1. Joseph Ratzinger ist zweifellos einer der bekanntesten, zugleich aber einer der am meisten unterschätzten und mißkannten Theologen und Kirchenmänner der „konziliaren“ Epoche. Hartnäckig begleiteten ihn seine ganze Laufbahn hindurch die Gerüchte, er habe sich „geändert“, vom Progressiven zum Konservativen, man sprach gar von „Ratzinger I“ und „Ratzinger II“: aus dem jungen theologischen Heißsporn wurde zunächst der besonnene Theologieprofessor, dann aus dem modernistischen Professor der konservative Erzbischof, aus dem doch noch reichlich liberalen Erzbischof der erzkonservative „Panzerkardinal“, schließlich gar der fast schon „traditionalistische“ Papst. Dem ganz entgegen stand vor allem die Selbsteinschätzung Ratzingers selbst, der in einem Fernsehinterview, das er als Benedikt XVI. gewährte, all diesen Behauptungen entgegenhielt, er sei immer der gleiche gewesen. Was auch stimmt.
2. Freilich haben die Fehleinschätzungen seiner laufenden „Wandlungen“ ein gewisses „fundamentum in re“, also eine sachliche Begründung. Erstens war Ratzinger als Intellektueller mit seltener Begabung, Fleiß und Intelligenz stets flexibel und lernfähig und damit auch stets auf der Höhe seiner Zeit, was oft nicht verstanden und als Änderung seines Standpunkts interpretiert wurde; so schaltete er etwa bereits auf den „Postmodernismus“ um, als die große Mehrzahl seiner Kollegen noch gar nicht einmal wußte, was das sein soll, und daher mit völligem Unverständnis reagierte bzw. ihn für „konservativ“ geworden hielt (bis heute ist das so).
Zweitens hat Ratzinger gewissermaßen ein Doppelgesicht, denn als Ästhet und tief in Volksfrömmigkeit verwurzelter Bayer aus altem katholischem Geschlecht besitzt er ein durch und durch klassisches und vor allem traditionell katholisches Gespür und Empfinden. Das äußert sich etwa in seinen liturgischen oder musikalischen Vorlieben oder in seiner Bekleidung. Zudem verfügt er dank seiner bayerischen Schulbildung auch über ein klares Bewußtsein für geschichtliche Zusammenhänge, was sich u.a. in seiner Wahl päpstlicher Utensilien und Kleidungsstücke zeigte. All das verleiht ihm eine „konservative“ Aura. In diesem Gewand jedoch steckt ein zutiefst von den modernen Irrtümern aller Art durchdrungener Geist, den er wohl seiner Zeit als überaus hochbegabter Student der Philosophie und Theologie in einer großteils modernistisch geprägten Umgebung verdankt.
Sein Geist ist ganz von modernistischen und dialektischen Prinzipien geformt. Eines dieser Prinzipien, und nicht das unwesentlichste, ist der evolutive Fortschritt durch das Zusammenspiel zweier gegensätzlicher Kräfte, einer „progressiven“, die nach vorne drängt, und einer „konservativen“, die bremsend wirkt. Würde eine dieser Kräfte zu stark werden oder sich verselbständigen, so würde es entweder keinen Fortschritt mehr geben, was Erstarrung und Tod mit sich brächte, oder es würde durch die explosive Kraft alles zerrissen und zersprengt. Im modernistischen System sind deshalb die Rollen aufgeteilt: Laien, Professoren, Pfarrer etc. haben den „progressiven“ Part zu spielen, die Hierarchen, Bischöfe, Kardinäle, Papst den „konservativen“ (dabei gibt es natürlich Spielräume und Varianten). Daraus ergibt sich automatisch die Regel, daß ein Professor, der in die Hierarchie aufsteigt, einen gewissen „Wandel“ zu vollziehen hat und umso „konservativer“ wird, je höher er im Rang klettert. Allerdings ist die Auswahl, wer in die Hierarchie aufsteigen wird, bereits unter den Theologen vorangelegt. Es gibt dort im wesentlichen zwei Gruppen, die sich nach theologischen Zeitschriften benennen: die „Communio“-Theologen und die „Concilium“-Theologen. Zu ersteren gehörten oder gehören u.a. Joseph Ratzinger, Karl Lehmann, Walter Kasper, Christoph Schönborn, zu letzteren Yves Congar, Hans Küng, Johann Baptist Metz, Karl Rahner und Edward Schillebeeckx. Es war also klar, für welche Aufgaben und Rollen in diesem Spiel ein Ratzinger vorherbestimmt war.
3. Damit haben wir ein wenig die Grundlagen und das Rüstzeug, um zu verstehen, wie sehr gerade dieser Mann, den manche letztlich für gescheitert halten, vielleicht mehr als andere „Konzilspäpste“ die Kirche verändert hat, gerade im Zusammenspiel mit seinem Vorgänger Karol Wojtyla und nun seinem „Nachfolger“ Bergoglio. Wojtyla hat in gewisser Weise die ideellen Grundlagen geschaffen. Er war der charismatische „Visionär“, der mit Assisi den Entwurf der neuen ökumenistischen Superkirche plakativ und mit meisterhaftem Gespür für Theatralik aller Welt vor Augen führte. Ratzinger jedoch hat die entscheidenden Weichen gestellt, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, was Bergoglio nun weiter durchzuführen hat. Ratzinger war es, der die Veränderungen oft durchführte, von denen ein Wojtyla mehr oder weniger nur träumte oder schwärmte.
4. Eine der fixen Ideen Karol Wojtylas war die Änderung des Papsttums. In seiner Enzyklika „Ut unum sint“ fordert er die Andersgläubigen dazu auf, mit ihm darüber nachzudenken, wie man den „Dienst an der Einheit“ und „Primat der Liebe“ neu gestalten könne, damit er kein ökumenisches Hindernis mehr ist. Joseph Ratzinger hat sicher gründlich darüber nachgedacht und, als er selbst auf dem Papstthron saß, auch entsprechend gehandelt.
Montini alias Paul VI. hatte die Tiara, die nach seinen Vorstellungen eigens für ihn angefertigt worden und ein sündteures Geschenk seiner ehemaligen Diözesanen war, symbolträchtig abgelegt und ihren Erlös „für die Armen“ bestimmt. Seither wurden die Päpste nicht mehr gekrönt und trugen keine Tiara mehr auf dem Haupt. Sie führten sie allerdings noch in ihrem Wappen. Bis zu Benedikt XVI. Er war der erste, der die Tiara auch aus dem Wappen entfernte und dafür das Pallium dort einführte. Das war eigentlich nur konsequent, denn was sollte die Tiara noch im Wappen, wenn der Papst sie nicht mehr trug? Es war aber zugleich ein deutliches Signal, daß Joseph Ratzinger fest entschlossen war, ein Papsttum ganz neuer Art zu verwirklichen. Schließlich hatte er sein Pontifikat unter das Motto der „konkreten Gesten“ gestellt.
Der nächste Schritt war der Verzicht auf den Titel „Patriarch des Abendlandes“, eine weitere „konkrete Geste“, die fast unbeachtet geblieben wäre, zumal sie gewissermaßen stillschweigend geschah. Diese „Geste“ stand sicherlich im Dienste der „Ökumene“, auf die wir weiter unten eingehen werden. Sie bedeutete aber vor allem auch eine weitere Einschränkung und Begrenzung der päpstlichen Autorität, ein weiteres Zurückstutzen auf den „Liebesprimat“. Als er dann gar „den Heiligen Stuhl verließ“, um sein Jesusbuch zu schreiben und in dieser wichtigen Sache als Privattheologe und bewußt nicht mit höchster Lehrautorität zu sprechen, war dies ein Schritt mehr zur Entleerung des Papsttums.
Den entscheidenden Schlag versetzte Ratzinger dem Pontifikat durch seinen sonderbaren Rücktritt. Seither gibt es einen kollegial von zwei Herren in Weiß ausgeübten „Petrusdienst“, den „aktiven“ und den „passiven“. Beide residieren im Vatikan, nicht weit voneinander, der eine ganz aktiv im Gästehaus, der andere zurückgezogen und passiv im Kloster. Gelegentliche gemeinsame Auftritte wie zuletzt zum Kardinalskonsistorium oder zur „Heiligsprechung“ ihrer Vorgänger stärken das Bild eines ganz neuen, seiner Heiligkeit und einzigartigen Vorrangstellung völlig entkleideten Ehren- und Liebesprimats, zumal der „aktive“ Petrusdiener sich nur noch „Bischof von Rom“ nennt.
5. Erste Aufgabe des so erneuerten „Petrusdienstes“ ist es, die „konziliare“ ökumenistische Superkirche zu verwirklichen als „Dienst an der Einheit“. Die Dimensionen dieser Superkirche umfassen die ganze Menschheit. Nach den Visionen Wojtylas ist die Kirche ja mit der gesamten Menschheit identisch, hat sich doch Christus bereits mit jedem Menschen gnadenhaft geeint, ob dieser es weiß oder nicht, ob er es will oder nicht. Die Allerlösung macht alle Menschen bereits zu Gliedern der Kirche, nur in verschiedener Bewußtheit und Verwirklichung dieser Zugehörigkeit.
So entsteht das Modell der „konzentrischen Kreise“. Im Mittelpunkt befindet sich die katholische Kirche, die am meisten dieses Bewußtsein verwirklicht hat, dann ihre orthodoxen „Schwesterkirchen“. Es folgen die übrigen christlichen Denominationen, dann die monotheistischen Religionen, vor allem die „älteren Brüder“ im Glauben, schließlich die anderen Religionen und ganz außen endlich alle „Menschen guten Willens“, auch die ungläubigen. Während Wojtyla sein Assisi 1986 noch auf die Weltreligionen beschränkt hatte, weitete Ratzinger sein Assisi 2011 auch auf die Nicht-Gläubigen aus und eröffnete so erstmals die ganze Dimension dieser geistigen Superkirche. Konsequenterweise errichtete er dementsprechend an der Kurie im Päpstlichen Rat für die Kultur auch einen „Vorhof der Heiden“, welcher den Dialog mit Atheisten und Agnostikern zu führen die Aufgabe hat.
Parallel dazu setzte er das Bemühen um die sichtbare Einheit dieser Superkirche fort nach dem Modell der kleinen „ecclesiae“ in der großen „Ecclesia“, also der verschiedenen Seitenkapellen im einen großen Dom. Wovon andere nur geredet und geträumt hatten, dahin tat er den ersten konkreten Schritt mit seiner Errichtung eines eigenen „Ordinariats“ für die Anglikaner. Ein ebensolches Ordinariat für Lutheraner war in Planung, ebenso eines für die „Traditionalisten“. Diese zu verwirklichen wird nun Sache seines Nachfolgers im „aktiven Petrusdienst“ sein.
6. Sein Bemühen um die „Traditionalisten“ hatte auch noch einen anderen Horizont. Wir haben oben schon das modernistische Modell der beiden konkurrierenden Kräfte genannt, welche den gemäßigten und sinnvollen Fortschritt hervorbringen sollen. Der hl. Pius X. schreibt in „Pascendi“ über die vorwärtsdrängende dieser beiden Kräfte: „Wollte aber die Evolution diesem Antrieb allein folgen, so würden leicht die Grenzen der Überlieferung überschritten werden: und die Evolution risse sich derart von dem sie ursprünglich belebenden Prinzip los, daß sie eher Untergang als Fortschritt nach sich ziehen würde.“ Genau diese Gefahr sah Ratzinger durch das Überhandnehmen progressistischer Tendenzen in der „Konzilskirche“ und wollte sie im Sinne seines Dienstes an der Einheit durch ein „traditionalistisches“ Gegengewicht am anderen Ende ausgleichen. Vielleicht hat er schließlich eingesehen, daß die „Piusbruderschaft“ für diese ihr zugedachte Rolle zu leichtgewichtig war.
Zugleich gedachte er mit dieser Integration den Schritt in die postmodernistische Zukunft seiner Kirche zu tun, von der These („Tradition“) über die Antithese (Modernismus) zur Synthese zu gelangen, in welcher beide friedlich nebeneinander aufgehoben sind und einander „befruchten“. In diesem Kontext ist auch seine liturgische „Reform der Reform“ zu betrachten, welche er durch sein vielbeachtetes Motu proprio „Summorum pontificum“ umzusetzen versuchte. (Wenngleich hier auch sein persönlicher Vorzug eine Rolle gespielt haben mag, denn er war nie ein Freund des „Novus Ordo“ und „Volksaltars“, wenngleich er die „konziliare“ Liturgiereform an sich begeistert begrüßte. Das Ergebnis schien ihm über das Ziel hinauszuschießen, weshalb er auch hier wohl ein Gegengewicht schaffen wollte.)
In dieser seiner Vision war er wohl seiner Zeit ein wenig zu sehr voraus, was mit ein Grund für seinen „Rücktritt“ gewesen sein mag. Die alten reaktionären Modernisten konnten und wollten diesem Kurs nicht folgen und torpedierten im Verein mit linksliberalen Medien seine Bemühungen, was ihn müde und mürbe machte und endlich zur Resignation brachte. Zumal er als Intellektueller und Professor nicht der Mann war, rigoros durchzugreifen, und es auch nicht verstanden hatte, sich mit solchen Leuten zu umgeben, die das für ihn taten.
7. Dennoch oder gerade deshalb kann man die Taten seines Pontifikats als geradezu herkuleisch ansehen. In nicht einmal acht Jahren schaffte er mehr als Wojtyla in seinen fast 27 Jahren fertiggebracht hatte. Papsttum und Kirche sind nach ihm definitiv nicht mehr das, was sie vorher (selbst nach dem Konzil) noch waren. Die „Traditionalisten“ sind gebändigt, entschärft, zahnlos gemacht und gespalten. Die Karten zwischen „Progressisten“ und „Konservativen“ sind neu gemischt. Bergoglio findet somit die besten Voraussetzungen, als erster ganz und gar „postkonziliarer Papst“ die „postkonziliare Kirche“ neu zu formen.