makel, d.h. ohne Makel in der Lehre, in ihren Sakramenten, ihrer Rechtsordnung, usw. Deswegen kann und muß man ihr vollstes Vertrauen entgegenbringen. Zudem ist sie Unsere Heilige Mutter. Die Kirche wurde von Gott dazu bestimmt, sich um die Seelen der Gläubigen, ihr ewiges Heil wie eine Mutter zu sorgen. Damit das auch immer möglich ist und wirklich geschieht, hat Er der Kirche ganz besondere Gaben geschenkt, unter welchen das Charisma der Unfehlbarkeit hervorragt. Wobei diese Kirche, der man gehorchen muß, zudem keine protestantische Geistkirche ist, sondern die konkrete hierarchische Kirche mit ihrem Papst und ihren Bischöfen.
Es ist nicht schwer einzusehen, daß diese Regel heutzutage nur noch von ganz wenigen Katholiken, oder besser gesagt Auchkatholiken beachtet wird. Sowohl die modernistischen Professoren und ihr Anhang, als auch die traditionalistischen Gläubigen bilden sich selbstverständlich ein, daß sie besser wissen als Rom (= das kirchliche Lehramt), was katholisch ist. Ja manche Traditionalisten bilden sich sogar ein, sie müßten Rom (= das kirchliche Lehramt) bekehren! Schon 1950 mußte Pius XII. ausdrücklich vor solchem Verhalten warnen. Er schreibt in seiner Enzyklika „Humani generis“ (n. 21): „Nicht den einzelnen Gläubigen und auch nicht den Theologen hat der göttliche Heiland die authentische Erklärung des Glaubensgutes anvertraut, sondern nur dem Lehramt der Kirche“ (DS 3886). Nochmals fast 100 Jahre früher, 1863 hat Pius IX. in seinem Brief „Tuas libenter“ an den Bischof von München-Freising dieses Fehlverhalten so umschrieben: „...auch wenn es sich um jene Unterwerfung handelt, die mit dem Akt göttlichen Glaubens zu leisten ist, so wäre sie dennoch nicht auf das zu beschränken, was in den ausdrücklichen Lehrdokumenten der Ökumenischen Konzilien oder der römischen Bischöfe und dieses (Apostolischen) Stuhles definiert ist, sondern auch auf das auszudehnen, was durch das ordentliche Lehramt der über den Erdkreis verstreuten ganzen Kirche als göttlich geoffenbart überliefert wird ...“ (DS 2879). Aus diesem Grund fügt der hl. Ignatius bei der Formulierung seiner Regel keine Einschränkungen hinzu, er sagt vielmehr: „In Absehung jeglichen [privaten] Urteils und in allem zu gehorchen“. Denn es geht um die grundsätzliche Bereitschaft, der Kirche zu gehorchen.
Weil gerade diese grundsätzliche Bereitschaft zum Gehorsam heute allenthalben fehlt, wollen wir noch eine weitere Regel des hl. Ignatius anführen. In der 13. Regel kommt der hl. Ignatius nochmals auf das in der ersten Regel angesprochene Thema zurück und konkretisiert es folgendermaßen: „Wir müssen, um in allem das Rechte zu treffen, immer festhalten: ich glaube, daß das Weiße, das ich sehe, schwarz ist, wenn die Hierarchische Kirche es so definiert. Denn wir glauben, daß zwischen Christus Unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Braut, der Kirche, der gleiche Geist waltet, der uns zum Heil unserer Seelen leitet und lenkt, weil durch denselben Geist Unseres Herrn, der die Zehn Gebote erließ, auch Unsere Heilige Mutter die Kirche gelenkt und regiert wird.“
Wohl kein anderer Text des hl. Ignatius von Loyola wurde so mißverstanden wie dieser. Man warf ihm vor, hier für einen vollkommen blinden, irrationalen Glauben einzutreten, der mit dem wahren, dem katholischen Glauben nichts gemein habe. Es wäre jedoch sehr merkwürdig, wenn ein Text, der von einer Vielzahl von Päpsten geprüft und gutgeheißen wurde, in einer solchen Weise und in einem so zentralen Punkt der Lehre irrig wäre.
Der Eindruck, Ignatius vertrete hier einen blinden Gehorsam, entsteht nur, wenn man den Text nicht aufmerksam genug liest und deswegen den Vergleich übersieht oder nicht richtig deutet. Die Fähigkeit, Vergleiche zu lesen und verstehen, scheint heutzutage beinahe ganz verloren gegangen zu sein. Was sagt also der hl. Ignatius wirklich? Sagt er einfach, der Katholik müsse das Schwarze für Weiß und das Weiße für Schwarz halten, wenn es die Kirche so sagt? Das wäre nun wirklich blinder Gehorsam, vollkommen irrational, ja verrückt. Nein, der hl. Ignatius sagt, wenn es um den Glauben, wenn es um eine Glaubenswahrheit geht, von welcher der Mensch keinerlei eigene Erfahrung hat und haben kann, weil er sie mit seiner natürlichen Vernunft niemals erreichen kann, geht sie doch über seine Vernunft hinaus, weswegen sie nur durch göttliche Offenbarung kundgetan werden kann, dann muß er sein Urteil dem Urteil der Kirche unterordnen. Eine solche Unterordnung ist aber durchaus ganz und gar vernünftig. Wenn darum der Katholik etwas (fälschlicher Weise) glaubt, was aber gar nicht wahr, also nicht wirklich göttlich verbürgt ist und die Kirche weist ihm auf seinen Irrtum hin, dann muß er der Kirche Glauben schenken und seinen Irrtum korrigieren – oder in dem Bild des hl. Ignatius ausgedrückt: er muß das, was er fälschlicher Weise für Weiß gehalten hat, für Schwarz halten. Und er kann und darf und muß der Kirche dieses rückhaltlose Vertrauen entgegenbringen, weil die Kirche unfehlbar vom Geist Jesus Christi geleitet wird, wenn es um den Glauben und die Sitten geht. Dieser Geist Christi ist nämlich die Seele der Kirche, also ihr innerstes Lebensprinzip. „Denn wir glauben, daß zwischen Christus Unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Braut, der Kirche, der gleiche Geist waltet, der uns zum Heil unserer Seelen leitet und lenkt, weil durch denselben Geist Unseres Herrn, der die Zehn Gebote erließ, auch Unsere Heilige Mutter die Kirche gelenkt und regiert wird.“
Der Katholik verhält sich so, weil der Heilige Geist selbst die Kirche lenkt und regiert. Die kirchlichen Autoritäten stehen unter der Leitung des Heiligen Geistes. Nur aufgrund dieser Leitung des Heiligen Geistes schenken wir ihnen Glauben und vertrauen wir auf ihr Urteil mehr als auf unser eigenes Urteil. Das gilt jedoch nicht nur für die außerordentlichen, feierlichen Urteile des kirchlichen Lehramtes, sondern genausogut für die ordentlichen, alltäglichen. Schließlich ist der Heilige Geist nicht nur ab und zu in der Kirche wirksam, sondern jeden Tag, immer. Matthias Josef Scheeben erklärt uns dieses Sein und Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche folgendermaßen:
„Der Geist des Bräutigams macht alle Glieder der Kirche zu seinen Tempeln, in denen er wohnt und seine göttliche und vergöttlichende Kraft offenbart. Er leitet die Kirche mit Weisheit und Ordnung; er heiligt die seelischen Krankheiten, indem er die Sünden nachläßt, ja, er wirkt in der Kirche ähnlich wie im Leibe Christi; er erfüllt sie mit der Gottheit. Er überschattet die Braut Christi. Durch seine Glut verklärt er sie in das Bild der göttlichen Natur. Er gestaltet ihr ganzes Sein um von Klarheit zu Klarheit. Er durchweht sie so tief und mächtig mit seinem göttlichen Leben, daß nicht mehr sie, sondern Gott in ihr lebt. Die Kirche wird durch den Heiligen Geist ihrem göttlichen Haupte und Bräutigam so gleichförmig, daß sie Christus selbst zu sein scheint.
Wenn bei menschlichen Gemeinschaften ihre Mitglieder ein Leib und eine Seele, oder wie Äste an einem Baum zu sein scheinen, so ist das nur ein Gleichnis. Als Glied der Kirche aber wird der Mensch wirklich in einen neuen, himmlischen Boden gepflanzt; er wird auf einen neuen Stamm, der Christus ist, aufgepfropft. Sein inneres Wesen, die Wurzel seines Lebens wird durch den Heiligen Geist umgestaltet; ein neues Leben wird ihm eingegossen, das vom Licht und Tau des neuen Himmels genährt und gepflegt wird.
Wie der Heilige Geist in der Menschheit Christi wohnt und wirkt, so wirkt er auch in der Kirche. In und durch Christus wohnt er mitten unter uns, gleichsam die Seele der Kirche.“
Der Heilige Geist ist „gleichsam die Seele der Kirche“, Er ist ihr Lebensprinzip durch das die Kirche allein übernatürliches Leben besitzen und weitergeben kann. Man muß sich wirklich fragen, ob sich diese Wirklichkeit nicht schon für die meisten Traditionalisten vollständig verflüchtigt hat, ob nicht die Kirche in ihrem Denken zu einer rein menschlichen Gesellschaft entartet ist? Wir haben schon öfter darauf hingewiesen und gefragt: Kann eine Kirche voller Irrtümer, Fehler, mit unwürdigen Sakramenten und unheiligen Heiligen wirklich noch die makellose Braut Christi sein, deren Seele der Heilige Geist ist? Da kann man nur ganz klar mit „Nein!“ antworten. Wer eine sich eine solche Monsterkirche konstruiert, der verläßt unweigerlich die Tradition der Kirche und schafft seine eigene Tradition. Dieser steht freilich die wahre kirchliche Tradition entgegen, von der Matthias Josef Scheeben schreibt: „Die kirchliche Überlieferung vollzieht sich nicht durch irgendwelche Menschen, sondern nur durch die tatsächlichen Glieder der von Christus gestifteten Kirche. Die Kirche, als ein organisches, von Gott selbst aufgebautes und durch seinen Geist belebtes und geleitetes, stets fortlebendes Gemeinwesen, überliefert uns die göttlichen Wahrheiten. Daher ist ihr Zeugnis kein rein menschliches, sondern ein Zeugnis des Heiligen Geistes. Es gilt um so mehr, je mehr die Träger dieses Zeugnisses im Organismus der Kirche eine besondere Stellung und Bedeutung in ihrem Verhältnis zum Heiligen Geist haben. Die Unfehlbarkeit dieses Zeugnisses bleibt sich in jedem Zeitpunkt gleich, sei er auch noch so weit vom Anfang der Offenbarung entfernt, weil der Heilige Geist für alle Zeiten die Kirche vor Irrtum bewahrt.“
Die meisten Traditionalisten glauben heute ganz sicher nicht mehr, daß „der Heilige Geist für alle Zeiten die Kirche vor Irrtum bewahrt“. Vielmehr meinen sie seit den Konzilspäpsten berechtigt zu sein, diesen eine ganze Reihe von Irrtümern nachweisen zu können, ja zu müssen – weil sie nämlich der Tradition widersprechen würden. Deswegen behaupten sie etwa, man müsse das Konzil im Lichte der Tradition interpretieren. Aber nicht nur das Konzil, sondern alle Akte des Lehramtes werden diese Traditionalisten im Lichte der Tradition interpretiert. Da stellt sich jedoch sofort die Frage: Im Lichte welcher Tradition? Hier wird doch offensichtlich die entfernte Norm des Glaubens stillschweigend zur nächsten Norm, ohne die weitreichenden Folgen dieser Verwechslung irgendwie zu bedenken. Aber gerade das unterscheidet die katholische Kirche vom Protestantismus, daß nicht der einzelne Gläubige bestimmt, was der wahre katholische Glaube ist, sondern die vom Heiligen Geist geleitete Kirche. M. J. Scheeben, sagt in seinem Handbuch der Dogmatik (I, n. 351): „Die kirchliche Tradition ist und bleibt... an und für sich stets formell und wesentlich eine mündliche und lebendige, d.h. sie besteht formell in dem stets fortlaufenden, ausdrücklichen oder einschließlichen, theoretischen und praktischen Zeugnisse der authentischen Zeugen, resp. der ihnen dienenden oder von ihnen geleiteten Lehrer und Gläubigen...“
Nur dem Papst und den Bischöfen kommt kraft ihrer Weihe und ihres Amtes dieses authentische Zeugnis zu, denn sie allein bilden das kirchliche Lehramt im eigentlichen Sinne des Wortes (vgl. CIC can 1326; 218). Deswegen sagt Papst Pius XII. in seiner Enzyklika „Humani generis“, daß das Lehramt der Kirche „für jeden Theologen die nächste und allgemeine Richtschnur in Sachen des Glaubens und der Sitten sein muß“ („...debet esse...“; n. 18, DS 3884), „da ihm Christus der Herr die Bewahrung, den Schutz und die Auslegung des gesamten Glaubensdepositums anvertraut hat“ (ebd.). Das gilt natürlich auch ganz allgemein für jeden Gläubigen – und damit doch wohl auch für jeden Traditionalisten, oder etwa nicht?
Lassen wir nochmals M. J. Scheeben zu Wort kommen, der uns einen weiteren Aspekt des unfehlbaren Lehramtes formuliert: „Wenn der Papst als unmittelbarer und tatsächlicher Stellvertreter Gottes ein Endurteil bezüglich des Glaubens oder der Sitten abgibt, so muß dieses Urteil notwendig und schlechthin unantastbar und unwiderruflich sein und damit die Pflicht auferlegen, innerlich und äußerlich diesem Urteil zuzustimmen. Ein solches Urteil stellt unfehlbar das Urteil des Heiligen Geistes selbst dar und kann somit nicht falsch sein. Es kann deshalb niemals und in keiner Weise, selbst nicht vom Papst, umgestoßen oder wesentlich geändert werden. Weil der Heilige Geist darin gewirkt hat, kann man sich auch nicht darauf berufen, daß das Urteil in einem ungesetzmäßigen Verfahren zustande gekommen sei, weil es dann kein endgültiges Urteil mehr wäre. Es müßte dann noch eine höhere Instanz geben, die dieses Urteil aufhöbe. Die kann es aber nicht geben. Daraus sieht man, daß die Formel: 'Es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen...' (Apg 15,28) im strengsten Sinne aufzufassen ist.“
Wie wenig diese Lehre noch verinnerlicht ist, zeigten die jüngsten „Heiligsprechungen“ von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. durch Franziskus. Manche „Theologen“ meinten ja durchaus darauf verweisen zu können, daß durch die Änderung der Heiligsprechungsprozesse die Unfehlbarkeit nicht mehr gegeben sei, weil dadurch „das Urteil in einem ungesetzmäßigen Verfahren zustande gekommen sei“. Irgendwie haben sie im Eifer des Gefechts oder vielleicht aufgrund ihrer ideologischen Verblendung vergessen, daß man sich „nicht darauf berufen“ kann, „weil es dann kein endgültiges Urteil mehr wäre“. Es ließen sich ja dann immer ausreden finden, warum in diesem Fall der Papst dann doch wieder nicht unfehlbar sein sollte. Die möglichen Ausreden sind schließlich zahllos, wie alle Häretiker beweisen. Aber lassen wir das beiseite und kommen wir zum Schluß.
Die Regeln des hl. Ignatius über das „sentire cum Ecclesia“ formulieren das Grundverhalten des Katholiken gegenüber der Kirche, bzw. ihrer Autorität. Da der einzelne Katholik in Sachen des Glaubens und der Sitten nicht ohne göttliche Hilfe fest sein und bleiben kann, ist er auf die ihm von Gott gegebene Lehrautorität angewiesen. Der Katholik weiß, der Heilige Geist leitet die Kirche, ihr Lehramt zu jeder Zeit, denn Er ist die Seele der Kirche. Deswegen muß jeder Katholik sein Urteil dem Urteil der Kirche unterordnen. Wenn er dazu nicht mehr bereit ist, wenn er das kirchliche Lehramt im Licht der (= seiner eigenen) Tradition interpretiert und dem Papst nur noch im (selbstgezogenen) Rahmen der Unfehlbarkeit gehorcht, gleichgültig aus welchen Gründen, wird er letztlich zum Protestanten, denn wie der Dogmatiker Heinrich schreibt: „Es ist dieses, wie sofort einleuchtet, die Übertragung des protestantischen Prinzips der freien Forschung von der heiligen Schrift auf die Tradition. Man erkennt dann zwar an, daß die heilige Schrift einer Beglaubigung, Erklärung und Ergänzung durch die Tradition bedürfe; aber die Entscheidung darüber, was echte Tradition und was ihr Sinn sei, maßt man in letzter Instanz sich selber an.“
Überblickt man die sog. Bewegung der Tradition, muß man sich fragen: Ist nicht das Verhalten der meisten Traditionalisten eine de facto, also eine mit der Tat geschehene Leugnung des Heiligen Geistes als Seele der Kirche? Denn wie könnte der Heilige Geist Seele, d.i. das Lebensprinzip, der Lebensgrund einer Kirche sein, die voller Irrtümer ist, eine in sich schlechte Liturgie feiert, zweifelhafte Sakramente spendet und ein Kirchenrecht hat, durch welches das Seelenheil gefährdet wird? Ist es bei genauerer Betrachtung all dieser Tatsachen, die sicherlich nicht geleugnet werden können, nicht evident, daß dies nicht die wahre Kirche Jesu Christi sein kann, also deren Autoritäten nur Scheinautoritäten sind? Und ist nicht dies die einzig mögliche Erklärung der täglichen Erfahrung des Katholiken seit dem sog. Konzil, die leidvolle Erfahrung, daß die Regeln des hl. Ignatius auf diese „Kirche“ nicht mehr anwendbar sind, denn, würde man sie anwenden, würde man dadurch ganz sicher den Glauben verlieren! Es kann aber der Glaube „niemals und in keiner Weise, selbst nicht vom Papst, umgestoßen oder wesentlich geändert werden“. Was ist das aber dann für ein „Papst“, was ist das für ein „Lehramt“, das gerade dies ständig und hartnäckig über Jahrzehnte versucht? Betrachtet man in dieser Weise die zwei angeführten Regeln des hl. Ignatius, werden sie einem zu einer reichen Quelle von Erkenntnis über das, was heute wirklich mit der Kirche geschehen ist. Zudem zeigen sie einem Katholiken, wie weit man von einem wahrhaft katholischen „sentire“ mitfühlen und mitdenken schon entfernt ist. Die papstlose Zeit birgt schließlich ihre eigenen vielfältigen Gefahren in sich, die man freilich mit der Gnade Gottes bewältigen muß – und kann.