Als Gott im brennenden Dornbusch dem Moses erschien, antwortete Er auf die Frage, wer Er sei, und sagte: „Ich bin der Ich bin“ (2 Mos 3, 14). Als im Jahr 1858 im französischen Lourdes der Seherin Bernadette Soubirous die Muttergottes erschien, gab sie auf die Frage nach ihrem Namen zur Antwort: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis.“ Sie bringt damit in vollkommener Weise ihr Wesen zum Ausdruck wie das „Ich bin“ das Wesen Gottes. Um das näher zu sehen und besser zu begreifen, haben wir uns ein wenig mit „Kriteriologie“ beschäftigt, gerade in der heutigen Zeit ein sehr wichtiger Zweig der Philosophie. Damit wollen wir heute zu Ende kommen.
Gewißheit
Nach der Wahrheit behandelt Kälin als nächsten Punkt die „Gewißheit“. Auch das ist für uns heute ein Thema von besonderer Brisanz und Bedeutung. Denken wir an die „Traditionalisten“, die fortwährend nach einer „hundertprozentigen Sicherheit“ verlangen und deswegen den „Sedisvakantismus“ zurückweisen, weil er ihnen diese angeblich nicht bieten kann. Was ist Gewißheit? „Die Gewißheit allgemein ist jener Zustand des Verstandes, in dem dieser einem Urteil zustimmt, ohne Furcht, das Gegenteil davon könnte wahr sein“ (ebd.). Mit Prozentzahlen hat das offensichtlich nichts zu tun. Doch sehen wir uns die Sache näher an.
„Die Gewißheit bezeichnet in erster Linie etwas Subjektives, d.h. einen Zustand des Verstandes, in dem dieser einem Satz mit Festigkeit zustimmt; das ist die subjektive Gewißheit.“ Das ist logisch, die Gewißheit muß in erster Linie subjektiv sein, weil „Ich“ es ja bin, der sich eines Sachverhalts gewiß ist. Dennoch ist sie nichts rein Subjektives, denn: „Im uneigentlichen oder analogen Sinn wird auch der im Urteil ausgesprochene Sachverhalt gewiß genannt, sofern er durch seine einleuchtende Klarheit jenen Zustand der Gewißheit im Verstand zu begründen vermag; darin besteht die objektive Gewißheit (oder Evidenz)“ (ebd.). Es ist das Zusammenspiel zwischen der objektiven und der subjektiven Gewißheit, das letztlich den Ausschlag gibt. Daher kommt es, daß jemand eine noch so klar vor ihm liegende Wahrheit leugnen kann mit der Begründung, er habe darüber keine „hundertprozentige“ Gewißheit. Daher kommt es auch, daß der christkatholische Glaube, wenn er durch noch so viele Zeichen und Beweise beglaubigt ist, immer noch die Freiheit läßt, ihn anzunehmen oder abzulehnen.
„Die eigentliche oder formelle Gewißheit wird jene feste und sichere Zustimmung des Verstandes genannt, die sich auf die objektive gründet, d.h. auf die klare Einsicht, daß der Sachverhalt, dem der Verstand zustimmt, im Gegenstand einleuchtend gegeben ist. Die formelle Gewißheit ist somit bestimmt durch das Einleuchten oder die Evidenz der objektiven Sachverhalte; denn nicht der Verstand, sondern die Dinge sind das Maßgebende für die Wahrheit und Gewißheit“ (ebd.). Darin liegt die Schwierigkeit des liberalen Geistes, der es nicht zugeben will, daß „Wahrheit und Gewißheit“ seinem Verstand durch die Dinge vorgegeben werden, sondern selber bestimmen will, was Wahrheit und Gewißheit sind. „Wer darum mit formeller Gewißheit etwas erkennt, behauptet nicht bloß, subjektiv eine feste Überzeugung zu haben, sondern er weiß mit Sicherheit um die Übereinstimmung seines Denkens mit den Dingen, weil er Einsicht in den Sachverhalt besitzt“ (S. 340-341). Genau das ist es, was das liberale Denken nicht mehr akzeptieren kann. Für den Liberalen git es nur subjektive Eindrücke und Meinungen ohne Anspruch der Übereinstimmung mit den Dingen, weil es keine wirkliche Einsicht in den Sachverhalt gibt. Deshalb wird da, wo es doch einmal auf eine solche Einsicht in den Sachverhalt ankommt, beispielsweise bei einer Zeugenaussage vor Gericht, extra noch einmal nachgefragt: „Sind Sie sich da sicher?“
Arten der Gewißheit
Es gibt verschiedene Arten von formeller Gewißheit, die man je nach Art der Einsicht wie folgt unterscheidet: „1. Die einleuchtende (evidente) Gewißheit, wenn der Verstand selber Einsicht in den Sachverhalt besitzt“ (S. 341). Diese wiederum kann sein: „a) Unmittelbar, wenn die Gewißheit durch unmittelbare Einsicht gegeben ist, z.B. bei den obersten Grundsätzen, bei den erlebten Tatsachen der inneren und äußeren Erfahrung.“ Oder sie ist: „b) Mittelbar, wenn die Gewißheit oder Einsicht durch Beweisführung erschlossen ist, z.B. die Unsterblichkeit der Seele. Dabei muß jedoch der denknotwendige Zusammenhang der erschlossenen Wahrheit mit den unmittelbar einleuchtenden Wahrheiten durch eigene Einsicht erfaßt sein“ (ebd.). Von dieser Art ist die scholastische Beweisführung.
Nächst der einleuchtenden oder evidenten Gewißheit gibt es: „2. Die Glaubensgewißheit, wenn der Verstand in eine Wahrheit selbst keine Einsicht hat, sondern ihr nur auf Grund der sie bezeugenden Autorität zustimmt; z.B. für uns die geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignisse früherer Jahrhunderte.“ Wohlgemerkt: Auch die Glaubensgewißeit ist eben „Gewißheit“ und nicht ein bloßes Meinen oder Wähnen, und auf diese sind wir in vielen, ja unzähligen Dingen angewiesen, wie schon das Beispiel der „geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignisse früherer Jahrhunderte“ zeigt, aber auch viele Gelegenheiten des alltäglichen Lebens, das wir ohne Glaubensgewißheit gar nicht führen könnten. Freilich gilt: „Für diese Gewißheit ist es erfordert, daß der Verstand klare Einsicht in die Glaubwürdigkeit der Autorität besitzt, d.h. daß die bezeugende Autorität die Wahrheit wirklich weiß und tatsächlich sagt“ (ebd.). Darum ist der katholische Glaube so gewiß, weil er auf der Autorität des sich offenbarenden Gottes beruht, der weder Sich noch andere täuschen kann. „Da Gott weder selber irren noch andere täuschen kann, so bietet der übernatürliche oder göttliche Glaube die vollkommenste Gewißheit“, merkt Kälin deshalb in einer Fußnote an.
Anders beim Menschen: „Da der Mensch irren und lügen kann, muß beim menschlichen Glauben die Zuverlässigkeit bezüglich Wissen und Wahrhaftigkeit der Autorität allseitig überprüft werden. Auch wenn diese sichergestellt sind, bildet die menschliche Autorität den niedersten Grad der Gewißheit“ (ebd.). Die Ausnahme bildet die kirchliche Autorität, die von Christus selber eingesetzt, bestätigt und mit der Gabe der Unfehlbarkeit ausgestattet wurde, weshalb wir uns auf sie – und auf sie allein – „hundertprozentig“ verlassen können. (Denken wir an das Wort des Pater Pierre de Cloriviere S.J., die sich jeder mit goldenen Lettern notieren sollte: „Selbst dann, wenn man die Kirche oder ihren obersten Hirten, dem die Unfehlbarkeit verheißen wurde, nicht um Rat fragen kann, darf man keiner wie auch immer gearteten Autorität blindes Vertrauen schenken, da es [sonst] keine Autorität gibt, die nicht selbst dem Irrtum verfallen und uns mit hineinziehen könnte“ – und wäre es die klügste, erfahrenste und heiligste Person (Etudes sur la Revolution, Ed. Sainte Jeanne d‘Arc, S. 132-133).)
„Die höchste natürliche Gewißheit bietet die unmittelbare Einsicht in den objektiven Sachverhalt“ (ebd.). Von daher erklären sich die beliebten Sprichwörter: „Glauben heißt nicht Sehen“, und „Ich glaube nur, was ich sehe“. „Sehen“ meint hier die „unmittelbare Einsicht in den objektiven Sachverhalt“, während „Glaube“ die Glaubensgewißheit meint, „wenn der Verstand in eine Wahrheit selbst keine Einsicht hat, sondern ihr nur auf Grund der sie bezeugenden Autorität zustimmt“. Insofern ist es richtig: „Glauben heißt nicht Sehen.“ Es handelt sich um verschiedene „Arten von formeller Gewißheit“. Daraus erhellt unmittelbar der Unsinn des zweiten Sprichworts: „Ich glaube nur, was ich sehe.“ Denn was man sieht, braucht man nicht zu glauben und umgekehrt. Gemeint ist vielmehr, daß die betreffende Person nicht gewillt ist, ihre Zustimmung des Verstandes irgend einer Wahrheit zu geben, die sie nicht selber unmittelbar eingesehen hat. Das aber ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn kein Mensch kann in alle Sachverhalte, die ihm notwendig oder nützlich sind, unmittelbar Einsicht haben, sondern ist vielfach auf Glauben angewiesen. Das beginnt schon beim Kleinkind, das seinen Eltern glaubt, z.B. daß es die heiße Herdplatte nicht anlangen soll, und gut damit tut. Es setzt sich im späteren Leben fort, wo wir vieles glauben oder glauben müssen, was wir nicht unmittelbar einsehen, in der Schule, im Studium, im Beruf, im praktischen Leben… Die Erfahrung zeigt, daß gerade jene, die sich einbilden, nichts zu glauben als was sie selber einsehen, bereit sind, unkritisch jeden Unsinn und alle Lügen zu glauben, die ihnen von der „richtigen Seite“ – z.B. den Medien, ob „Mainstream“ oder „alternativ“ – eingebleut werden. Der dumme Satz selber: „Ich glaube nur, was ich sehe“, gehört bereits dazu.
Verschiedene Grade der Gewißheit
Auch die formelle Gewißheit kennt verschiedene Grade. „Je nachdem ein Sachverhalt absolut oder hypothetisch notwendig ist, ist auch die Gewißheit, die sich darauf gründet, absolut oder hypothetisch. Die absolute Gewißheit wird auch metaphysische genannt; die hypothetische ist entweder eine physische oder eine moralische Gewißheit“ (ebd.). Dementsprechend werden „drei Grade von formeller Gewißheit“ unterschieden: „1. Die metaphysische Gewißheit ist jenen Urteilen eigen, die sich aus der Einsicht in die Wesenheit der Dinge ergeben. Sie sind schlechthin unveränderlich, so daß ihr Gegenteil nie wahr sein kann; z.B. das Ganze ist größer als der Teil; was wird, muß einen hinreichenden Grund haben“ (ebd.). Das wäre so ungefähr das, was man „hundertprozentige Sicherheit“ nennen kann. Interessanterweise werden gerade diese metaphysischen Gewißheiten vom „modernen“ Denken geleugnet, z.B. das Widerspruchsprinzip oder das Kausalprinzip. Dann wundern sich die Leute, daß sie keine Sicherheit mehr haben.
„2. Die physische Gewißheit kommt jenen Urteilen zu, deren Sachverhalt auf der hypothetischen Notwendigkeit der Naturgesetze beruht; d.h. solange kein Naturgesetz aufgehoben wird; z.B. es kehrt kein Toter zum Leben zurück“ (ebd.). Auch diese Art der Gewißheit, auf der doch die ganze für die „Moderne“ so wichtig gewordene „Naturwissenschaft“ ruht, ist heute mehr als hypothetisch geworden. In der neuen „Erkenntnistheorie“ gilt, daß ein Satz nur so lange als gültig betrachtet werden kann, als er nicht falsifiziert worden ist. „3. Die moralische Gewißheit wird jenen Urteilen zugeschrieben, deren Sachverhalt wahr ist nach den Gesetzen, denen die menschlichen freien Handlungen unterliegen, d.h. die sicher und gewiß bleiben, soweit in der moralischen Ordnung nichts Außergewöhnliches geschieht; z.B.: die Mutter liebt ihr Kind“ (S. 342). In der Praxis wird man finden, daß unsere Gewißheiten meist eine Mischung sind aus metaphysischer, physischer und oder moralischer Gewißheit.
Meinung und Zweifel
Von der Gewißheit zu unterscheiden ist die „Meinung“, die Kälin beschreibt als jenen „Zustand des Verstandes, in dem dieser einem Urteil auf wahrscheinliche Gründe hin zustimmt, aber mit der Befürchtung, das Gegenteil davon könnte wahr sein“. „Je nach der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit der Gründe gibt es verschiedene Grade der Meinungen“ (S. 342). Nachdem das „moderne“ und liberale Denken die Gewißheiten abgeschafft hat, da sie vom Objekt her kommen und das Subjekt sich dadurch beeinträchtigt fühlt, hat es sie durch bloße subjektive Meinungen ersetzt. So kommt es, daß es im öffentlichen (oder privaten) Diskurs nicht mehr um Wahrheit geht, sondern nur noch ein Streit zwischen verschiedenen Meinungen stattfindet, wobei jede Partei ihre Ideologie durchzusetzen sucht und in der Regel der „Stärkere“ oder Skrupellosere gewinnt.
Der Gegensatz zur Gewißheit ist der Zweifel, „jener Zustand des Verstandes, in dem dieser zwischen zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen schwankt, und weder dem einen noch dem andern zustimmt“. „Wenn der Verstand keinem der beiden Urteile zustimmt, weil keine Gründe für das eine noch für das andere sprechen, so befindet er sich im negativen Zweifel. Stimmt er aber keinem der beiden Urteile zu, weil für beide Teile gleichwertige Gründe vorhanden sind, so spricht man von einem positiven Zweifel“ (ebd.). Der Zweifel ist bekanntlich seit Descartes die Grundlage der „neuzeitlichen Philosophie“ geworden, während die Moraltheologie sagt, daß man mit einem praktischen Zweifel niemals handeln darf. Aber natürlich ist der Descartsche Zweifel kein praktischer, sondern ein höchst spekulativer, gewollter, „methodischer“ – solange man damit nicht ernst mache.
Sicherheit und Überzeugung
Fügen wir an dieser Stelle noch an, was Walter Brugger in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ über die Gewißheit zu sagen hat. „Gewißheit (Sicherheit)“, schreibt er, „besagt eine sowohl dem psychologischen Aktvollzug wie der logischen Geltung nach vollendete Erkenntnis. Sie kann definiert werden als feste, in der Evidenz des Sachverhaltes begründete Zustimmung“ (S. 142). Sie hat, wie wir schon bei Kälin hörten, eine subjektive und eine objektive Seite. „Nach der psychologischen Seite ist Gewißheit ein in der Zustimmung (Behauptung) sich vollendendes Urteil, und zwar eine ‚feste‘, d.h. unter Ausschluß jeden Zweifels als endgültig gesetzte Zustimmung – im Gegensatz zur bloßen Meinung, die eine vorläufige, nicht jeden Zweifel ausschließende Zustimmung besagt.“ Brugger fügt ein wichtiges Detail hinzu: „Normalerweise ist die Gewißheit mit einer Beruhigung des Gefühls verbunden; doch hebt ein etwa verbleibendes Gefühl der Unruhe das Wesentliche der Gewißheit nicht auf“ (ebd.). Ein solches „Gefühl der Unruhe“ nennen wir in diesem Fall Skrupel. „Gewißheit im psychologischen Sinn wird auch Überzeugung genannt, namentlich insofern sie nicht nur als vorübergehender Akt, sondern als bleibende geistige Haltung betrachtet wird“ (ebd.). Überzeugung ist mehr als bloße Meinung, sie beschreibt eine echte Gewißheit.
Brugger unterscheidet verschiedene „Weisen der Gewißheit“, und zwar „– außer nach der Verschiedenheit des Gegenstandes – nach der Eigenart der Begründung und nach dem Grad der Bewußtheit, mit der sie erfaßt wird, ferner nach der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit vom Willen“ (ebd.). Wichtig ist die Unterscheidung in theoretische und praktische Gewißheit, wobei die theoretische Gewißheit meist das gleiche meint wie „theoretisch (logisch) vollgültige Gewißheit, während praktische Gewißheit etwa einen für das Leben hinreichenden hohen Grad von Wahrscheinlichkeit der Aussage bezeichnet“ (S. 142-143). „Je nach der Verschiedenheit der Evidenz“ unterscheidet auch Brugger „absolute und bedingte (hypothetische) Gewißheit“. „Die absolute Gewißheit heißt auch metaphysische Gewißheit. Die bedingte Gewißheit ist physische oder moralische Gewißheit, je nachdem sie auf physischer oder moralischer Evidenz beruht“ (S. 143). So haben wir es bei Kälin schon gehört. Es gibt jedoch noch eine „moralische Gewißheit im weiteren Sinn“. Diese „ist eine praktische Gewißheit, bei der es genügt, daß die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist“ (ebd.). Diese moralische Gewißheit genügt in der Regel für unser menschliches Handeln. Auch die Kirche begnügt sich mit dieser moralischen Gewißheit, wenn es beispielsweise um die Gültigkeit der Sakramentenspendung geht. Es braucht da keine absolute, metaphysische, „hundertprozentige“ Sicherheit.
Eine wichtige Anmerkung hat Brugger zu machen zum „Verhältnis der Gewißheit zum Willen“: „Das der Evidenz zunächst entsprechende Erfassen (‚Sehen‘) des Sachverhaltes hängt nicht unmittelbar vom freien Willen ab, sondern höchstens mittelbar durch die willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit. Dagegen hängt die Zustimmung und ihre Festigkeit oft vom freien Willen ab, nicht nur in ihrem Vollzug oder Nichtvollzug, sondern nicht selten auch in ihrem Ja oder Nein zum selben Gegenstand (freie Gewißheit); dies gilt namentlich vom Glauben“ (ebd.). So kommt es, daß man, gerade was den Glauben betrifft, oft mit Engelszungen predigen und noch so unwiderlegliche Beweise vorlegen kann und dennoch auf taube Ohren trifft. Der Wille ist eben frei und kann sich der Wahrheit entziehen, selbst wenn sie leibhaftig vor ihm steht – wie Jesus Christus vor Pontius Pilatus.
Evidenz
Kälin nimmt noch eine „Begriffsbestimmung der Evidenz“ vor: „Unter Evidenz oder Einleuchten versteht man das klare Sichzeigen der Dinge gegenüber dem erkennenden Geiste. Man kann auch sagen, sie ist die Erkennbarkeit oder die ontologische Wahrheit der Dinge, sofern diese dem Verstand sich tatsächlich klar offenbaren“ (a.a.O.). Analog der Gewißheit, die sie begründet, wird auch die Evidenz der Sachverhalte unterschieden. Demnach gibt es: „1. Eine Evidenz der Sache oder Wahrheit, wenn der Sachverhalt eines Dinges dem Verstand selber einleuchtend ist.“ Diese wiederum kann sein „a) unmittelbar, wenn sie ohne Beweisführung gegeben ist; b) mittelbar, wenn der Sachverhalt durch Beweisführung einleuchtend wird“ (ebd.). Evident ist also ein Sachverhalt nicht nur, wenn er unmittelbar eingesehen wird, sondern auch wenn er durch Beweise klar dargelegt ist. Auch bei der Evidenz werden die Grade „metaphysische, physische und moralische unterschieden, je nachdem der Inhalt auf metaphysischer, physischer oder moralischer Notwendigkeit beruht“ (ebd.).
Zweitens gibt es eine „Evidenz der Glaubwürdigkeit, wenn der Sachverhalt vom Verstand selber nicht eingesehen wird (weder unmittelbar noch mittelbar), wohl aber die Zuverlässigkeit der Autorität dem Verstand einleuchtet, indem das Wissen und die Wahrhaftigkeit des Zeugen mit Gewißheit erkannt wird“. Von dieser Art ist die Evidenz des katholischen Glaubens, der auf der Zuverlässigkeit der Zeugen beruht: die heiligen Apostel und das unfehlbare kirchliche Lehramt. Auch diese Evidenz kann unmittelbar sein, „wenn man die Glaubwürdigkeit des Zeugen durch eigene sichere Einsicht kennt“, oder „mittelbar, wenn man über die Glaubwürdigkeit des Zeuge nur durch zuverlässige Mittelspersonen sicher unterrichtet wird“ (ebd.). Ein schönes Beispiel für diese beiden Arten finden wir bei der Begegnung Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Nachdem der Heiland mit der Frau gesprochen und sich ihr gegenüber als Messias offenbart hat, was Er durch eine Kostprobe Seiner Herzensschau beglaubigte, läuft sie in die Stadt „und sagte zu den Leuten: Kommet, und sehet einen Mann, der mir alles gesagt hat, was ich je getan habe. Ist er nicht etwa Christus? Sie gingen also alle aus der Stadt und kamen zu ihm“ (Joh 4, 28-30). Nachdem sie mit Ihm gesprochen hatten, glaubten viele von ihnen an Ihn „seiner Lehre wegen“. „Und sie sprachen zu dem Weibe: Wir glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben ihn selbst gehört und wissen, daß dieser wahrhaftig der Heiland der Welt ist“ (V. 41-42). Zunächst waren sie nur durch die „Mittelperson“ der Samariterin über die Glaubwürdigkeit des sich offenbarenden Christus unterrichtet worden, nun kannten sie Dessen Glaubwürdigkeit „durch eigene sichere Erkenntnis“.
Tatsache der Wahrheit und Gewißheit
Gehen wir kurz noch auf die „Tatsache der Wahrheit und Gewißheit“ ein, die keineswegs selbstverständlich ist, wird sie doch bekanntlich „in verschiedenster Weise beantwortet“. „Die einen sind überzeugt, daß der Mensch unveränderliche, allgemeingültige Wahrheiten mit Gewißheit erkennt. Andere erklären, der Mensch vermöge überhaupt nichts Wahres zu erkennen, es gebe keine Gewißheit (Skeptizismus). Verwandt mit dieser Ansicht ist die Lehre jener, die behaupten, der Mensch vermöge zwar Wahres zu erkennen, aber alle Wahrheit sei relativ und veränderlich; allgemeingültige, vom Menschen, von Raum und Zeit unabhängige Wahrheiten hingegen gebe es nicht (Relativismus und Pragmatismus)“ (S. 343). Skeptizismus, Relativismus und Pragmatismus sind heute die gängigen Denkmuster und durch den Liberalismus und Modernismus auch unter die Katholiken eingedrungen.
Es sind, wie uns Kälin berichtet, „im Laufe der Zeit verschiedene Methoden vorgeschlagen worden“, welche „die Gewißheit unserer Erkenntnis auf eine sichere Grundlage“ stellen wollen. „Descartes (+1650) vertrat die Ansicht, man müsse, um die Gewißheit zu begründen, zunächst alles, auch die Wahrhaftigkeit der Erkenntniskräfte, in Zweifel ziehen; denn es sei Tatsache, daß die Sinne und die Vorstellung uns oft täuschen, und daß wir auch im Denken selbst bei leichten Denkaufgaben (z.B. bei Additionen von Zahlen) irren.“ Diese Beobachtung ist sicherlich zutreffend, nur hätte Descartes dabei schon auffallen müssen, daß wir, um solche Täuschungen und Irrtümer feststellen zu können, bereits die sichere Erkenntnis einer Wahrheit voraussetzen müssen, ohne die wir gar nicht von Täuschungen und Irrtümern reden könnten. Doch weiter mit dem Denken Descartes’: „Nur der eine Satz: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum) lasse keinen Zweifel zu, weil dessen Wahrheit mit besonderer Klarheit und Deutlichkeit einleuchte; denn selbst wenn man immer getäuscht würde, so müsse man doch notwendig denken und existieren, um getäuscht werden zu können. Aus diesem Satz müsse sodann die Gewißheit aller Erkenntnisse abgeleitet werden“ (ebd.).
Auf diesem amrseligen und flüchtigen Grund basiert die ganze „neuzeitliche Philosophie“. Immanuel Kant (+1804) dachte die Sache weiter und „vertritt die Auffassung, man dürfe bei der Begründung der Gewißheit nicht von der natürlichen Wahrhaftigkeit der Erkenntniskräfte und von den von selbst einleuchtenden Prinzipien ausgehen, sondern man müsse zuerst untersuchen und beweisen, ob und was der Verstand mit Gewißheit erkennen könne. Diese Methode Kants wird Kritizismus genannt und wird von zahlreichen modernen Philosophen befolgt“ (ebd.). Ein nicht von diesem Kritizismus infizierter Philosophie-Professor verglich diese „Philosophen“ einst mit einem Manne, der mit dem Brotmesser in der Hand vor dem Brotlaib verhungert, weil er die ganze Zeit nur darüber sinniert, ob das Messer wohl schneide, anstatt es herzhaft in die Hand zu nehmen und sich ein nährendes Stück Brot abzuschneiden und einzuverleiben.
„Aristoteles (+ 322 v. Chr.) und seine Anhänger lehren, der Mensch müsse bei allen Untersuchungen von ersten unleugbaren, durch sich selbst einleuchtenden Prinzipien und Tatsachen ausgehen“, wie es ein jeder Mensch von Natur aus bereits tut. „Diese Wahrheiten können nicht direkt bewiesen werden, weil sie die Grundlage jeder Beweisführung bilden; sie brauchen auch nicht bewiesen zu werden, weil sie jedermann so von Natur aus als notwendig wahr erkennt, daß niemand sie ohne Widerspruch leugnen kann“ (ebd.) – auch wenn man es desto verzweifelter versucht. „Diese Wahrheiten werden darum nicht willkürlich oder grundlos angenommen, wie die Skeptiker und die Anhänger des Kritizismus meinen, sondern tragen den Grund ihrer Wahrheit in sich selbst (unmittelbare Evidenz)“ (S. 343-344). Gerade deshalb schmecken sie dem Liberalen nicht, der sich nichts von außen vorgeben lassen will und deshalb sogar die Natur der Dinge, ja seine eigene Natur nach seinen subjektiven Vorstellungen ummodeln will – was ebensowenig funktioniert wie die Leugnung der Widersprüche oder die Quadratur des Kreises.
Zweifel begründet keine Gewißheit
Dagegen konstatiert Kälin: „Die Gewißheit läßt sich nicht dadurch begründen, daß man alles in Zweifel zieht“ (S. 344). Das müßte eigentlich unmittelbar einleuchten, sind doch Gewißheit und Zweifel Widersprüche, und so kann aus dem einen nicht das andere werden, so wenig wie aus nichts etwas werden kann. „Der allgemeine (auch bloß methodische) Zweifel ist metaphysisch unmöglich; denn bei jeder Untersuchung und bei jedem Zweifel müssen gewisse Wahrheiten mit absoluter Notwendigkeit vorausgesetzt werden, von denen man nicht zunächst absehen kann, um sie sodann zu begründen“ (ebd.). Es gibt eine seelische Störung, die man „Derealisationsstörung“ nennt und die im Grunde in nichts anderem besteht als einem „Ernstmachen“ mit dem allgemeinen, radikalen Zweifel. Von dieser Störung betroffene Personen erleben alles um sich herum einschließlich der eigenen Person als fremd und unwirklich. Als Therapie (MSD Manual werden in solchen Fällen u.a. „kognitive Methoden“ angewendet, die „dabei helfen, zwanghaftes Nachdenken über den unwirklichen Daseinszustand zu blockieren“, oder „verhaltenstherapeutische Methoden“, die den Betroffenen helfen sollen, „sich in Arbeiten zu versenken, die sie von der Depersonalisation ablenken“, oder „Erdungsmethoden“ welche „die 5 Sinne (Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und Sehen)“ nutzen, „um Menschen zu helfen, sich mehr mit sich selbst und der Welt verbunden zu fühlen“. Ähnlich „therapeutisch“ wirkt die Philosophie des Aristoteles gegen die Wahrnehmungsstörungen der „modernen Philosophie“.
Es müssen also immer, „bei jeder Untersuchung und bei jedem Zweifel“, „gewisse Wahrheiten mit absoluter Notwendigkeit vorausgesetzt werden, von denen man nicht zunächst absehen kann, um sie sodann zu begründen“. „Denn jede Untersuchung und jeder Zweifel setzt als absolut wahr und einleuchtend“ wenigstens drei Dinge voraus: „1. Eine erste Tatsache, nämlich die Existenz des denkenden Subjekts; denn wer zweifelt, setzt damit die eigene Existenz als absolut wahr und gewiß voraus.“ Ohne das ist gar kein Denken und nicht einmal ein Zweifeln möglich. „2. Ein erstes Prinzip, nämlich das Kontradiktionsprinzip“ oder (Nicht-)Widerspruchsprinzip. Denn „wer eine Untersuchung anstellt oder an etwas zweifelt, muß dabei als absolut gewiß voraussetzen, daß ‚untersuchen‘ und ‚nicht untersuchen‘, ‚zweifeln‘ und ‚nicht zweifeln‘ nicht dasselbe sein können, daß ‚wahr‘ nicht zugleich ‚falsch‘, und der Gegenstand der Untersuchung oder des Zweifels nicht zugleich sein und nicht sein könne“ (ebd.). Das ist schon allerhand, was man da voraussetzen muß, bloß um zweifeln zu können. Doch nicht nur eine erste Tatsache und ein erstes Prinzip, nein, man muß 3. auch eine „erste Bedingung“ setzen, „nämlich die Fähigkeit der Erkenntnisvermögen, das Wahre zu erkennen; denn sonst wäre jede Untersuchung und sogar jeder Zweifel unmöglich, weil der Gegenstand der Untersuchung oder des Zweifels überhaupt nicht als wahr erkannt werden könnte“. „Man wüßte nichts vom Unterschied zwischen wahr und falsch“ (ebd.).
Es läßt sich nicht alles beweisen
Die Gewißheit läßt sich also „nicht dadurch begründen, daß man alles in Zweifel zieht“. Sie läßt sich aber auch nicht „dadurch begründen, daß man alles beweisen will“. Denn für jede Beweisführung sind die „eben angeführten Wahrheiten als gewiß vorausgesetzt: das Kontradiktionsprinzip, die eigene Existenz, die Fähigkeit, das Wahre zu erkennen“ (ebd.). „Wer nichts als gewiß annimmt, außer was bewiesen werden kann, gelangt nie zur Gewißheit, sondern verfällt dem Skeptizismus“ bzw. der „Derealisationsstörung“. „Die Forderung, alles zu beweisen, führt nämlich zu einer endlosen Reihe von Beweisen und ist darum undurchführbar.“ Das ist das berühmte „argumentum ad infinitum“. „Alles bleibt dabei unbewiesen; denn wenn jeder Satz wieder aus einem andern zu beweisen ist, und es keine ersten, unmittelbar einleuchtenden Sätze oder Prinzipien gibt, so ist die ganze Beweisreihe ungewiß“, ja nichtig (ebd.).
Darum: „Die wissenschaftliche Gewißheit muß notwendig auf die natürliche Gewißheit der ersten Prinzipien und Tatsachen aufbauen. Das ergibt sich aus den vorausgehenden Begründungen; denn jede Wissenschaft setzt die erste Tatsache, das Kontradiktionsprinzip und die Befähigung zur Erkenntnis der Wahrheit als gewiß voraus“ (ebd.). Folglich: „Alle wissenschaftliche Erkenntnis muß schließlich auf unmittelbar einleuchtende Wahrheiten zurückgeführt werden“, weshalb eine absolute Voraussetzungslosigkeit „innerlich unmöglich“ ist (S. 345). Die „drei genannten Wahrheiten“, auf denen „alle Gewißheit aufbaut, können und brauchen nicht bewiesen werden, weil sie durch sich selbst einleuchtend sind“. Sie „bilden darum die Grundlage für alle andern Erkenntnisse“, können aber selber „nicht mehr auf andere zurückgeführt werden“ (ebd.). In ihrem Besitz befindet sich auch der „kritisch Ungebildete“, wenn er sich auch vielleicht ihrer nicht „reflex bewußt“ ist. „Der kritisch Gebildete unterscheidet sich darum vom sogenannten ‚naiv‘ Erkennenden nicht dadurch, daß er diese Grundwahrheiten zuerst in Zweifel zieht, um sie dann zu bewiesen, sondern daß er durch Rückbesinnung auf das eigene Erkennen sich Rechenschaft zu geben vermag, welches die Grundlagen der Gewißheit sind und warum sie es sind“ (ebd.).
Kritik an Descartes
Daraus formuliert Kälin seine Kritik an Descartes, dessen Methode „nicht in allem zu billigen“ sei. Zwar sei es richtig, „daß der Satz: Ich denke, also bin ich, zu den sicheren Grundwahrheiten gehört“, doch dürfe er „nicht als das einzige und erste Prinzip der Gewißheit betrachtet werden“, wie Descartes das tut. Vielmehr wäre dieser Satz seinerseits hinfällig, wenn nicht die Gewißheit des Kontradiktionsprinzips vorausgesetzt werde, „weil dann ‚denken‘ und ‚nicht denken‘, ‚existieren‘ und ‚nicht existieren‘ dasselbe sein könnten“ (ebd.). Auch enthalte das Vorgehen des Descartes „Fehler gegen die Regeln des Schlußfolgerns“ (auf die wir hier nicht weiter eingehen können). Zudem sei „die Methode des allgemeinen Zweifels undurchführbar, da sie Descartes’ eigene Prinzipien aufhebt“. „Denn, wenn alle Erkenntniskräfte unzuverlässig sind, dann trifft das offenbar auch beim Bewußtsein zu; folglich kann er nicht mehr mit Gewißheit behaupten, daß er denke oder zweifle“ (S. 345-346).
Zwar kann der „methodische Zweifel“, bei welchem man einen Satz solange in Zweifel zieht, bis er eindeutig bewiesen sei, bisweilen „für die Wissenschaft nützlich sein“, doch dürfe er nicht „auf alle Wahrheiten ausgedehnt“ werden (S. 346). „Auch der kantische Kritizismus ist eine ungeeignete Methode, um die Gewißheit zu begründen. Man kann nicht die Fähigkeiten der Vernunft, Wahres zu erkennen, zunächst ablehnen, um dann mit derselben Vernunft die Wahrhaftigkeit und Gewißheit zu beweisen.“ Da beißt sich gewissermaßen die Katze in den Schwanz, oder mit Kälins Vergleich: „Kant gleicht einem Manne, der sich den Ast absägt, auf dem er sitzt, oder einem Menschen, der sich die Augen ausreißt, um sie dann zu besehen“ (ebd.).
Wahrheit und Gewißheit des Dogmas
Als Katholiken halten wir uns an den gesunden Menschenverstand und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes, wie sie Aristoteles und der heilige Thomas von Aquin vertreten und ausgebildet haben. Wir beharren darauf, daß es eine Wahrheit gibt und daß wir sie mit Gewißheit erkennen können, ja, daß es eine absolute Wahrheit gibt, die Gott ist, und daß wir diese mit „hundertprozentiger“ Sicherheit erkennen können, nicht nur mit unserem Verstand, sondern sogar mit einer noch größeren, übernatürlichen Gewißheit durch den Glauben.
Die Dogmen der Kirche stellen uns Wahrheiten vor Augen, welche die Erkenntnismöglichkeiten unseres natürlichen Verstandes übersteigen, und das mit einer Gewißheit, die keine menschliche Vernunft oder rein menschliche Autorität uns geben kann. Mit dieser Gewißheit erblicken wir im Dogma der Unbefleckten Empfängnis die erhabene Wahrheit und Wirklichkeit des Wesens der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria, wie wir sie einst in der ewigen Seligkeit von Angesicht zu Angesicht zu schauen hoffen.