1. Unsere heutige, im Naturalismus versunkene Zeit tut sich schwer damit, Übernatur überhaupt noch wahrzunehmen, geschweige das Verhältnis von Natur und Gnade richtig zu fassen. Da wird dann selbst unter den noch verbliebenen guten Katholiken etwa eine Aussage wie diese: die Philosophie sei die Magd der Theologie, als eine unzulässige Einschränkung und Degradierung der Philosophie aufgefaßt. Das trifft natürlich in keiner Weise zu. Doch um die Dinge wieder richtig zu sehen, müssen wir versuchen, allem von Anfang an nachzuspüren und das rechte Verständnis wieder zu erlangen.
2. Natur und Übernatur sind klar zu unterscheiden, wie allein schon die Ausdrücke besagen. Übernatur ist gerade das, was nicht Natur ist, sondern über die Natur hinausgeht. Andererseits heißt sie „Übernatur“ und nicht „Gegennatur“, weil sie eben nicht gegen die Natur ist, sondern die Natur überragt oder übersteigt. In der Scholastik war man sich darüber einig, daß die Gnade die Natur nicht zerstört oder beengt, sondern sie voraussetzt bzw. auf sie aufbaut, sie erhöht, überhöht und vervollkommnet. „Gratia non tollit, sed supponit naturam, elevat et perficit eam.“
So setzt der Glaube als übernatürliche Erkenntnis den natürlichen Verstand und dessen natürliche Fähigkeiten voraus, vermittelt uns aber Erkenntnisse und Einsichten, die weit über die Möglichkeiten des natürlichen Verstandes hinausgehen. Er nimmt dem Verstand nichts, sondern beschenkt ihn im Gegenteil in überreicher Weise. Zwar ist unser natürlicher Verstand durchaus in der Lage, von sich aus zu erkennen, daß es einen Gott gibt, und in diesem den allmächtigen Schöpfer der Welt, den Ewigen, Allweisen usw. zu sehen. Ihn aber als den dreifaltigen Gott zu erkennen, welcher Seinen eingeborenen Sohn in diese Welt gesandt hat, damit Er als der Menschgewordene, geboren aus Maria der Jungfrau, die Welt erlöse, das vermittelt uns nur der Glaube.
Richtig verstanden ergänzen sich somit Natur und Übernatur. Für die Natur ist es keine Einschränkung oder Erniedrigung, der Gnade dienen zu dürfen, sondern im Gegenteil eine Erhebung und Ehrung. Wenn ein Esel (hier einfach als Lasttier genommen, nicht als Beleidigung!) beispielsweise mit kostbaren Reliquien beladen wird, um sie in einer Prozession zu tragen, ist dies dann für den Esel eine gewaltige Ehre oder eine Herabsetzung? So kann die Philosophie es nur als ihre größte Ehrung und Adelung betrachten, wenn sie der Theologie und dem Glauben dienen darf.
3. Aber bedeutet es nicht vielleicht doch eine unzulässige Einschränkung für die Natur, letztlich eine Leugnung ihrer Eigenständigkeit, wenn man sie nur in ihrer Beziehung zur Übernatur betrachtet? Hat die Kirche nicht der natürlichen Vernunft immer ihre eigenen Rechte zugestanden? Geraten wir nicht in eine häretische Schieflage, wenn wir die Natur gewissermaßen in der Übernatur aufgehen lassen oder doch nur in ihrem Bezug auf diese gelten lassen wollen?
Wie wir schon sagten: Schon die Begrifflichkeit schließt jede Vermischung und Vermengung von Natur und Übernatur aus. Auch in Christus finden wir in Seiner hypostatischen Union die beiden Naturen, göttliche und menschliche, zwar eng verbunden, aber ganz und unvermischt. Aber sie lassen sich nicht trennen, ohne Christus aufzulösen. Ebensowenig ist eine Trennung in der Schöpfung möglich, ohne diese zu zerstören.
Einen reinen Naturzustand des Menschen, der zwar denkbar wäre, hat es tatsächlich nie gegeben. Gott hat den Menschen von Anfang an in die Übernatur erhoben. Seine Natur war das Gefäß für das kostbare Geschenk der Gnade, welche dem Menschen so sehr zu eigen war, daß sein Wohnort kein anderer sein konnte als das Paradies und selbst sein natürlicher Stand durch die präternaturalen Gaben erhoben war wie Unsterblichkeit, Leidensunfähigkeit und Integrität.
Durch die Sünde im Paradies fielen unsere Stammeltern und damit die ganze Menschheit aus diesem Urzustand heraus, und das blieb nicht ohne Folgen. Nicht nur ging die übernatürliche Ausstattung verloren, sondern auch die Natur als ihr Träger wurde zwar nicht zerstört, aber gewissermaßen beschädigt und degradiert. Sie ging des Paradieses und der präternaturalen Gaben verlustig und erlitt eine Deformation. Wir sprechen von den vier Wunden, welche die Ursünde in der Menschennatur hinterlassen hat und die sich durch die Erbsünde fortpflanzen: Unser Verstand, geschaffen für die Wahrheit, neigt zum Irrtum; unser Wille, uns zur Erlangung des Guten gegeben, neigt zum Bösen; unser Begehrvermögen, das uns Lebensfreude schenken soll, neigt zur Unmäßigkeit; das zornmütige Vermögen, dazu da, uns Kraft im Kampf gegen Widrigkeiten zu verleihen, neigt zur Schwäche. Wir können den Zustand vielleicht mit einem goldenen Diamantring vergleichen, aus dem man gewaltsam den Stein gebrochen hat. Nicht nur fehlt der Diamant, auch der Ring selbst ist beschädigt, zerkratzt, die Fassung verbogen usw.
Durch die Taufe erhalten wir die heiligmachende Gnade zurück. Die Wunden der Erbsünde bleiben jedoch ebenso bestehen wie der Verlust des Paradieses und der präternaturalen Gaben. Das ist die Grundlage für den sittlichen Kampf, den wir ein Leben lang zu führen haben, vor allem gegen die eigene Begierlichkeit, um endlich im himmlischen Paradies die vollkommene und endgültige Wiederherstellung zu erlangen. Wir können sagen, der Ring hat seinen Stein zurück, doch ist er nach wie vor beschädigt und obendrein in ständiger Gefahr, den Stein wieder zu verlieren; erst wenn er im Feuer der Widerwärtigkeiten (oder des Reinigungsortes) neu geschmiedet wurde, ist er vollkommen wiederhergestellt.
Die Wiederherstellung der Natur kann nicht ohne die Gnade gelingen. Sie ist es, die uns in unserem sittlichen Kampf unterstützt, in dem wir ohne sie verloren wären, und die Wunden unserer gefallenen Natur wieder schließt, allmählich und unvollkommen und nicht ohne unsere Mitwirkung während unserer irdischen Pilgerschaft, vollkommen und für immer in der ewigen Heimat. Für unsere verwundete Natur erweist sich die Gnade somit als unerläßliche und wohltätige Helferin, keineswegs als Gegnerin und Feindin. Allerdings wird sie oft als solche empfunden, wie auch der Arzt nicht selten als widerwärtig und feindlich erscheint, da er Unannehmlichkeiten bereiten muß, um dem Patienten zu helfen.
Feind ist die Gnade dem Irrtum, dem Bösen, der Unmäßigkeit und der Schwäche. Die Heilige Schrift spricht hier vom Gegensatz und Widerstreit zwischen Fleisch und Geist. In Wahrheit jedoch ist sie die größte Wohltäterin der gefallenen Natur und will nichts als diese aufrichten und heilen. Wo freilich der Naturalismus auf Autonomie und die sog. Rechte der gefallenen Natur auf Irrtum und Sünde pocht, wie dies heutzutage allüberall geschieht, muß die Gnade als die ärgste Feindin gesehen und bis aufs Blut bekämpft werden.
Für uns jedoch herrscht zwischen Glauben und Vernunft die höchste Eintracht. Der Glaube hilft der Vernunft, bewahrt sie vor Irrtum, führt sie sicher auf den Wegen der Wahrheit und adelt, ja vergöttlicht sie durch Erhebung zu den übernatürlichen Wahrheiten. In der rein übernatürlichen seligen Anschauung Gottes, die sich durch den Glauben vorbereitet, wird sie einst ihre höchste Vollkommenheit und ihr höchstes Glück finden.
4. Die Kenntnis dieser Wahrheiten führt uns zum rechten Verständnis der Lehre vom „limbus puerorum“, der sog. Vorhölle als Ort für die Seelen ungetauft verstorbener Kinder. Wenn man nach deren Verbleib fragt, so ist zum einen zu berücksichtigen die Tatsache, daß sie keine Taufe empfangen konnten, zum anderen ihre Unfähigkeit zu sündigen, da sie den Vernunftgebrauch noch nicht erlangt hatten. Nun besagt die katholische Lehre, daß jeder Mensch im Stand der Erbsünde geboren wird. Er entbehrt insbesondere der heiligmachenden Gnade, und dieser Zustand ist ein schuldhafter, zwar nicht aus persönlicher Schuld rührend, wohl aber aus der Schuld der Stammeltern, die uns mit der menschlichen Natur übertragen wurde. Deshalb sprechen wir ausdrücklich von Erb-Sünde oder auch Erb-Schuld, nicht einfach von Erb-Last. Getilgt wird diese Schuld durch die Taufe, die uns gleichzeitig wieder in den Stand der Gnade versetzt.
Stirbt ein Mensch nun vor der Taufe und damit in jenem Zustand der Erbsünde, so muß er die Strafe dafür erleiden, welche im Entzug der seligen Anschauung Gottes besteht, die eigentlich Ziel und Zweck unseres Daseins ist. Gleichwie nun in dieser seligen Anschauung, der „visio beatifica“, das Wesen unserer ewigen Glückseligkeit, der Himmels, besteht, so macht der ewige Ausschluß von dieser das Wesen der Hölle aus. Da jedoch andererseits die vor Vernunftgebrauch verstorbenen Kinder keine persönlichen Sünden haben, gibt es für sie keine weiteren Höllenstrafen zu erleiden wie etwa das ewige Feuer oder den Gewissenswurm, welcher nie stirbt. Wir sprechen darum von einer Vor-Hölle, dem Limbus eben, wo die Seelen dieser Kinder zwar für immer der seligen Anschauung Gottes beraubt sind, ansonsten jedoch keinerlei Peinen oder Qualen zu erdulden haben, welche die Strafen für persönliche Schuld wären.
Dennoch bleibt dieser Zustand ein beklagenswerter, weshalb die Kirche stets darauf drängte, alles dafür zu tun, um möglichst kein Kind ungetauft sterben zu lassen. Je mehr jedoch der dogmatische Hintergrund dieses Sachverhalts verblaßte, desto mehr trat das persönliche Schicksal dieser Kinder in den Vordergrund und das Mitleid mit ihnen. Sollte denn Gott wirklich so grausam sein, unschuldige Kinder in dieser Weise eine Strafe leiden zu lassen? Sie selbst konnten ja am allerwenigsten dafür, daß sie ungetauft hatten sterben müssen.
Ohne deshalb die Lehre vom Limbus gleich auflösen zu wollen, griffen die Theologen zunächst zu anderen Möglichkeiten, und so veränderte sich die Auffassung vom Limbus allmählich von der Vor-Hölle zu einer Art Vor-Himmel, also zu einem Zustand natürlicher Glückseligkeit, wo diesen armen Kindern nichts weiter abgeht als halt gerade noch die „visio beatifica“. Vernachlässigt wurde dabei zweierlei, erstens der Umstand, daß just diese „visio beatifica“ es ist, welche die Glückseligkeit ausmacht, während ihr Entzug die wesentliche Höllenstrafe ist; zweitens die Tatsache, daß es eine reine Natur nicht gibt und nie gegeben hat, somit auch keine rein natürliche Glückseligkeit möglich ist. Der Zustand der ihrer gnadenhaften Erhebung beraubten Natur ist immer ein defizitärer.
Darum neigen neuere Theologen, und keineswegs erst seit „dem Konzil“, dazu, den „limbus puerorum“ überhaupt zu leugnen bzw. die Barmherzigkeit Gottes zu betonen, der gewiß nicht zulassen könne, daß diese armen und unglücklichen Kinder im Limbus schmachten, sondern schon seine Mittel und Wege habe, sie ebenfalls der himmlischen Glückseligkeit teilhaftig zu machen. Letzteres ist freilich nicht ausgeschlossen und mag für manche Eltern ein Trost sein, die das Unglück hatten, ein Kind ungetauft zu verlieren. Wollten wir aus dieser entfernten Möglichkeit jedoch eine Regel oder Gewißheit machen, so liefen wir Gefahr, die ganze Lehre von Natur und Übernatur, namentlich von der Erbsünde und der Heilsnotwendigkeit der Taufe aufzulösen. Man würde allmählich dahin kommen, die Taufe nicht mehr gar so ernst zu nehmen, da man ja auch ohne sie in den Himmel gelangen kann. Die Folge davon wäre ein lockererer Umgang mit der Taufpraxis und darum womöglich die Gefahr, daß mehr Kinder als nötig ungetauft sterben müssen – wie es ja heute leider weithin der Fall ist. Und wenn diese Kinder dann deswegen doch im Limbus enden müssen? Wir sehen, wohin wir mit einem falschen Mitleid gelangen.
5. Vertrauen wir also gerne auf Gottes Barmherzigkeit, aber halten wir uns an den dogmatischen Sachverhalt und tun wir unser Möglichstes. Grundlage für unser Handeln müssen ja stets die theologischen Gewißheiten sein, nicht irgendwelche Spekulationen. Dann und nur dann dürfen wir auch auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen.