In der Optik nicht weniger Katholiken stellen sich die Dinge so dar, daß vor dem „II. Vatikanum“ in der Kirche noch alles mehr oder weniger zum besten stand. Dann kam „das Konzil“, und nichts war mehr wie zuvor. Alles wurde geändert, erneuert, das Alte abgeschafft und verpönt, kurz, wir hatten es mit einer völlig neuen Kirche zu tun, der „konziliaren Kirche“ eben, der die „alte Kirche“, auch „Tradition“ genannt, gegenüberstand. Zwischen beiden klaffte ein Graben. Das „II. Vatikanum“ war der Bruch: bis dahin die „Tradition“ und alles mehr oder weniger gut, danach die „konziliare Kirche“ und ziemlich alles schlecht. So sah es jedenfalls von der Seite der „Tradition“ aus, von der anderen Seite sah man es umgekehrt: vorher alles schlecht und nachher ziemlich alles gut. Einig war man sich über den radikalen Bruch.
Es ist das Verdienst Ratzingers, diese letztlich falsche Sichtweise aufgebrochen zu haben durch seine berühmte Gegenüberstellung von „Hermeneutik des Bruches“ oder „der Diskontinuität“ einerseits und der „Hermeneutik der Reform“ mit einer gewissen „Kontinuität“ andererseits. Dies führt uns auf eine neue Spur, auf welcher wir der Realität bedeutend näher kommen.
Schon aus gewissen physikalischen Vorgängen kennen wir den oftmals komplexen Zusammenhang von Kontinuität und Diskontinuität, die durchaus keine unversöhnlichen Gegensätze sein müssen, sondern einander bedingen können. Nehmen wir als Beispiel den Fußboden einer Bibliothek zu einer Zeit, als solche Böden noch nicht aus Beton bestanden, sondern von Holzbalken getragen wurden. Dieser Boden wird unter dem Gewicht der Bücher immer weiter nachgeben, je mehr Bücher in der Bibliothek gelagert werden, und sich kontinuierlich biegen. Irgendwann kommt dasjenige Buch hinzu, mit welchem die Tragfähigkeit des Bodens überschritten ist, und auf einmal biegt er sich nicht mehr kontinuierlich, sondern bricht und kracht nach unten: die Diskontinuität. Und doch ist diese, wie wir sehen, nur eine Folge der vorangegangenen Kontinuität. Das Sprichwort faßt dies zusammen im Bild von dem Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt.
Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an: Durch einen Berg soll ein Tunnel gegraben werden. Nun wird von beiden Seiten ein Bohrer angesetzt, und es wird kontinuierlich immer weiter in den Berg gebaggert. Das geht solange, bis eines Tages die Bohrlöcher aufeinandertreffen, und dann ist der „Bruch“ da, der Durchbruch nämlich, die Diskontinuität. Solche und ähnliche Zusammenhänge ließen sich an vielen anderen Beispielen darstellen.
Wenn wir uns nun das „II. Vatikanum“ betrachten, so werden wir unschwer feststellen, daß es nicht aus heiterem Himmel gefallen ist. Nicht nur jahrzehntelang, nein jahrhundertelang war darauf hingearbeitet worden. Wir erinnern nur an die „Alta venta“ der „Carbonari“ vom frühen 19. Jahrhundert, an das „Freimaurer-Gegenkonzil“ gegen das (I. und einzige) Vatikanum 1869/70, an die Wühlarbeiten der Modernisten und dann auch der Kommunisten in der Kirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von den allem vorausgegangen Vorarbeiten der Jansenisten, Gallikaner und noch früher der „Reformatoren“, der Humanisten etc. ganz abgesehen. All diese Vorgänge und Bestrebungen sind geschichtlich belegt und dokumentiert, sie stellen gewissermaßen die „Tradition“ des „II. Vatikanums“ dar. Sie wurden mit bemerkenswerter Kontinuität unermüdlich fortgesetzt, bis endlich der Durchbruch gelang.
So gesehen kann man also zwar das „II. Vatikanum“ mit Recht einen „Bruch“ oder eine „Diskontinuität“ nennen, gleichwohl steht es in einer „Kontinuität“ oder „Tradition“, aus welcher es folgerichtig hervorging. Es war eben nicht eigentlich ein Bruch, sondern ein Durchbruch. Am Beispiel der Liturgie wird dies besonders klar sichtbar. Bekanntlich hatte Bugnini seine ersten offiziellen Schritte hin zum „Novus Ordo“ bereits in den 1950er Jahren getan mit den „Reformen“ der Karwoche und der Rubriken, die schließlich noch etwas erweitert und ergänzt in die sog. Liturgie von 1962 oder „Liturgie des seligen (und nunmehr „heiligen“!) Johannes XXIII.“ eingingen. Nicht umsonst hatte ein Kenner (P. Carlo Braga) die Karwochen-“Reform“ den „Kopf des Rammbocks“ genannt, mit „welchem die Festung der bis anhin statischen Liturgie eingerissen wurde“. Mit dem „II. Vatikanum“ und seiner Liturgiekonstitution gelang dem „Rammbock“ der Durchbruch, der dann wieder in folgerichtiger Kontinuität über den Zwischenritus 1965 zum „Novus Ordo“ führte.
Wenn wir nun versuchen, in diese etwas realistischere Perspektive die sog. „Traditionalisten“ einzuordnen, z.B. anhand der von ihnen ausschließlich verwendeten 1962er Liturgie, so stellen wir überrascht fest, daß sie nicht wirklich in der katholischen Tradition stehen, sondern vielmehr in jener des „II. Vatikanums“, zwar noch vor dem Durchbruch, doch schon ganz nahe daran. Wir verstehen daraus gut, wieso ein Ratzinger, der so ziemlich als einziger die Dinge wirklich durchschaut zu haben schien, diese „Traditionalisten“ als Verbündete für die Rettung „des Konzils“ und seiner Errungenschaften gewinnen wollte.
Für ihn nämlich zeichnete sich die Gefahr ab, daß der gebohrte „Tunnel“ nun von der anderen Seite, den „Neuerern“ oder „Progressisten“ her, wieder zugeschüttet zu werden drohte. In der ganz und gar evolutionistischen Auffassung der Modernisten und fast mehr noch der Postmodernisten wäre ein solches Abschneiden der „Tradition“ gleichbedeutend mit dem Verstopfen des Lebensflusses. Kann er nicht mehr weiterfließen, so trocknet alles aus und verdorrt. Mit der Hilfe der 1962er „Traditionalisten“ schien es möglich, den Tunnel an der entscheidenden Stelle offen zu halten, zumal er bis dorthin noch ordentlich abgestützt, ausgebaut und zementiert schien, was in seinen späteren Abschnitten wegen der Ungeduld und Eile beim Durchbruch und danach vernachlässigt worden war. Dann würde es auch möglich werden, die „Traditionalisten“ selbst zum Weitergehen zu veranlassen und somit die Kontinuität in der Diskontinuität zu vollenden.
Ganz im Sinn dieses Modells muß sicherlich das Motu proprio „Summorum Pontificum“ gelesen werden, wenn anders man es wirklich verstehen und einordnen will. Dann wird klar, wie Ratzinger erlauben konnte, „das Meßopfer nach der vom sel. Johannes XXIII. im Jahr 1962 promulgierten und niemals abgeschafften Editio typica des Römischen Meßbuchs als außerordentliche Form der Liturgie der Kirche zu feiern“ (und nur diese Form, nicht etwa eine noch frühere!), und behaupten, es handle sich um zwei „Ausdrucksformen“ derselben „lex orandi“ der „Kirche“.
Wie es aussieht, scheiterte Ratzinger mit seinem weitschauenden Projekt an der Borniertheit der Partner auf beiden Seiten des „Durchbruchs“. Weder „Traditionalisten“ noch „Modernisten“ konnten seinen Gedankenflügen folgen. Doch es wäre nicht das erste Mal, daß ein Denker, der seiner Zeit voraus war, etwas ersann, was später dann doch Wirklichkeit wurde, und wenn es Jahrhunderte dauerte. Und so viel Zeit dürfte es diesmal kaum beanspruchen, sehnen sich doch die „Traditionalisten“ schon lange danach, endlich „der Kirche die Tradition zurückzubringen“ bzw. von „der Kirche“ wiedergefunden zu werden. In ihrem töricht eitlen Stolz halten sie sich zugute, die einzigen zu sein, an denen das „konziliare“ Rom Interesse zeigt. Wir finden daran wenig Überraschendes, sind sie doch die einzigen, die sich mit ihrer 1962er Positionierung einerseits und ihrer Anerkennung der „konziliaren Kirche“ als „die Kirche“ andererseits eindeutig als die „Tradition“ dieser und nicht der katholischen Kirche zu erkennen geben.
Für uns als Katholiken kommt es freilich nicht in Frage, uns dieser „Kirche“ oder ihrer „Tradition“ anzuschließen. Wir wollen der wahren, der katholischen Kirche treu bleiben, nicht der „konziliaren Kirche“ und deren „Tradition“. Die wahre Kirche aber steht in völligem Gegensatz zu dieser Anti-Kirche, da gibt es keine Kontinuität und auch keine Diskontinuität, nur einen Abgrund, der die beiden trennt und jeden vor die Wahl stellt: katholisch oder nicht? Darum ist auch ein „Dialog“ von vornherein gar nicht erst denkbar. Zu diesem Ende muß man freilich alles sorgsam meiden, wo sich der katholische Boden irgendwie oder gar bedenklich beugt und die Kontinuität hin zur Diskontinuität einläutet.
Auf gut katholischem Boden befinden wir uns in der Liturgie vor den Reformen unter Pius XII., in der Theologie muß man oftmals weiter zurück, begann doch bereits Ende des 19. Jahrhunderts sich massiv die Angst auszubreiten, gegenüber der modernen Wissenschaft ins Hintertreffen zu geraten und namentlich die katholische Lehre von der Schöpfung nicht mehr aufrechterhalten zu können. Kurz, wir müssen Antimodernisten sein und bleiben, nur so entgehen wir der Gefahr, in den Strudel der revolutionären „konziliaren Kirche“ zu geraten und uns dabei noch einzubilden, die katholische „Tradition“ zu vertreten, nur weil wir uns einem frührevolutionären Stadium verhaftet fühlen.