Der Kreidestrich

1. Die „Piusbruderschaft“, also sprach einst ihr Allerhöchstwürdigster Generaloberer, bewege sich auf einem „schmalen Grat“, gewissermaßen zwischen zwei Abgründen, stets vom Absturz bald in die eine, bald in die andere Richtung bedroht. So sind denn auch immer wieder unvorsichtige Priester und Gläubige, die das Gleichgewicht nicht halten konnten, mal hüben und mal drüben hinabgeglitten, sind zu „Sedisvakantisten“ geworden oder haben sich in unvorsichtiger Weise den Modernisten in die Hände begeben. Es soll mit diesem Bild zum Ausdruck gebracht werden zum einen die höchst anspruchsvolle, erhabene, geradezu schwindelerregende Position der „Piusbruderschaft“, zum anderen ihre einzig wahre, ausgewogene Positionierung als „Mitte“ zwischen den Extremen. „In medio stat virtus. - Die Tugend steht in der Mitte.“

2. Obwohl wir auf dieses Thema an anderer Stelle (Monster Church) bereits ausführlich eingegangen sind, erscheint eine Wiederholung durchaus notwendig. Denn erstens werden solche wichtigen Beiträge in unserer kurzlebigen Zeit ebenso schnell wieder vergessen wie sie aufgetaucht sind, und zweitens hören auch die Herren „Pius-Theologen“ ja nicht auf, ihren Unsinn unbelehrbar stetsfort zu wiederholen. Nach dem in Medienkreisen bekannten Prinzip, wonach nicht die Wahrheit, sondern die dauernde Wiederholung letztlich das Rennen um die Meinungsbildung macht, sind auch wir gezwungen, die Wahrheit nicht nur einmal zu sagen, sondern immer wieder.

Jeder einigermaßen vernünftige Mensch wird sich vielleicht fragen, warum jemand unbedingt einen schwierigen und gefährlichen Balance-Akt ausführen will, wenn er doch genauso gut auf sicherem, festem Boden bleiben könnte. Wir können es nachvollziehen bei Akrobaten, die mit dieser Sensation Zuschauer locken, oder bei Bergsteigern, die das Abenteuer, die Bewährung oder den Nervenkitzel suchen. Aber bei Theologen und Seelenhirten, die noch dazu verlangen, daß auch einfache Gläubige und Laien ihnen bei ihren halsbrecherischen Unternehmungen folgen, scheint es uns doch gelinde gesagt etwas gewagt, den zuverlässigen katholischen Boden um solcher Kunststücke willen zu verlassen.

3. Daher sahen sich denn auch in letzter Zeit wieder einige der „Pius-Theologen“ genötigt, ihre so anspruchsvolle „Position der Mitte“ kunstvoll zu verteidigen, die sie gerne als „Kreidestrich“ bezeichnen – ein analoges Bild wie der „Grat“ ihres Generaloberen, da das Entlanglaufen auf einem Kreidestrich ähnliche Geschicklichkeit verlangt, mit dem Vorteil freilich, bei einem Fehltritt nicht so gefahrvoll zu sein. Da ist zunächst Herr Abbé Guy Castelain FSSPX, der in „L'Hermine“ vom März 2014 sich anheischig macht, anhand von drei Dokumenten sehr präzise und genau diese „Kreidestrich“-Position der „Piusbruderschaft“ zu bestimmen.

Die drei Dokumente, die er hierzu bemüht, sind zum einen die berühmte Erklärung Erzbischof Lefebvres vom 21. November 1974, zum zweiten das „Treueversprechen“, das jeder „Pius“-Seminarist vor dem Empfang der heiligen Weihen zu unterzeichnen hat, zum dritten die „Anordnungen der Priesterbruderschaft St. Pius X.“, die 1980 von Erzbischof Lefebvre herausgegeben und 1997 an das „Neue Kirchenrecht“ von 1983 angepaßt wurden. Aus dem ersten Dokument entnimmt er die allseits bekannte Unterscheidung zwischen dem „ewigen Rom“ und dem „Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenz“. Wir brauchen darauf nicht weiter einzugehen und verweisen auf unseren o.g. Artikel.

Interessanter wird es bei den Ableitungen, die er aus dem zweiten Dokument vornimmt. Dieses schreibt bekanntlich die „Recognize & Resist (R&R)“-Position der „Piusbruderschaft“ fest: Anerkenne und Widerstehe! Wir anerkennen die „konziliaren“ Päpste, widersetzen uns aber ihren Anordnungen, da wo... Wir anerkennen, daß der „Novus Ordo“ gültig gefeiert werden kann, widersetzen uns ihm aber, weil... Wir anerkennen schließlich die liturgischen Reformen als legitim, welche Johannes XXIII. durchgeführt hat, und verpflichten uns, ausschließlich dessen Bücher zu benutzen – und diesmal ohne uns irgendwie zu widersetzen. Wir kennen das alles schon.

Unser Herr Abbé sieht hier jedoch sehr exakt die Positionierung der „Piusbruderschaft“ in drei Punkten festgelegt: „Die Beziehungen zum Papst: weder Sedisvakantismus noch Infallibilismus; die Annahme des postkonziliaren Lehramts (das kein neues Dogma verkündet hat): weder pauschale Zurückweisung noch servile Unterwerfung; die liturgische Haltung: klare Zurückweisung der Neuen Messe und ihrer Folgen.“

Nun kann man den „Sedisvakantisten“ nachsagen, was man will, aber sicher nicht, daß sie keine „Infallibilisten“ sind. Deshalb sind sie ja „Sedisvakantisten“, weil sie die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts und allen voran des Papstes wirklich ernstnehmen. Somit verläuft der „Kreidestrich“ unseres Abbés plötzlich inmitten lauter „Infallibilisten“, hebt sich davon ab und zeigt damit, daß er nicht die „Mitte“ zwischen zwei Extremen bezeichnet, sondern die Entfernung vom gemeinsamen, katholischen Boden, der kein anderer als der „Infallibilismus“ sein kann (und daher sein wackliger Drahtseilakt). Die „Piusbruderschaft“, so müssen wir daraus schließen, rechnet sich zu den „Anti-Infallibilisten“ und stellt sich somit in die Tradition der Gallikaner und Altkatholiken und all jener, welche die Unfehlbarkeit des Papstes bekämpft und bestritten haben. Das wundert uns nicht, denn schon mehrfach sahen wir uns genötigt, darauf hinzuweisen, daß die Argumente, mit welchen die „Pius-Theologen“ ihre sonderbare „Mitte“-Position begründeten, aus dieser Ecke stammen. Wir werden weiter unten noch darauf einzugehen haben.

Ein Lehramt mit Unfehlbarkeitsanspruch ist der ärgste Feind der „Pius“-Ideologie, und so muß vor allem das „postkonziliare Lehramt“ seines unfehlbaren Charakters entkleidet werden. Das geschieht auf bewährte Art ganz einfach und elegant dadurch, daß man in Parenthese darauf hinweist, es habe „kein neues Dogma verkündet“. Damit ist es ipso facto fehlbar, und man kann sich erlauben, ihm souverän zu begegnen, indem man sich aussucht, was man annehmen will: „weder pauschale Zurückweisung noch servile Unterwerfung“. Und so darf man auch die von den konziliaren Päpsten promulgierte „Neue Messe“ „klar zurückweisen“ und auswählen, welche ihrer bugninischen Vorformen man akzeptiert. Wieder merken die Herren „Pius-Theologen“ dabei nicht, welchen Ahnherren sie mit diesem Minimalismus huldigen, der die Unfehlbarkeit des Papstes auf wenige, feierliche Dogmenverkündigungen reduzieren will, die allerhöchstens alle hundert Jahre einmal vorkommen. Ihre direkten Väter dabei sind die Modernisten (s. unseren Beitrag Modernismus in der Tradition).

Noch komplizierter und spannender wird der Drahtseilakt unseres Herrn Abbés, als er uns erklären will, wie die „Piusbruderschaft“ den Spagat zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Kirchenrecht zu bewältigen gedenkt. „Folgendermaßen wurde das Problem gelöst: Der neue Codex des kanonischen Rechts, promulgiert am 25. Januar 1983, ist durchtränkt von Ökumenismus und Personalismus und sündigt schwer gegen die Finalität des Gesetzes selbst. Daher folgen wir im Prinzip dem Codex von 1917 (mit den nachher eingeführten Änderungen). In der Praxis hingegen und bei einigen präzisen Punkten können wir vom neuen Codex das akzeptieren, was einer homogenen (also traditionellen) Entwicklung entspricht, einer besseren Anpassung an die Umstände, einer nützlichen Vereinfachung. Wir nehmen auch im allgemeinen das an, was wir nicht zurückweisen können, ohne uns mit der offiziell empfangenen Gesetzgebung in Schwierigkeit zu bringen, wenn die Gültigkeit von Akten im Spiel ist.“ Alles klar? Von einem Codex, der „schwer gegen die Finalität des Gesetzes selbst“ sündigt, nimmt man „in der Praxis“ alles an, was... Wir fassen es kurz so zusammen, wie es ein Kirchenrechtsexperte der „Piusbruderschaft“ einst ausdrückte: „Sehen Sie, wir machen was wir wollen, und es ist gut so.“

In seinem Resümee meint der Herr Abbé, insgesamt eine glückliche Mitte getroffen zu haben: „weder Hermeneutik des Bruches noch Hermeneutik der Kontinuität“, sondern „Wahrung eines Kreidestrichs, den man als traditionelle Hermeneutik kennzeichnen könnte, und das in dem dreifachen Bereich des Lehramts, der Liturgie und der kirchlichen Disziplin“. Diese „traditionelle Hermeneutik“ der „Piusbruderschaft“ habe sich nicht geändert seit dem Tod des Gründers am 25. März 1991. „Traditionelle Hermeneutik“, gewiß, ganz in der Tradition der Anti-Infallibilisten, der Jansenisten, Gallikaner, Altkatholiken und Modernisten, wie wir gesehen haben. Im Lichte dieser „Tradition“ ließe sich auch das „II. Vatikanum“ trefflich interpretieren.

4. In der gleichen Ausgabe von „L'Hermin“ äußert sich auch Herr Abbé Thierry Gaudray, den wir schon von seinen anti-infallibilistischen Thesen im Zusammenhang mit Heiligsprechungen kennen, zum gleichen Thema: „Der Kreidestrich der Bruderschaft“. Wie gesagt scheint dieser Topos die Herren Pius-Patres zur Zeit sehr zu bewegen. Seine Unterscheidung ist erwartungsgemäß um einiges subtiler, denn für ihn liegt der „Kreidestrich, den die Bruderschaft St. Pius X. und die ihr befreundeten Gemeinschaften einhalten, nicht genau zwischen der Position jener, die sich dem neuen Rom angeschlossen haben, und derjenigen der Sedisvakantisten, d.h. zwischen Häresie und Häresie, sondern eher zwischen dem Schisma und der Häresie“. Das muß uns der Monsieur Abbé genauer erklären.

Der an Rom Angeschlossene wie der Sedisvakantist sind nach ihm beide nahe der Häresie, denn der eine schweige zu den Irrtümern, was doch die früheren Päpste verurteilt hätten, der andere laufe Gefahr, die Sichtbarkeit der Kirche zu leugnen. „Sie haben auch und vor allem gemeinsam, die Krise in der Kirche auf eine Frage der Autorität zu reduzieren, als ob die Elle, mit welcher der Katholik gemessen werden muß, nichts anderes wäre als der Gehorsam gegenüber dem Papst und nicht vor allem seine Unterwerfung unter die Offenbarung durch Vermittlung des päpstlichen Lehramtes. Pater Calmel hob hervor, daß die Kirche nicht der Mystische Leib des Papstes sei. Dieser ist nur ein Mittel, dessen sich der Liebe Gott bedient, um die Seelen im Glauben zu bestärken, wie er sich auch des Priesters bedient, um die Sakramente zu spenden. Mag vielleicht der Papst nicht mehr die Intention haben, die Glaubenshinterlage weiterzugeben und so aufhören, irgendein Lehramt auszuüben (wie ebenso ein Priester ein Sakrament nicht bewirkt, wenn er nicht die Intention hat, durch diesen Ritus das zu tun, was die Kirche tut). Die große Frage ist also nicht zu wissen, ob Franziskus Papst ist, um ihm eventuell blind zu folgen, sondern die, dem Lehramt aller Zeiten treu zu bleiben ohne Unterstützung dessen, der heute, soweit man urteilen kann, der Oberste Pontifex ist (aber nicht ohne Unterstützung durch einen Ersatz-Klerus, der durch die Vorsehung berufen wurde). Es ist eine Frage der Wahrheit und nur an zweiter Stelle der Autorität. Und nicht irgendeiner Wahrheit! Es handelt sich um das Wort Gottes, das uns treu überliefert wurde durch ein Lehramt, das sicher vergangen ist, aber immer noch lebendig. Am Tag des Gerichtes werden die Päpste da sein, um uns zu fragen, was wir aus ihren Lehren gemacht haben.“

In diesen wenigen Zeilen eröffnen sich uns ganz erhabene, eschatologische Dimensionen, die von einem mystisch berufenen Ersatz-Klerus bis zum Tag des Jüngsten Gerichts reichen. Doch der Reihe nach. Wir sind es ja schon leid, immer wieder dieselben Dinge wiederholen zu müssen, doch scheint es durchaus notwendig zu sein: Der Gehorsam gegenüber der päpstlichen Autorität ist konstitutiv für den Katholiken. „In dieser einen Kirche ist niemand und bleibt niemand, der nicht die Autorität und Vollmacht des Petrus und seiner legitimen Nachfolger im Gehorsam anerkennt und annimmt“ (Pius XI., Mortalium Animos). Oder möge uns unser großer „Pius-Theologe“ erklären, wie eine „Unterwerfung unter die Offenbarung durch Vermittlung des päpstlichen Lehramtes“ möglich ist ohne „Gehorsam gegenüber dem Papst“. Gewiß ist die Kirche nicht der Mystische Leib des Papstes, aber sie ist der Mystische Leib Christi, dessen sichtbarer Stellvertreter auf Erden kein anderer ist als der Papst. Der Papst ist nicht nur dazu da, uns „im Glauben zu stärken“, sondern uns gewissermaßen im Glauben zu zeugen und zu erhalten. Darum ist er der „Heilige Vater“. Wenn er dieses Amt durch einen inneren Obex dauerhaft nicht ausüben kann oder will, ist er eben nicht der Heilige Vater. Die päpstliche Autorität verbürgt uns die Wahrheit. Seine Funktion ist weder ersetzbar durch einen irgendwie mystisch berufenen „Ersatz-Klerus“ noch durch verstorbene Päpste, die nicht wieder zum lebendigen Lehramt werden dadurch, daß sie das Leben der Seligen im Himmel genießen und uns einst beim Jüngsten Gericht begegnen werden. Das lebendige Lehramt übt allein der aktuell auf Erden amtierende Papst und die mit ihm im Glauben und Gehorsam verbundenen Bischöfe, nicht die auf ihren himmlischen Thronen versammelten verflossenen heiligen Päpste. Solches aber dünkt unseren Herrn Abbé „nahe der Häresie“.

Gegen diese „Häresie“ einerseits soll also der „Kreidestrich“ gelten, andererseits gegen das „Schisma“, das nach seiner Sichtweise dann bestünde, wenn man vom „Zustand des Widerstands angesichts des Autoritätsmißbrauchs, unter welchem wir heute leiden“, überginge „zu dem einer systematischen Opposition gegen die legitimen Hirten“. „Der Papst wird immer ein Mensch mit seinen Schwächen sein. Wir müssen uns heute schützen gegen ein 'ungläubiges (untreues) Lehramt' (magistère infidèle) … Die Texte des II. Vatikanums sind 'gefährlich', etliche unter ihnen sind 'äquivok, unterminiert, mit Sprengladung versehen'... Aber wenn der Papst zu den Lehren seiner Vorgänger zurückgekehrt sein wird, wird man ihm gehorchen müssen wie man unseren aktuellen Oberen gehorchen muß trotz möglicher Schwächen und Irrtümer in der Regierung. Solange der Glaube und das Gesetz Gottes gewahrt bleiben, ist Ungehorsam illegitim.“ Wo nun freilich genau der Übergang liegen soll zwischen dem berechtigten „Zustand des Widerstands“ und der „systematischen Opposition“, und wer uns sagen soll, wann „der Papst zu den Lehren seiner Vorgänger zurückgekehrt sein wird“ und wir ihm wieder gehorchen müssen bzw. wann „Glaube und Gesetz Gottes gewahrt bleiben“ und somit der „Ungehorsam illegitim“ ist, darauf bleibt uns der Abbé die Antwort schuldig. Sein „Kreidestrich“ verläuft hier doch sehr im Vagen, und das muß er auch, soll er doch ein angebliches habituelles Widerstandsrecht gegen die legitime kirchliche Autorität begründen, das es so nicht gibt.

Fassen wir zusammen: Der „Kreidestrich“ des Herrn Abbé Gaudray trennt uns einerseits von der „Häresie“, die darin bestünde, zu meinen, dem legitimen aktuellen päpstlichen Lehramt Gehorsam zu schulden, andererseits vom „Schisma“, das den rechtmäßigen Ungehorsam und Widerstand gegen die kirchlichen Autoritäten zur „systematischen Opposition“ werden ließe. Einmal mehr entpuppt sich sein „Kreidestrich“ als der Drahtseilakt des „piusbruderschaftlichen“ „Recognize & Resist“. Daß ein „ungläubiges Lehramt“, das uns gefährliche Irrtümer lehrt, nie und nimmer das legitime Lehramt unserer heiligen Mutter Kirche sein kann, das ist der sichere katholische Boden, den er auf diese Weise verlassen hat, und ist die „Häresie“ und das „Schisma“, auf welches er um keinen Preis herabfallen möchte.

5. Damit kommen wir zum Beinahe-Namensvetter des Herrn Abbé Gaudray, dem deutschen „Pius-Spitzentheologen“ Pater Matthias Gaudron, der natürlich im Sortiment auch nicht fehlen darf und bei dieser Gratwanderungstour nicht hintanstehen mag. Unter dem Titel „Wie müssen wir zum Papst stehen?“ erschien seine „Kreidestrich“-Theorie unlängst auf den Seiten des deutschen „Pius“-Distrikts. Man beachte, daß es sich hier nicht einfach um eine Darstellung der „Pius“-Position handelt, sondern ganz im deutschen Stil um einen kategorischen Imperativ, also nicht „Wie stehen wir zum Papst?“, sondern „Wie MÜSSEN wir zum Papst stehen?“. Die „Pius“-Haltung ist durchaus zwingend. Wir MÜSSEN als Katholiken so zum Papst stehen wie sie es tun, wenn anders wir überhaupt noch Katholiken sein wollen. Da sollte man nun erwarten, daß uns der Herr „Theologe“ handfeste Beweise und Lehramtsstellen vorsetzt, zumal er behauptet: „Vor allem darf man sich nicht von Leidenschaft und Empörung leiten lassen, sondern muss sich fragen, wie man im Lichte des Glaubens auf diese Krise reagieren muss.“ Dann aber legt er wieder nur dieselben alten Platten auf, die wir von den Anti-Infallibilisten seit 150 Jahren und mehr schon zur Genüge kennen und die längst hundertfach widerlegt worden sind (und versucht nicht einmal einen „Remix“!).

Der Glaube also sagt uns, daß auch die Päpste fehlbare und schwache Menschen bleiben. Geschenkt. Jedoch: „Zweifellos unterscheidet sich die heutige Krise von vielen früheren Krisen dadurch, dass sie eine Krise des Glaubens und nicht der Sitten ist, während die sittlich fragwürdigen Päpste der Vergangenheit sich meist in Fragen des Glaubens nichts zuschulden kommen ließen. Trotzdem wäre es falsch, wenn man behauptete, es gäbe zu der heutigen Krise gar keine Parallelen.“ Und hier läßt der Pater nun – wir hätten darauf wetten können – die unvermeidlichen Kisten-Kasper der Anti-Infallibilisten-Kreise los, nämlich die armen Päpste Liberius und Honorius, die sich ja nicht mehr wehren können, diesmal noch verstärkt durch Nikolaus I., welche Bereicherung! Wer auf diesen uralten Trick immer noch hereinfällt, sei auf unseren Artikel „Kirchengeschichte oder Lügengeschichten?“ verwiesen. Wir dürfen noch ergänzen, daß Papst Pius IX. seinerzeit den Unfehlbarkeitsgegnern à la Gaudron und ihren „Argumenten“ entgegenhielt, daß sich nicht dogmatische Tatsachen an historischen messen lassen müssen, sondern umgekehrt, die historischen an den dogmatischen.

Als nächstes kommt – recht geraten: die unweigerliche stereotype Begrenzung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf einige wenige, seltene Akte. Zwar gesteht uns unser Theologe hier zu, daß das Eintreten der Unfehlbarkeit „wohl nicht nur bei der feierlichen Dogmatisierung einer Wahrheit der Fall“ ist, sondern „auch auf eine Heiligsprechung oder andere höchste Urteile zutreffen“ kann. Zutreffen KANN, wohlgemerkt! Es ist also keineswegs ausgemacht, ob und wann es das wirklich tut, und somit bleibt uns – *uff* – die Freiheit, unliebsame Heiligsprechungen wie z.B. die der Konzilspäpste, die jüngst erfolgten, nach Gusto abzulehnen. (Hier KÖNNEN wir, wo wir oben MÜSSEN!) Ohnehin gilt: „Da das II. Vatikanum ausdrücklich auf seine höchste Lehrautorität verzichtet hat und auch die nachkonziliaren Päpste nirgends von dieser Autorität Gebrauch gemacht haben – einzig den Fall der Heiligsprechungen müsste man hier diskutieren –, kommt ihren Lehrschreiben keine Unfehlbarkeit zu, d. h., eventuelle Irrtümer in diesen Texten sind kein Einwand gegen die päpstliche Unfehlbarkeit.“ Damit sind wir wieder einmal aus dem Schneider, Deo gratias! Und da diesen päpstlichen Lehrschreiben keine Unfehlbarkeit zukommt, können wir sie ignorieren, zerpflücken und kritisieren, wie wir lustig sind. Kurzum, wir können wieder einmal „machen was wir wollen, und es ist gut so“.

Ganz so deutlich sagt es unser Spitzen-Theologe natürlich nicht. Er gesteht zu, daß auch den nicht unfehlbaren Texten der Päpste und Konzilien einiger Respekt entgegenzubringen sei, daß man „auch solche Lehren in religiösem Gehorsam annehmen“ sollte. „Wenn man jedoch ernste Gründe hat, eine solche Lehre zu kritisieren, weil sie der katholischen Tradition widerspricht und offenbare Irrtümer enthält, darf man diese Kritik mit dem nötigen Respekt auch anbringen. Solche schwerwiegenden Gründe haben wir vor allem in Bezug auf den Ökumenismus, die Religionsfreiheit und die neue Liturgie.“ Als guter „Pius-Theologe“ weiß man eben die Dinge immer so hinzudrehen, wie man sie braucht. Und „ernste Gründe“ finden sich ja immer.

Nun gelangen wir – *gähn* – zu der „Sedisvakantisten“ und konservativen Katholiken gleichermaßen eigenen falschen und selbstverständlich übertriebenen Auffassung von der päpstlichen Unfehlbarkeit, als müsse man „alles annehmen, was vom Papst kommt, und ihm immer gehorchen“. Hingegen gilt: „Man muss dem Papst folgen, wenn er den geoffenbarten Glauben verkündet – sei es auf außerordentliche oder ordentliche Weise – und wenn er Befehle gibt, die im Einklang mit diesem Glauben stehen. Wenn er aber Irrtümer verkündet und Anordnungen gibt, die zum Schaden des Glaubens sind, muss man ihm nicht gehorchen.“ Und wieder muß ein historischer Beweis dafür herhalten, nämlich – jawohl, abermals recht geraten: die Begebenheit zwischen dem hl. Paulus und dem hl. Petrus in Antiochien. Erst unlängst wurde dieser Mythos, der unter Bezugnahme auf den hl. Thomas von Aquin behauptet, hier sei der Widerstand gegen (lehr-)amtliche Akte des rechtmäßigen Papstes legitimiert, als eine Schöpfung Mgr. Lefebvres aufgedeckt, die einer Verwechslung zwischen der Übung der „Correctio fraterna“ als Tugend der Nächstenliebe und der Übung des Gehorsams als Tugend der Gerechtigkeit entstammt (s. Durch Sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung).

6. Was bleibt noch? Ach ja, die Frage, ob ein Papst nicht sein Amt verlieren kann. Dazu unser Spitzen-Theologe: „Einzig für den Fall, dass der Papst Häretiker wird, d. h. wenn er hartnäckig eine geoffenbarte Wahrheit leugnet, haben eine Reihe von Theologen gemeint, der Papst würde damit sein Amt verlieren. Es gibt aber in dieser Frage noch nicht einmal eine einheitliche Lehre der Theologen, geschweige denn eine lehramtliche Aussage. Das kirchliche Lehramt hat sich zu dieser Frage nicht geäußert.“ Wie man als angeblicher „Theologe“ so etwas behaupten kann, ist uns völlig schleierhaft. Wir schweigen vor Scham und verweisen nur wortlos auf unsere Artikel „Schlage den Hirten“ Nr. 5, „Sedisphobe Argumente“ und andere. „Zudem haben die nachkonziliaren Päpste zwar manches gesagt und getan, was der Kirche und dem Glauben schwer geschadet hat und die Irrlehrer in ihrem Tun bestärkte, aber die wirkliche Leugnung eines Dogmas kann man ihnen nicht nachweisen.“ Ach ja? Und was ist etwa mit der Allerlösungslehre eines Wojtyla, die praktisch sein gesamtes Pontifikat durchzieht (vgl. Vom Lehramt zum Leeramt IV.1)? Werden hier nicht offen die Dogmen der Erbsünde, der Heilsnotwendigkeit der Taufe etc. geleugnet? Von der konziliaren „Religionsfreiheit“, die sogar ein Erzbischof Lefebvre mehrfach eine „Häresie“ nannte, wollen wir hier ganz schweigen. Was für ein blamabler „Theologe“ muß man sein, solche Dinge nicht zur Kenntnis zu nehmen?

Der Pater schließt mit einem Fazit und einem frommen Ausblick: „Man muss also Papst Franziskus als den rechtmäßigen Papst betrachten, auch wenn man nicht mit allen seinen Äußerungen einverstanden sein kann. Wir müssen deshalb für ihn beten und uns weiter in Geduld üben, bis es Gott gefällt, der Kirche wieder einen Papst zu schenken, dem man mit ganzem Herzen folgen kann.“ Was wir alles müssen...

7. In unserem Fazit können wir nur staunen, mit welcher Leichtfertigkeit die Herren „Pius-Theologen“ mit der Wahrheit umspringen und das Seelenheil vieler Gläubiger gefährden, nur um ihre „Kreidestrich“-Ideologie zu rechtfertigen und weiter auf ihrem „schmalen Grat“ herumzutanzen, und mit welcher Unbedenklichkeit sie sich dabei in die Fußstapfen der Unfehlbarkeitsgegner begeben, seien dies die Jansenisten, Gallikaner, Altkatholiken oder Modernisten. Wir können nur hoffen, daß immer mehr Seelen diese Spielchen durchschauen und sich nicht länger auf solche bedrohliche Höhenakrobatik einlassen wollen.