In unserer Reihe der Konzilspäpste haben wir bereits gesehen: Angelo Roncalli, den “Propheten”, Giovanni Battista Montini, den “Macher”, und Karol Wojtyla, den “Wissenden”. Damit kommen wir zu Joseph Ratzinger.
Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI.: Der Ästhet
1. Von Johannes Paul II. zu Benedikt XVI.
Wie wir im letzten Artikel dargelegt haben, hat Karol Wojtyla einen bleibenden Eindruck in der Konzilskirche hinterlassen, was durchaus ganz wörtlich gemeint ist: Er hat der Konzilskirche das Siegel der Allerlösungslehre aufgedrückt. Diese teuflische Verkehrung der Erlösungswirklichkeit mit Hilfe einer scheinbar nur kleinen theologischen Nuance mußte natürlich auch die ganze neurömische Organisation, die sich fälschlicher Weise noch Kirche nennt, grundlegend verändern. Wojtyla hatte zudem so ganz nebenbei und, wie wir sahen, von den meisten Konzilschristen unbemerkt, das Lehramt der Kirche in ein charismatisches Prophetenamt umfunktioniert, das nunmehr auch „neue“ Wahrheiten – neben, außer, gegen – den überlieferten Glauben verkünden können soll. Solcher Art aus dem Irrtum geschaffenes „Wort Gottes“ ist freilich offen gegenüber jeglichem Irrtum aller Jahrhunderte, sodaß die verbindliche Lehre der Kirche plötzlich nur noch zeitbedingte Meinung sein will, die jederzeit ergänzungs-, erweiterungsfähig ist, ja aus den Zeitumständen heraus ergänzungsbedürftig erscheint. Der Testfall Assisi zeigte sodann auch der ganzen Welt, daß die Transformation der Kirche erfolgreich verlaufen war. Und beim Tod Karol Wojtylas war der Bewußtseinsveränderungsprozeß soweit vorangeschritten, daß eine Rückkehr nunmehr unmöglich schien. Dennoch stellte sich für die Revolutionäre die Frage: Wer sollte das Erbe Wojtylas antreten? Wer konnte das Erbe antreten und kongenial weiterführen – weiterführen und die entscheidende Nahtstelle bilden zum Danach?
Die Antwort auf diese Frage war Joseph Ratzinger. Dieser sollte und dieser konnte auch das Erbe im Sinne der Revolution weitertragen und weitertransformieren. Er konnte besonders dafür sorgen, daß es zu keiner reaktionären Gegenbewegung kommen würde. Ratzinger hatte nämlich genau das richtige Profil, um allen den Eindruck zu geben, es ist schon recht so, wie es der Römer macht. Joseph Ratzinger, der deutsche Professor, der große Theologe, der bewährte Glaubenshüter und jetzt der Papst der neurömischen Kirche – und in allem der Ästhet! Man kann wohl ohne Übertreibung sagen: Niemand konnte die alles zerfressende Unverbindlichkeit der ökumenisch-synkretistischen Konzilskirche nach Wojtyla verbindlicher darstellen als Josef Ratzinger. Alle Hoffnungen von den Progressisten bis hin zu den sog. Traditionalisten waren auf den deutschen Papst gerichtet, der seine Ästhetik meisterhaft als Verbindlichkeit zu verkaufen wußte. Es gab auch wirklich in der ganzen Welt wenige Männer, die wie Josef Ratzinger repräsentieren konnten. Wer konnte druckreif sprechen wie er? Wer konnte den Eindruck erwecken, über der Sache zu stehen wie er? Wer konnte Milde zeigen und zugleich streng sein wie er? Wäre Joseph Ratzinger länger im Amt geblieben, dann müßte man sich viel ausgiebiger mit ihm beschäftigen. Durch seinen überraschenden, oder auch nicht überraschenden Rücktritt, ist seine Zeit auf dem Stuhl Petri nicht mehr als ein Intermezzo, wenn auch als solches immer noch ein bedeutendes.
Schaut man heute auf das Jahr 2005 zurück, so fällt auf, daß nur ganz wenige wirklich begriffen, welch schwere Aufgabe Joseph Ratzinger nach 27 Jahren der Regierung Karol Wojtylas übernahm und wie er sie meisterte. Womöglich hat man auch deswegen einen Mann aus dem engsten Vertrautenkreis Wojtylas gewählt, um sein Werk bruchfrei weiterführen zu können. In der Tat kannte wohl kaum jemand Wojtyla so gut und genau wie Ratzinger, der langjährige Präfekt der Glaubenskongregation. Seite an Seite waren sie die ganze Zeit gestanden und ganz anders, als es sich manche Traditionalisten zusammenreimten, haben sie sich auch immer bestens verstanden, d.h. sie waren letztlich in einem ständigen geistigen Einvernehmen.
In einem Beitrag von Albert Link und Nikolaus Harbusch auf Bild.de war unlängst zu lesen: „Benedikt spricht voller Wärme und Zuneigung von Karol Wojtyla, der ihn einst nach Rom geholt, an dessen Sterbebett er gesessen hatte. 'Ich konnte und ich durfte nicht versuchen, ihn zu imitieren', sagt Benedikt. Dennoch sei Johannes Paul II. ihm Vorbild gewesen – etwa darin, dass er nie den Applaus gesucht hat, sondern 'Schläge' für seine Überzeugungen und seinen Glauben hingenommen habe: 'Der Mut zur Wahrheit ist in meinen Augen ein erstrangiges Kriterium für Heiligkeit'. Die Gegenwart des in Rekordzeit zum Heiligen avancierten Pontifex aus Polen spüre er noch immer: 'Ich bin sicher, das mich seine Güte noch heute begleitet, und dass sein Segen mich beschützt.'“ Nein, Ratzinger konnte und durfte nicht versuchen, ihn zu imitieren, aber er durfte sein Erbe in die neue Zeit hineintragen – das war nämlich unbedingt notwendig, um es endgültig zu sichern.
2. Vom Modernismus zum Postmodernismus
Joseph Ratzinger wußte, was viele, ja womöglich die meisten noch in keiner Weise wahrgenommen hatten: Die Zeit des Modernismus geht zuende. Die letzten Modernisten sind inzwischen am Aussterben. Viele Modernisten, aber genauso Traditionalisten haben diese Tatsache bis heute vollkommen übersehen, Ratzinger nicht. Weil die meisten den geistesgeschichtlichen Wandel nicht wahrgenommen haben, dachten sie immer noch in den Kategorien des Modernismus, wohingegen Joseph Ratzinger schon postmodern dachte, was zwangsläufig zu Fehlinterpretationen und Mißverständnissen führen mußte. Benedikt XVI. machte den Schritt zum Postmodernismus vollkommen überlegt und planmäßig. Gleich zu Beginn seines Pontifikates hat er programmatisch den zu gehenden Weg erklärt und sodann alles getan, die Konzilskirche auf diesen neuen Weg bringen. Seine Ansprache an die Kardinäle beim Weihnachtsempfang 2005 ist sein Manifest der postmodernen Kirche.
Wenn man die Ansprache Benedikts XVI. an die Kardinäle beim Weihnachtsempfang 2005 liest, hat man zunächst den Eindruck, es gehe nur um eine Bestandsaufnahme 40 Jahre nach dem Konzil: „Welches Ergebnis hatte das Konzil? Ist es richtig rezipiert worden? Was war an der Rezeption des Konzils gut, was unzulänglich oder falsch? Was muß noch getan werden? Niemand kann leugnen, daß in weiten Teilen der Kirche die Konzilsrezeption eher schwierig gewesen ist…“ Aber nach einem eher als Ablenkung zu deutenden historischen Seitenblick auf die Zeit nach dem Konzil von Nizäa wird plötzlich das Thema geweitet und in eine ganz neue Richtung geführt: „Die Frage taucht auf, warum die Rezeption des Konzils in einem großen Teil der Kirche so schwierig gewesen ist. Nun ja, alles hängt ab von einer korrekten Auslegung des Konzils oder – wie wir heute sagen würden – von einer korrekten Hermeneutik, von seiner korrekten Deutung und Umsetzung. Die Probleme der Rezeption entsprangen der Tatsache, daß zwei gegensätzliche Hermeneutiken miteinander konfrontiert wurden und im Streit lagen.“ Benedikt XVI. stellt also zwei Sichtweisen, oder besser gesagt Interpretationsweisen des Konzils entgegen: „Auf der einen Seite gibt es eine Auslegung, die ich »Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches« nennen möchte; sie hat sich nicht selten das Wohlwollen der Massenmedien und auch eines Teiles der modernen Theologie zunutze machen können. Auf der anderen Seite gibt es die »Hermeneutik der Reform«, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität…“
Da gibt es also nach ihm das unantastbare Konzil und dann noch die zwei unterschiedlichen Weisen der Interpretation: »Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches« und »Hermeneutik der Reform«. Spontan würde man nun die erste Hermeneutik der konservativen Seite zusprechen, die zweite der progressiven Seite. Dieses Mißverständnis ist auch wirklich bei nicht wenigen Konservativen oder auch Traditionalisten aufgetreten, sie haben offensichtlich den Text nicht aufmerksam genug gelesen – oder anders ausgedrückt: sie haben immer noch vom Modernismus her gedacht. Aber wenn man Benedikt XVI. aufmerksam folgt, so ist es ganz eindeutig, diejenigen, welche gemäß seiner Sicht der Dinge eine „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ des Konzils geben, das sind die „alten“ Modernisten. Für sie war das Konzil doch eindeutig ein Bruch, ein neuer Anfang, ein neues Pfingsten, eine richtiggehende Revolution. Die Dynamik des Konzils war eindeutig darauf ausgerichtet, all die vielen alten und nutzlos gewordenen Dinge, die man bisher immer noch mit sich herumgeschleppt hatte, endgültig über Bord zu werfen. Der Konzilsgeist ist doch wesentlich ein Geist der Erneuerung, ja Veränderung, ein charismatischer Geist, der die verstaubten Überreste aus dem Mittelalter endgültig beseitigt haben möchte – und doch eigentlich auch hat! Der Konzilsgeist hat sich doch durchaus seine neue Konzilskirche geschaffen, eine neue Kirche auf die wir stolz sind, oder etwa nicht?
Benedikt belehrt die Modernisten vom alten Schlag, daß diese Sicht der Dinge ein Mißverständnis war, womit man „bereits im Ansatz die Natur eines Konzils als solchem“ verfehlt. Die Konzilsväter hätten durchaus nicht den Auftrag besessen, etwas derartiges zu tun, „weil die eigentliche Kirchenverfassung vom Herrn kommt, und sie uns gegeben wurde, damit wir das ewige Leben erlangen und aus dieser Perspektive heraus auch das Leben in der Zeit und die Zeit selbst erleuchten können“. Die Frage, wie denn dieses große und äußerst verhängnisvolle Mißverständnis überhaupt möglich geworden ist und immerhin auch die römischen Stellen in ihren Handlungen über Jahrzehnte bestimmen konnte, beantwortet Benedikt XVI. nicht. Er legt jedoch seinerseits in die Treue zum Erbe Christi eine Nuance hinein, die einem dann wiederum überrascht, da er in seinen Gedanken abschließend plötzlich behauptet, daß „in einem Konzil Dynamik und Treue eins werden müssen“ – erinnern wir uns, Ratzinger muß das Erbe Wojtylas verwalten, das immerhin eine ganz und gar erstaunliche Dynamik zeigte.
Doch verweilen wir hier noch ein wenig und blicken wir nochmals auf das so leichthin Gesagte zurück, um es geistesgeschichtlich besser einordnen zu können, denn gerade das ist notwendig. Zu Beginn unserer Erwägungen dazu müssen wir eine entscheidende Feststellung machen: Die eigentlich nur suggerierte Konstanz der Kirche vor und nach dem Konzil ist ein bloßes Postulat aus einer im Grunde inzwischen veralteten Lehre. Daß nämlich die Verfassung der Kirche göttlichen Ursprungs ist und deswegen unveränderlich sein soll, das glaubt heute wohl kaum noch jemand – wohl selbst Benedikt XVI. glaubt es nicht wirklich, wenn er seine eigene Ekklesiologie ernst nimmt, was man doch annehmen muß. Das Zweite ist, daß die ursprünglich progressiven Modernisten, die damals einhellig mit den Konservativen vom Bruch nach dem Konzil sprachen, nun plötzlich als rückständig gelten und dastehen. Ihre Sicht des Konzils gilt nämlich plötzlich als überholt und veraltet. Diese Situationsänderung läßt sich vergleichen mit dem Zustand in der ehemaligen Sowjetunion nach ihrem Zerfall. Die vormaligen Kommunisten, die noch ein gewisses nationales Element über die Perestroika hinweggerettet hatten, galten plötzlich als rechts! Wer also fortan in der Konzilskirche von einem Bruch nach dem Konzil spricht, oder zu sprechen wagt, der muß damit rechnen, als rückständig, ja womöglich konservativ zu gelten.
Mit dieser Neuinterpretation der Situation nach dem Konzil wird zugleich die theologische Grundsituation in der Konzilskirche völlig verändert, sie macht den Schritt vom Modernismus zum Postmodernismus. Während Karol Wojtyla diesen Schritt nur angedacht hat, vollzieht ihn Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. mit der Gründlichkeit eines deutschen Professors. Auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens fordert er im Laufe der Zeit seine Hermeneutik der Kontinuität ein, die für ihn immer eine Hermeneutik der Reform bleibt und niemals zur Hermeneutik der Restauration degenerieren darf.
Die Folgen des Schrittes von der modernen zur postmodernen Kirche demonstrierte Benedikt XVI. ebenfalls schon in seiner Ansprache. Man mußte eigentlich nur richtig hinhören, so entdeckte man einen wohldurchdachten Plan. Er erwähnte zunächst: „Der Hermeneutik der Diskontinuität steht die Hermeneutik der Reform gegenüber, von der zuerst Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache zum Konzil am 11. Oktober 1962 gesprochen hat und dann Papst Paul VI. in der Abschlußansprache am 7. Dezember 1965.“ Benedikt XVI. beruft sich auf die beiden Konzilspäpste Johannes XXIII und Paul VI., die ebenfalls von der Glaubensbewahrung sprachen und Revolution machten und er zitiert ersteren wie folgt: „…Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muß, zu vertiefen und sie so zu formulieren, daß sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht…“ Benedikt erklärt dazu weiter: „Es ist klar, daß der Versuch, eine bestimmte Wahrheit neu zu formulieren, es erfordert, neu über sie nachzudenken und in eine neue, lebendige Beziehung zu ihr zu treten; es ist ebenso klar, daß das neue Wort nur dann zur Reife gelangen kann, wenn es aus einem bewußten Verständnis der darin zum Ausdruck gebrachten Wahrheit entsteht, und daß die Reflexion über den Glauben andererseits auch erfordert, daß man diesen Glauben lebt. In diesem Sinne war das Programm, das Papst Johannes XXIII. vorgegeben hat, äußerst anspruchsvoll, wie auch die Verbindung von Treue und Dynamik anspruchsvoll ist.“
In diesem Abschnitt seiner Ansprache kommt gleich viermal das Wort „neu“ vor. Warum ist es denn eigentlich gar so dringend notwendig, den Glauben gar so neu zu überdenken, wenn doch sowieso letztlich alles beim Alten bleiben soll? Diese Frage kommt einem Katholiken sicherlich ganz spontan in den Sinn, wenn er diese Zeilen liest. Nun, weil, wie wir schon gehört haben, der „Hermeneutik der Diskontinuität“ die „Hermeneutik der Reform“ gegenübersteht – und nicht die „Hermeneutik der Kontinuität“, wie manch Konservative Ratzinger mißverstanden haben. Wobei jedoch, wie uns Benedikt XVI. zudem versichert, diese „Hermeneutik der Reform… äußerst anspruchsvoll (ist), wie auch die Verbindung von Treue und Dynamik anspruchsvoll ist“.
Da kann man Benedikt XVI. nur recht geben, die Verbindung von Quadrat und Kreis ist wirklich äußerst anspruchsvoll, weil ganz und gar unmöglich, weshalb man ja auch von der Quadratur des Kreises spricht. Der Dialektiker Joseph Ratzinger versteckt jedoch diese Unmöglichkeit äußerst geschickt hinter seiner „Hermeneutik der Reform“, durch welche angeblich die Kontinuität nicht aufgehoben, sondern bewahrt werden soll. Darum nochmals, nun etwas ausführlicher, sein Postulat: „Aber überall dort, wo die Rezeption des Konzils sich an dieser Auslegung orientiert hat, ist neues Leben gewachsen und sind neue Früchte herangereift. 40 Jahre nach dem Konzil können wir die Tatsache betonen, daß seine positiven Folgen größer und lebenskräftiger sind, als es in der Unruhe der Jahre um 1968 den Anschein haben konnte. Heute sehen wir, daß der gute Same, auch wenn er sich langsam entwickelt, dennoch wächst, und so wächst auch unsere tiefe Dankbarkeit für das Werk, das das Konzil vollbracht hat.“ Wir zurückgebliebenen Katholiken, die immer noch von einem Bruch nach dem Konzil sprechen – oder träumen wir nur noch davon? – dürfen nun zur eigenen Überraschung „unsere tiefe Dankbarkeit für das Werk, das das Konzil vollbracht hat“ zum Ausdruck bringen.
Damit dieses Postulat nicht allzu plump wirkt und allzu leicht durchschaut werden kann, greift Benedikt XVI nochmals auf die „Hermeneutik der Diskontinuität“ zurück, um eventuellen Verständnisschwierigkeiten entgegenzuwirken. Er geht auf die große Kontroverse um den Menschen ein und stellt apodiktisch fest: „Das Konzil mußte das Verhältnis von Kirche und Moderne neu bestimmen.“ Schon wieder ein „neu“ im Wortschatz des postmodernen Benedikt und ein „mußte“. Auf die einzelnen Beispiele für das Zerwürfnis der „heutigen Welt“ mit der Kirche möchten wir hier nicht weiter eingehen, weil das viel zu weit führen würde und für unser Thema auch nicht notwendig. Die Beispiele wollen den Graben beschreiben, der zwischen der Kirche der modernen Welt entstanden ist. Josef Ratzinger kommt zu dem vermeintlich endgültigen Schluß: „Es gab somit scheinbar keinen Bereich mehr, der offen gewesen wäre für eine positive und fruchtbare Verständigung, und diese wurde von denjenigen, die sich als Vertreter der Moderne fühlten, auch drastisch abgelehnt.“
War damit also alles gesagt und alles aus? Nein, durchaus nicht, denn der Dialektiker Ratzinger stellt zugleich fest: „In der Zwischenzeit hatte jedoch auch die Moderne Entwicklungen durchgemacht.“ Benedikt XVI. bringt nun auch hierzu einige historische Beispiele, durch die er seine Ansicht stützen möchte. Auch auf diese soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Wir möchten nur auf eines hinweisen: Die Darstellungsweise Benedikts zeigt ganz deutlich, daß er selbst ganz modern denkt. Nur deshalb kann er auch eine positive Entwicklung der Moderne sehen und diese Entwicklung in dieser Weise interpretieren. Er schließt seine Darstellung dann folgendermaßen ab: „All diese Themen sind von großer Tragweite – es waren die großen Themen der zweiten Konzilshälfte –, und es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, sich eingehender mit ihnen zu befassen. Es ist klar, daß in all diesen Bereichen, die in ihrer Gesamtheit ein und dasselbe Problem darstellen, eine Art Diskontinuität entstehen konnte und daß in gewissem Sinne tatsächlich eine Diskontinuität aufgetreten war. Trotzdem stellte sich jedoch heraus, daß, nachdem man zwischen verschiedenen konkreten historischen Situationen und ihren Ansprüchen unterschieden hatte, in den Grundsätzen die Kontinuität nicht aufgegeben worden war – eine Tatsache, die auf den ersten Blick leicht übersehen wird.“
Bis zu einem gewissen Punkt ist Benedikt XVI. immer noch ehrlich. Er kann schließlich die Tatsache der „Diskontinuität“ nicht einfach übergehen, sie völlig hinweginterpretieren. Dennoch möchte er den Konflikt nicht als unüberwindlich stehen lassen, sondern ihn relativieren, indem er auf die konkreten historischen Situationen eingeht und dann erstaunlicher Weise bei all den so weit reichenden Diskontinuitäten plötzlich und ganz und gar überraschend wieder postuliert, „in den Grundsätzen (wäre) die Kontinuität nicht aufgegeben worden“. Das müssen schon sehr flexible Grundsätze sein, die solcher Differenzen überbrücken und überstehen können – „eine Tatsache, die“ nicht nur „auf den ersten Blick leicht übersehen wird“, sondern auch so sehr überrascht, daß man sie gar nicht glauben kann – und auch über lange Zeit nicht einfach nur übersehen, sondern sogar ganz anders gesehen hat.
An dieser Stelle müssen wir nochmals eine Zäsur machen und auf etwas ganz Wichtiges hinweisen, das den Modernismus vom Postmodernismus unterscheidet. Noch vor 25 Jahren hätte die Behauptung Benedikts, „in den Grundsätzen (wäre) die Kontinuität nicht aufgegeben worden“, ein Hohnlachen ausgelöst. Wenn er heute aus dieser Diskontinuität einfach wieder eine Einheit in den Grundsätzen als Tatsache behaupten kann, dann deswegen, weil im Postmodernismus die Antithese zum Modernismus wegfällt. Die Antithese zum Modernismus ist „das Alte“, ist die überwundene Vergangenheit, ist das Ewiggestrige. Ein Modernist würde, um ein Beispiel zu nennen, niemals die tridentinische Messe zelebrieren, niemals! Er würde das niemals tun, weil diese Art der Liturgie für ihn Vergangenheit ist, überwundene, abgelehnte, schon lange verstaubte Vergangenheit. Für einen Postmodernisten ist das nicht mehr so. Für ihn existiert diese Antithese des Alten nicht mehr. Der Postmodernist ist anders als der Modernist offen für alles, weil er gegen nichts mehr ist, da er keinerlei Unterscheidungskriterien zwischen richtig und falsch, Wahrheit und Irrtum mehr besitzt. Wenn man nun von Seiten der Tradition dieses „nicht-mehr-gegen-die-Alte-Messe-sein“ so interpretiert, als wäre der Postmodernist für die alte Messe, dann ist das ein verheerendes Fehlurteil, das aus der Unwissenheit kommt und die schlimmsten Folgen nach sich zieht. Weil der Postmodernist gegen nichts mehr ist, ist er genauso gut auch für alles. Er ist nicht nur für die alte Messe, er ist auch für die Charismatiker, den Zen Buddhismus, usw. Diesem Postmodernisten kann man natürlich sehr leicht einreden, zwischen der vor- und der nachkonziliaren Kirche gäbe es keinen wesentlichen Unterschied, weil es für ihn gar keine wesentlichen Unterschiede mehr gibt! Die Diskontinuität zwischen dem katholischen Glauben und der Moderne ist für ihn nur oberflächig, im Grunde, wenn man nur weit und tolerant genug ist, kommt man doch ganz gut in allem überein: „So können die grundsätzlichen Entscheidungen ihre Gültigkeit behalten, während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann.“
Ratzinger demonstriert diese Einsicht besonders am Beispiel der Religionsfreiheit. Man müsse nur genügend die geschichtlichen Umstände berücksichtigen, dann würde man sehen, daß die Religionsfreiheit immer schon Lehre der Kirche war. „Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen und gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen.“ So einfach ist also die Quadratur des Kreises. Und dann nochmals etwas allgemeiner: „Das Zweite Vatikanische Konzil hat durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällte Entscheidungen neu überdacht oder auch korrigiert, aber trotz dieser scheinbaren Diskontinuität hat sie ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft. Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die sich auf dem Weg durch die Zeiten befindet; sie »schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin« und verkündet den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. Lumen gentium, 8).“ Wie gesagt, dies kann Joseph Ratzinger, ohne mit Hohnrufen und Gelächter bedacht zu werden, zu den Postmodernisten sagen. Die Modernisten alter Prägung, die freilich am Aussterben sind, werden sich darüber sehr verwundert und gedacht haben: Da hätten wir uns die letzten 40 Jahre ganz schön getäuscht mit unserer neuen Kirche und den neuen Sakramenten und den neuen Liturgien. – Oder haben sie sich nur geärgert?
Joseph Ratzinger ist ein Intellektueller, ein gelehrter Professor. Er kann es darum nicht lassen, in seiner Ansprache noch einmal anzusetzen, um auf sein Steckenpferd zu sprechen zu kommen, Glaube und Vernunft. Er sagt: „Der Schritt, den das Konzil getan hat, um auf die Moderne zuzugehen, und der sehr unzulänglich als »Öffnung gegenüber der Welt« bezeichnet wurde, gehört letztendlich zum nie endenden Problem des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, das immer wieder neue Formen annimmt.“
Eines erstaunt doch ein wenig, wie kann der gelehrte Professor in seiner Ausführung gerade das nicht in den Blick bekommen, was das Eigentliche dieses Problems seit der Neuzeit ausmacht? Das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft hat sich doch gerade durch die moderne Philosophie entscheidend, ja wesentlich verändert. Es hat sich so sehr verändert, daß beide Bereiche vollkommen auseinandergefallen sind. Man müßte doch meinen, daß Joseph Ratzinger gerade dieses Problem bekannt ist und daß er deswegen bei diesem Thema ganz besonders vorsichtig wird, weil es darin um alles geht. Aber leider ist das in keiner Weise der Fall, womit er sich in seinem Denken voll und ganz als Modernist zeigt (auch Postmodernisten sind von ihrem Denksystem her immer noch Modernisten, aber Modernisten, die auch noch ihren letzten Zahn verloren haben, wie wir gesehen haben). Der Modernist hat diesen Konflikt zwischen Glaube und Vernunft dadurch gelöst, daß er den Glauben der Vernunft untergeordnet hat, indem er ihn, den Glauben nämlich, der modernen Wissenschaft nachordnet. Dieser Glaube darf und will und kann nichts mehr sagen, was den vermeintlichen Ergebnissen dieser Wissenschaft entgegensteht. Nur auf dieser Grundlage kann man erklären, daß Joseph Ratzinger zu behaupten wagt: „Die Situation, der das Konzil gegenüberstand, kann man ohne Weiteres mit Vorkommnissen früherer Epochen vergleichen“ – und hierauf als Beispiel bringt, daß zur Zeit der Apostel „der biblische Glaube mit der griechischen Kultur ins Gespräch treten“ und im 13. Jahrhundert die Philosophie des Aristoteles rezipiert wurde.
Beide Behauptungen wären wiederum eine eigene und dazu noch recht umfangreiche Arbeit wert. Wir können hier in Kürze nur soviel sagen: Benedikt XVI. versucht uns hier ein X für ein U vorzumachen, denn er vergleicht zwei Sachverhalte, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben, weshalb natürlich auch seine Schlußfolgerung falsch sein muß. Benedikt XVI. meint jedenfalls abschließend sagen zu können: „Das mühsame Streitgespräch zwischen moderner Vernunft und christlichem Glauben, das mit dem Prozeß gegen Galilei zuerst unter negativem Vorzeichen begonnen hatte, kannte natürlich viele Phasen, aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam die Stunde, in der ein Überdenken auf breiter Basis erforderlich geworden war. Sein Inhalt ist in den Konzilstexten natürlich nur in groben Zügen dargelegt, aber die Richtung ist damit im Wesentlichen festgelegt, so daß der Dialog zwischen Vernunft und Glauben, der heute besonders wichtig ist, aufgrund des Zweiten Vaticanums seine Orientierung gefunden hat. Jetzt muß dieser Dialog weitergeführt werden, und zwar mit großer Offenheit des Geistes, aber auch mit der klaren Unterscheidung der Geister, was die Welt aus gutem Grund gerade in diesem Augenblick von uns erwartet.“
Es war also ein mühsames Streitgespräch zwischen moderner Vernunft und christlichem Glauben, das durch das Konzil seine Orientierung gefunden hat. Und damit wir Katholiken uns ja schön demütig den neuen Erkenntnissen beugen, wird wieder einmal der Galilei-Komplex bedient, dieser inzwischen eingefahrene Minderwertigkeitskomplex fast aller Katholiken, und es wird uns sodann auch noch glauben gemacht, daß dies alles nur gut für uns sei. Aber das ist durchaus nicht der Fall. Man könnte das Ganze nämlich auch anders formulieren: Auf dem sog. II. Vatikanischen Konzil hat die Neue Kirche vor der vermeintlichen Vernunft der Moderne kapituliert und sich deren Irrtümer systematisch zu eigen gemacht. Daß die postmoderne Kirche dieser postmodernen Zeit irgendetwas entgegenhalten könnte, das ist nun wirklich nur noch reines Wunschdenken Joseph Ratzingers. Im Gegenteil, man wird weiter hinter der Welt herlaufen müssen, um nicht zu sagen, hinterherhecheln müssen – auch das ist schließlich ein wesentlicher Aspekt der nachkonziliaren Ära. Eines ist uns Antimodernisten jedenfalls sicher: damit ist dann der Glauben vollkommen zerstört, denn vom übernatürlichen, vom katholischen Glauben bleibt schließlich nicht einmal mehr die Asche übrig.
3. Der Papst als Privattheologe
Benedikt XVI. wurde von den Medien als der größte modernistische Theologe des 20. Jahrhunderts und womöglich auch noch des 21. Jahrhunderts gefeiert. Der Theologe Joseph Ratzinger ist auch wirklich eine Sonderform eines modernistischen Theologen, was sich irgendwie auch in seiner Rolle als „Papst“ zeigen mußte. Anders als viele Modernisten hatte Joseph Ratzinger noch Stil und zudem strahlte er, wie schon gesagt, eine gewisse Art von Verbindlichkeit aus. Auch als Benedikt XVI. blieb Ratzinger ein Theologieprofessor, also ein Privatgelehrter. Darum veröffentlichte er als „Papst“ sein Buch über „Jesus von Nazareth“. Auch diese Nuance des neuen, modernistischen „Papsttums“ wurde von den meisten Traditionalisten geflissentlich übersehen. Der Wuppertaler Bibelwissenschaftler Thomas Söding, Mitglied der Internationalen Theologenkommission des Vatikan, hingegen hielt dies schlechthin für „revolutionär“. Söding sagte damals über das neue Buch: „Das gab es noch nie in der Geschichte, daß ein Papst ein wissenschaftliches Jesusbuch schreibt. Hier zeigt sich ein ganz neuer Stil des Papsttums: Der Stellvertreter Christi auf Erden formuliert kein Dogma, sondern sagt ‚Das ist meine Beobachtung als Theologe, lest das kritisch und diskutiert darüber!’ Das halte ich für revolutionär.“
Man muß, was wir hoffentlich inzwischen ein wenig gelernt haben, auf die Sprache des Modernisten Prof. Söding achten: „Der Stellvertreter Christi auf Erden formuliert kein Dogma“, das will heißen: Der Papst hört auf zu lehren, verbindlich zu sprechen, vorzuschreiben – was er zwar die letzten Jahrzehnte sowieso schon nicht mehr getan hat, bzw. gemäß den modernistischen Professoren sowieso nicht mehr tun durfte und konnte. Aber Josef Ratzinger geht noch einen Schritt weiter als seine Vorgänger, und man wird Prof. Söding durchaus recht geben müssen, wenn er meint: „…daß ein Papst ein wissenschaftliches Jesusbuch schreibt… Das halte ich für revolutionär. Revolutionär ist genauer gesagt das: Benedikt XVI. verzichtet explizit, ausdrücklich, also für jeden sichtbar auf seine päpstliche Autorität und schreibt sein Jesus-Buch als bloßer Privattheologe, also als Joseph Ratzinger.“ Der Interviewer trifft dann auch mit seiner nächsten Frage den Nagel auf den Kopf: „Der Papst verläßt also sozusagen den Heiligen Stuhl...“
Wenn das kein seltsames Schauspiel für die ganze Welt ist: Der Papst verläßt den Heiligen Stuhl, den er vor noch gar nicht so langer Zeit bestiegen hat, wieder, um vor aller Welt seine private Meinung über Jesus von Nazareth kund zu tun. Prof. Söding meint dazu: „Er ist als Bischof Lehrer der Kirche. Und er spielt die Karte der Wissenschaft aus. Er stellt sich der Diskussion und macht sich bewußt angreifbar. Was er jetzt braucht, sind viele intelligente und kritische Leser, die nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehen, sondern das offene Gesprächsangebot ernst nehmen.“ Für Herrn Prof. Söding ist offensichtlich die Wissenschaft interessanter als die kirchliche Lehre und die Meinung wichtiger als die Wahrheit. Für ihn „stellt sich der Papst der Diskussion und macht sich bewußt angreifbar“. Er braucht deswegen „viele intelligente und kritische Leser, die nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehen, sondern das offene Gesprächsangebot ernst nehmen“. Wir sollten uns hierzu erinnern, für die Modernisten ist die Suche nach der Wahrheit wichtiger als die Wahrheit, weil man die Wahrheit sowieso niemals wirklich und genau wissen kann und wohl auch gar nicht will.
Aber gehen wir der Sache noch etwas gründlicher nach? Wenn der Papst den hl. Stuhl verläßt, was ist dann? Dann ist der Stuhl leer – so muß man doch wohl annehmen. Wenn wir uns hierzu all das in Erinnerung rufen, was wir über die Päpste des Konzils und Johannes Paul II. gehört haben, dann darf man sich doch durchaus die Frage stellen: Haben die Konzils-„Päpste“ den Stuhl Petri nicht schon lange verlassen, weil sie das Lehramt vollkommen umfunktioniert und der göttlichen Lehre entleert haben? Ist ein Lehramt, das nichts anderes als ein charismatisches Prophetenamt ist, nicht immer angreifbar, weil es keinerlei Grundlage in der göttlichen Offenbarung hat. Mit anderen Worten ausgedrückt: Ist ein solches Lehramt nicht bloße Fiktion und des eigentlichen Sinnes entleert?
Ein wahrer Papst soll sich doch als Papst gerade nicht „bewußt angreifbar“ machen und „das offene Gesprächsangebot ernst nehmen“, sondern er soll sich, wenn dies der Glaube der Kirche erfordert – und heutzutage erfordert er es im höchsten Maße – in die theologische Diskussion einschalten, er soll diese lenken und auch entscheiden, indem er die göttlich geoffenbarte Wahrheit darlegt und die entgegenstehenden Irrtümer verurteilt. Dafür hat ihn Gott schließlich das Petrusamt übertragen, das ist seine erste, seine Hauptaufgabe. Und es gäbe etwa in Bezug auf unseren Herrn Jesus Christus in der modernistischen Exegese durchaus eine ganze Reihe von gefährlichen Irrtümern, die schon lange korrigiert werden müßten. Es gibt in der modernistischen „Jesusforschung“, wie das im modernistischen Sprachgebrauch heißt, unzählige Ansichten, die den Glauben nicht nur gefährden, sondern ihn vollkommen zerstört haben, weil sie aus Jesus von Nazareth einen bloßen Menschen machen, sodaß also genügend Handlungsbedarf für das kirchliche Lehramt gegeben wäre – exegetisch gesehen ist es durchaus nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon mindestens fünf nach zwölf. Dennoch meinte Benedikt XVI., keine lehramtlichen Entscheidungen fällen, sondern nur ein Buch schreiben zu müssen, das einen Diskussionsbeitrag zur modernistischen Exegese liefert. Denn von der modernistischen Exegese und ihren philosophischen Grundlagen distanziert sich der Theologe Joseph Ratzinger in seinem Buch natürlich in keiner Weise. Er macht es nur, wie schon so oft: „Den Auswüchsen, von denen er sich (oft durch glücklicherweise beißende Entgegnungen) distanziert hält, setzt er nie die katholische Wahrheit entgegen, sondern einen offensichtliche gemäßigteren Irrtum, der aber in der Logik des Irrtums zu den gleichen zerstörerischen Schlußfolgerungen führt.“ So das Urteil von Mgr. Spadafora in dem Buch „Die ‚Neue Theologie’“ von 1995.
In dem Interview wird Prof. Söding noch gefragt: „Wird sich der Papst auch an den Diskussionen beteiligen?“ Darauf Söding: „Er wird sich zurückhalten. Er kann ja bei seinen vielen Amtspflichten nicht auf Kongresse gehen, um sein Buch zu verteidigen. Er hat aber einen wichtigen Anstoß gegeben und fordert die Theologie heraus.“
Genau so ist es. Der Papst im modernistischen Sinne ist nur noch der Moderator einer verselbständigten Theologenmeinung. Darum kann und darf er nicht mehr als einen Anstoß zur weiteren theologischen Diskussion geben, die selbstredend ins Unendliche fortgeführt werden kann, ja muß. Denn bleibende Einsichten, geschweige denn Wahrheiten, gibt es in diesem System schon lange nicht mehr. Darum wäre auch ein 30-seitiges Dokument, in dem die Irrtümer der modernen Exegese aufgearbeitet und verurteilt würden, für die Kirche 1000mal wertvoller gewesen als das 400-seitige Ratzinger-Buch über Jesus von Nazareth – selbst wenn dieses ganz katholisch wäre! Aber Benedikt XVI. zieht es inmitten des größten geistesgeschichtlichen Kampfes, den die Kirche je zu bestehen hatte, vor, den Stuhl Petri zu verlassen und ein privates Jesusbuch zu schreiben, womit er die modernistische Diskussion anregen möchte, anstatt in den Kampf einzutreten und für die Verteidigung der göttlichen Wahrheit all seine Kräfte einzusetzen.
In dem Interview wird noch die abschließende Frage gestellt: „Was kann das Buch aus ihrer Sicht bewirken?“ Worauf Prof. Söding antwortet: „Es ist ein gutes Buch und wird die Diskussion anregen. Denn es macht die weitere exegetische Debatte keineswegs überflüssig. Viele Fragen bleiben offen. Der Papst will ja auch gerade nicht sagen 'Hier ist der Weisheit letzter Schluß und ab jetzt wird keine Jesusforschung mehr getrieben.' Im Gegenteil! Die Leser sollen ja diskutieren, wieso dieser Jesus einerseits so fasziniert und andererseits so irritiert.“
So ist die Sicht in der modernistischen Konzilskirche: Dieses Buch ist „ein gutes Buch und wird die Diskussion anregen“. Und das ist gut so, denn: „Die Leser sollen ja diskutieren, wieso dieser Jesus einerseits so fasziniert und andererseits so irritiert“. Die Konzilskirche ist nun mal die Kirche der endlosen Diskussionen. Immer wieder darf man darüber reden und nachdenken, warum „dieser Jesus einerseits so fasziniert und andererseits so irritiert“. Er ist eben doch ein besonderer Mensch dieser Jesus von Nazareth, von dem jeder glauben kann, was er will. Wenn nur die Sache Jesu weitergeht, dann ist alles in Ordnung. Zu so einer „Theologie“ paßt natürlich kein unfehlbares Lehramt mehr, sondern nur noch ein Leeramt, das sich bei all diesem leeren Geschwätz eifrig beteiligt und zu immer neuen und weiteren Diskussionen anregt. Genau das hat der größte Theologe des 20. Jahrhunderts Joseph Ratzinger mit seinem Jesusbuch getan, als er schon Benedikt XVI. war und gerade den Stuhl Petri verlassen hatte (bevor er ihn dann ganz offiziell verließ und sich ganz ins Private zurückzog).
4. Benedikt XVI. und die alte Messe
Wäre Benedikt XVI. länger im Amt geblieben, dann hätten wir uns noch viel ausgiebiger mit ihm beschäftigen müssen. Durch seinen Rücktritt ersparte er uns wenigstens großteils diese mühevolle Arbeit. Noch während seiner Amtszeit etwa begannen wir eine Studie über seine erste Enzyklika „Deus Caritas est“, die aber mit der Zeit einen solchen Umfang annahm, daß wir sie bis zum Rücktritt nie fertigstellten. Es war ganz eigenartig zu beobachten, wie sowohl Modernisten als auch Traditionalisten Ratzinger systematisch mißverstanden. Sein konservativer Ruf wollte nun auch wirklich in keiner Weise zu seiner Theologie, aber auch nicht zu seiner Fähigkeit passen, geistesgeschichtlich ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Er zeigte auch im Alter eine erstaunliche geistige Regsamkeit und Übersicht. Während Benedikt XVI. schon lange vorwärtsschaute, blickten selbst die progressivsten Modernisten immer noch zurück.
Bei den Traditionalisten zeigte sich ihr Fehlurteil über den größten Theologen des 20. Jahrhunderts besonders, als Benedikt XVI. mit vollkommener Souveränität die „alte“ Messe wieder zuließ. Es offenbarte schon eine vollkommene Verblendung, wenn man die Kommentare, Reaktionen, Freudenkundgebungen mancher Traditionalisten las oder sah. Damit offenbarten die meisten Traditionalisten, daß sie nicht mehr fähig waren, über die eigene Nasenspitze hinauszuschauen – und wirklich in ein geistiges Ghetto abgeglitten waren, aus dem sie nun die Modernisten befreien sollten. Unsinniger kann man sich das Ganze kaum mehr ausmalen.
Als Benedikt XVI. die „alte“ Messe in der Form von 1962 als außerordentlichen Ritus auf der Grundlage der Theologie der Neuen Messe offiziell für die Menschenmachwerkskirche des Konzils wieder zuließ, tat er genau das, was er in seiner Ansprache an die Kardinäle beim Weihnachtsempfang 2005 theoretisch dargelegt hat. Er interpretierte aufgrund der Hermeneutik der Kontinuität die Einheit der beiden Riten der Kirche auf der Grundlage der Theologie der „Neuen Messe“, um sie beide durch ihre fortan erhoffte gegenseitige Befruchtung vor einer ideologischen Erstarrung zu bewahren und in die Hermeneutik der Reform einzufügen. Ein besseres Schulungsbeispiel könnte man sich gar nicht ausdenken! Seltsam war nur das eine, sowohl die Modernisten als auch die Traditionalisten haben nicht verstanden, um was es eigentlich gegangen ist – oder ist das vielleicht doch gar nicht so seltsam, weil für Ratzinger sowohl die Modernisten als auch die Traditionalisten schon zum Alten Eisen zählen? Jedenfalls geben ihm die Reaktionen der einen wie der anderen recht, sie gehörten offensichtlich zum Alten Eisen – wohingegen Josef Ratzinger souverän über ihnen stand.
5. In den Fußstapfen Karol Wojtylas
Einleitend haben wir das Bekenntnis Benedikts XVI. gehört: „Ich bin sicher, dass mich seine Güte noch heute begleitet, und dass sein Segen mich beschützt.“ Benedikt XVI. hatte damit seinen von ihm hochgeschätzten Vorgänger gemeint, dessen Selig- und Heiligsprechung er auch in Rekordtempo vorantrieb, alle Regeln der Klugheit beiseitelassend, ja verachtend muß man wohl schon sagen. Es war ein weiteres seltsames Phänomen der Amtszeit Joseph Ratzingers, viele meinten, er müsse und würde anders als Karol Wojtyla handeln. Ständig erwarteten deswegen manche von ihm Worte und Taten, die er niemals im Sinne hatte. Er wußte sich ganz seinem Vorgänger verpflichtet und wollte auch niemals etwas anderes, als dessen Erbe weiterführen. Nur oberflächliche Zeitgenossen konnten anderes erwarten, deren es aber offensichtlich recht viele gab.
Aber lassen wir ganz einfach die Taten sprechen:
- 2005: Beseitigung der Tiara aus dem Papstwappen
März 2006: Der Papst verzichtet nach 1.500 Jahren auf den Titel eines „Patriarchen des Abendlandes“, wohl als ökumenische Geste gegenüber der Orthodoxie.
21.10.2007: Interreligiöse Versammlung in Neapel
28.04.2008: Besuch der Synagoge von New York
15.07.2009: Besuch der Moschee des Felsendoms von Jerusalem;
12.05.2009: Jüdisches Rituell an der Klagemauer
November 2009: Benedikt XVI. ermöglicht mit einem Erlass kollektive Übertritte von Anglikanern zur katholischen Kirche unter weitgehender Beibehaltung ihrer Traditionen.
17.01.2010: Besuch der Synagoge von Rom
14.03.2010: Aktive Teilnahme am lutherischen Kult in Rom
01.05.2011: Seligsprechung Johannes Pauls II.
27.10.2011: Wiederholung des Religionstreffens von Assisi, wobei als Neuheit hinzukam, daß auch Persönlichkeiten aus der Welt der Wissenschaft und Kultur, die sich als Nicht-Gläubige oder Nicht-Religiöse bezeichnen, ebenfalls zur Teilnahme eingeladen worden sind.
Aus diesen wenigen Ereignissen kann jeder den Geist Karol Wojtylas herauslesen, den Joseph Ratzinger offensichtlich ganz treu weiter verfolgt. Als dieser zum Papst gewählt wurde und schließlich auf den Balkon hinaustrat, wirkte er recht unsicher und fast ein wenig verlegen. Aber in kürzester Zeit erlernte er die Kunst, im Rampenlicht der Weltpresse zu stehen und eignete sich das Gehaben und die Gestik seines Vorgängers an, auch er zog winkend und Beifall heischend durch die Menschenmengen – nicht mehr segnend, wie es die richtigen Päpste in früheren Zeiten taten.
6. Fortschritt durch Rücktritt
Am 28.02.2013 legte Benedikt XVI. um 20 Uhr sein Amt nieder. Seitdem lebt er als emeritierter „Papst“ in weißer Soutane weiterhin im Vatikan, sodaß die einfachen Leute meinen, wir – die Katholiken meinen sie damit – hätten jetzt zwei Päpste, einen „alten“ und einen „neuen“. Wir haben auf dieses seltsame Phänomen in der nachkonziliaren „Kirche“ in unserem Artikel „Fortschritt durch Rücktritt“ schon hingewiesen. Ebenfalls haben wir darin auf die weitreichenden Folgen aufmerksam gemacht, die dieser Rücktritt nach sich ziehen wird. Denn mit dem Rücktritt Benedikt XVI. hat das nachkonziliare Papsttum letztlich auch noch den letzten Schein verloren, etwas Übernatürliches, über der menschlichen Beliebigkeit Stehendes zu sein. Was seither in Rom geschehen ist, bestätigt nur das, was jeder nüchtern denkende Katholik klar voraussehen konnte.
Eines muß man Joseph Ratzinger jedoch neidlos zugestehen, selbst bei seinem Rücktritt bewies er Stil. Während seiner letzten, frei gehaltenen Ansprache zeigte der nochmals sein einzigartiges Talent, druckreif sprechen zu können und zudem seine unverbrüchliche Verbundenheit mit dem Konzil und dessen Geist. Ratzinger war der Ästhet und blieb der Ästhet – und deswegen hat er den Stuhl Petri verlassen, um sein Jesusbuch zu schreiben. Jeder hätte damals sehen können, daß aus dem Lehramt ein Leeramt geworden ist – denn der Stuhl war schließlich leer. Und ob er jemals auf diesen Stuhl zurückgekehrt ist, das darf doch und muß doch durchaus bezweifelt werden – freilich nur unter der Bedingung, daß er ihn jemals wirklich innehatte.
So lebt und wohnt Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. in seiner weißen Soutane Seite an Seite als „Papa emeritus“ mit seinem neurömischen Nachfolger, der gleich gar nicht mehr in die päpstliche Wohnung eingezogen ist, sondern es vorzieht, in der Gästewohnung zu bleiben. Ob das womöglich etwas zu sagen hat? Aber das ist ja schon wieder ein eigenes Thema, dem wir uns demnächst widmen wollen.