Komm, wir spielen Kirche!

Es ist wirklich nicht ganz einfach, sich als Katholik in dieser Zeit der Verfinsterung der Kirche zurechtzufinden. Denn sobald die sichtbaren Strukturen der Kirche mehr und mehr wegbrechen, tappt der Katholik zunehmend im Dunkeln. Kardinal Pie, einer der größten Apostel des Christkönigs, erwog am 8. November 1859 bei einem Vortrag in Nantes die Konsequenzen des Triumphs der Revolution und faßt seine Gedanken so zusammen: „Man wird den Glauben fast nicht mehr auf Erden finden, was heißt, daß er beinahe gänzlich aus sämtlichen irdischen Institutionen verschwunden sein wird.... Die Kirche, als Gemeinschaft zweifellos immer noch sichtbar, wird immer mehr auf rein individuelle und familiäre Dimensionen reduziert werden“ (Kardinal Pie, "Oeuvres" ["Werke"], Ed. Oudin, 1873, 4. Auflage, Band 3, S. 522).

Die allermeisten Traditionalisten wollen dies nicht wahrhaben und beginnen deswegen, Kirche zu spielen. Anstatt der Realität der papstlosen Zeit nüchtern zu begegnen, versuchen sie sich in einen sicheren Hafen einer Ersatzinstitution zu flüchten, von der sie eigentlich wissen müßten, daß es sie so gar nicht mehr geben kann. Einen solchen Versuch beschreibt der auf der Homepage der FSSPX veröffentlichte Brief von P. Karl Stehlin vom 6. Februar 2014. Dieser Brief ist ein, in einem sehr persönlichen Ton gehaltenes Schreiben „An den ehrwürdigen Pater Antoine, den ehrwürdigen Pater Jean und die ganze Gemeinschaft der ehrwürdigen Kapuziner-Brüder“. Warum man ein so persönlich gehaltenes Schreiben im Internet veröffentlichen muß, das ist gleich zu Beginn unserer Überlegungen eines jener offenen Geheimnisse, hinter das wir hier nicht weiter blicken wollen. Wir wollen jedoch der Sache an sich etwas tiefer auf den Grund gehen, da der Brief ein Paradebeispiel dafür ist, wie man in gewissen Kreisen der Tradition mit „der Sache“, womit der Glaube gemeint ist, umgeht.

Nach einer floskelreichen Einleitung meint P. Stehlin, die Kapuziner von Morgon (Frankreich) wegen der Predigt Pater Jeans vom dritten Sonntag nach Erscheinung an fünf Prinzipien erinnern zu müssen, die es im Kampf gegen die „Widerständler“ zu beachten gelte.

Das erste Prinzip, auf das der Pater zu sprechen kommt, ist das des Gehorsams. Er stellt dieses Prinzip selbstverständlich an den Anfang seiner Erwägungen, weil das Argument des Gehorsams eine Schlüsselrolle in seinem Kampf gegen die „Widerständler“ einnimmt, wobei er, wie immer in seinen Ausführungen, gelegen oder ungelegen auch auf P. Maximilian Kolbe und seine Militia Immaculatae zu sprechen kommt. Weil es Pater Stehlin gar nicht darum geht, das Wesen des wahren Gehorsams tiefer darzulegen, führt er sofort, ohne auch nur einen einzigen Gedanken über die Rechtmäßigkeit einer Autorität in dieser zugegebenermaßen schwierigen Zeit zu verlieren, an: „dass für den hl. Maximilian das einzige sichere Merkmal für die Stimme der Immaculata die Stimme der Oberen ist“. Immerhin ergänzt der Pater diese Aussage noch durch den Zusatz: „Und der hl. Maximilian (und vor ihm der hl. Thomas) haben uns gesagt, dass wir nur dann, wenn die Oberen von uns etwas verlangen würden, was unmoralisch oder gegen den Glauben gerichtet ist, wir Gott mehr gehorchen müssen und uns weigern müssen, seinen menschlichen Werkzeugen zu gehorchen, um sodann zu folgern: Wenn ich aber einen rechtmäßigen Oberen (siehe Prinzip 2) vor mir habe, schulde ich ihm unbedingten Gehorsam und erfülle so ganz sicher den Willen der Immaculata.“

Bei dieser Aussage ist bezeichnender Weise ein Wort falsch, bzw. zumindest zweideutig und zu einer Fehlinterpretation verleitend: Es muß nicht heißen unbedingten Gehorsam, sondern vollkommenen Gehorsam. Denn es ist durchaus nicht so, daß der vollkommen Gehorchende einfach alles, was der Obere befiehlt, blind ausführen muß, auch wenn es nicht direkt gegen Glaube und Sitte verstößt. Das Leben ist doch etwas differenzierter und vielschichtiger, ebenso auch der Gehorsam. Es hat Obere gegeben, die eine Gemeinschaft ruiniert haben, nicht deswegen, weil sie gegen Glaube und Sitte gefehlt haben, sondern ganz einfach deswegen, weil sie unfähig waren. P. Stehlin denkt aber gar nicht daran, die Sache differenzierter zu sehen, dann könnte er nämlich sein Argumentationsziel nicht mehr erreichen. Er könnte zu dem Thema Gehorsam etwa einen berühmten Brief des hl. Ignatius anführen, der über die Schwierigkeiten der Untergebenen handelt, wenn ein Oberer unfähig sein Amt verwaltet. Das soll es ja sogar bei den Jesuiten zur Zeit des hl. Ignatius gegeben haben. Nein, nachdem der Pater ein wenig über die vielen praktischen Schwierigkeiten zu gehorchen und den daraus fließenden Segen fabuliert hat, betont er nochmals: „Aber das Prinzip ist streng: so lange sich eine Geste, Anordnung oder Bitte nicht gegen den Glauben und die Sitten richtet, ist unbedingter Gehorsam zu leisten!“ Also nochmals unbedingter Gehorsam – möglichst blind und ohne viel nachzudenken, also genau so, wie der hl. Thomas den wahren Gehorsam ganz sicher nicht verstanden haben wollte und natürlich auch nicht die hl. Kirche – aber nur so kann P. Stehlin zu dem gewünschten Ergebnis kommen: Seinen Oberen muß man unbedingten Gehorsam leisten – und zwar bei all ihren kirchenpolitischen Eiertänzen, denn darum geht es letztlich konkret.

Das zweite Prinzip, das auf den Gehorsam folgt, ist die Autorität. Das hört sich folgendermaßen an: „Ein weiteres Prinzip ist das der Autorität an sich, das einzige Prinzip, das uns vor der protestantischen Gewissensfreiheit bewahrt. Die gesamte Tradition hält sich an dieses Prinzip, ohne das alles zusammenbräche, denn die Pflicht, die gewöhnliche Autorität zurückzuweisen, um den Glauben zu bewahren, schließt die Pflicht ein, sich der außerordentlichen, ersetzenden Autorität der Rechtsprechung zu unterwerfen.“ Es zeigt sich nun sofort, daß der Briefschreiber sich vielleicht doch etwas weitgehendere Gedanken über den Gehorsam gegenüber der legitimen Autorität in der Kirche hätte machen sollen, denn dann wäre ihm dieser Fauxpas nicht passiert. In seinem Satzgefüge ist nämlich nur der erste Satz vernünftig und richtig, die anderen Sätze sind entweder einfach nur Behauptungen oder unsinnige Benennungen oder Irrlehren.

An welches Prinzip der Autorität hält sich die gesamte Tradition? Mir ist keines bekannt, im Gegenteil, gerade darüber gibt es doch sehr konträre Ansichten – außer für Pater Stehlin wäre die FSSPX die gesamte Tradition, was nun wirklich für die Kirche verheerend wäre. Es ist nicht wenig verwunderlich, wie man in einem Satz von der Pflicht, „die gewöhnliche Autorität zurückzuweisen, um den Glauben zu bewahren“, zu der Schlußfolgerung kommen kann, man müsse nunmehr „sich der außerordentlichen, ersetzenden Autorität der Rechtsprechung … unterwerfen“. Was denn nun genau eine „Autorität der Rechtsprechung“ sei, das lassen wir einmal auf sich beruhen. Aber was ist mit einer „außerordentlichen, ersetzenden Autorität“ genau gemeint? Wie ist diese genau zu sehen? Wer ersetzt hier was oder wen und mit genau welchem Recht? Woher und inwieweit kann diese Autorität legitimiert werden und sein? Welche Vollmachten kommen ihr zu und woher hat sie diese und wie weit reichen sie? Wie und wodurch verliert sie diese wieder? Vielleicht gibt es sogar zwischen der „gewöhnlichen Autorität“ und der „außerordentlichen, ersetzenden Autorität“ einen wesentlichen Unterschied, den man immer bedenken muß, will man nicht in die Irre gehen?

Diese wenigen Fragen allein zeigen schon zur Genüge, daß der Schritt von der ordentlichen Autorität hin zur unordentlichen weitaus kürzer sein kann, als einem lieb und recht ist, mag man sie auch euphemistisch immer noch außerordentlich nennen. Ob nun die Autorität des P. Stehlin wirklich außerordentlich oder doch eher unordentlich ist, wissen wir jedenfalls noch nicht, das ist ganz einfach eine unbewiesene und vielleicht sogar unbeweisbare Behauptung.

Aber auch P. Stehlin befürchtet durchaus noch, daß man im Widerstand gegen die ordentliche, legitime Autorität vielleicht den Boden unter den Füßen verlieren könnte, denn er gibt zu bedenken: „Wenn man sich dieser Autorität widersetzt, hat das schreckliche Folgen. Ohne die Autorität gibt es keine Einheit: siehe die zwanzig Sedisvakantisten-Sekten, siehe den 'Widerstand'“. Wobei er nun leichtsinnigerweise (?) einen entscheidenden Fehler macht, denn mit dieser Autorität meint er jetzt offensichtlich nicht die ordentliche legitime Autorität, das wäre für ihn die römische Autorität, da für ihn immerhin die Päpste legitime Nachfolger Petri sind, sondern er meint seine außerordentliche Autorität, von der er aber selbst immer noch nicht weiß, wie sie sich letztlich entgegen der ordentlichen in Rom legitimiert und wie man sie überhaupt als solche außerordentlich legitimierte Autorität recht einordnen kann? Mit außerordentlichen Dingen ist das ja so eine Sache, denn wie gesagt, vielleicht sind sie ja im Grunde unordentlich, man hat es nur nicht bemerkt. Und noch etwas Weiteres ist zu fragen: Welche konkrete Einheit schafft eine Autorität, wenn sie außerordentlich unordentlich ist? Welches legitime Einheitsprinzip hat denn eigentlich konkret die FSSPX? Leider gibt uns der Autor auch darüber keinerlei Auskunft, er verweist nur auf das abschreckende Beispiel der anderen und meint: „siehe die zwanzig Sedisvakantisten-Sekten, siehe den 'Widerstand'“. Von diesem sog. Widerstand weiß er jedoch ganz sicher, daß er „kein anderes Einheitsprinzip hat, als die Bruderschaft zu bekämpfen“, womit er womöglich teilweise Recht haben könnte, aber sicher nicht den Nagel auf den Kopf trifft – was nun auch wirklich zuviel erwartet wäre.

Aber schieben wir diese Fragen zunächst nochmals ein wenig beiseite und lassen wir uns weiter in den Prinzipien unterrichten, die wir beachten sollen – wobei wir doch noch eine Anmerkung nachschieben wollen: Die Ausführungen über Mgr. Williamson hätte sich Hochwürden doch besser sparen sollen, denn sie verraten nur einen schlechten Stil. Und: ob protestantische Pastoren wirklich der dazu berufene Mund sind, einen Mann wie Richard Williamson zu beurteilen, das möchten wir doch erheblich bezweifeln.

Das dritte Prinzip heißt: „Man darf sich nicht schlechter Mittel bedienen, um etwas Gutes zu erreichen“. Dieses Prinzip ist ganz einfach – wobei hier nur und ausschließlich die Anwendung gemeint ist, die durch Herrn P. Stehlin von diesem Prinzip gemacht wird. Denn er geht auf die Frage der schlechten Mittel sachlich gar nicht ein, sondern, nachdem er ganz allgemein festgestellt hat: „Das schlimmste der schlechten Mittel aber ist das Verbreiten von 'Halb-Wahrheiten', Wahrscheinlichkeiten als Tatsachen darzustellen, über wichtige Dinge zu urteilen, ohne die ganzen Umstände und Fakten genau zu kennen“ –, wechselt er schnell die Ebenen und behauptet: „Wenn ich die Erklärung der verwirrten Priester sehe, vor denen Sie eine solch hohe Achtung haben, kann ich nur noch weinen, denn ich kenne die (Vor-) Geschichte in etwa der Hälfte der Unterzeichner und die wahren Gründe ihrer Kritiken und ihres Weggangs. Ich kenne nicht einen, von dem ich in aller Aufrichtigkeit sagen könnte, dass es ihm um die Wahrung des ganzen Glaubens geht.“

P. Stehlin wirft also zumindest der Hälfte der sogenannten Widerstandspriester öffentlich unlautere Absichten vor. Die Kirche hat immer den Grundsatz gewahrt, daß sie über das „forum internum“ nicht urteilt, der prinzipientreue Pater täte gut daran, sich an dieses Prinzip zu halten. Immerhin ist die folgende Aussage: „Und wenn ich diese Fakten (meint er damit seine pauschale öffentliche Verleumdung?) vor Augen habe, dann habe ich das Recht zu fragen, ob der Slogan 'Für die Wahrung des Glaubens' nicht ein Mittel ist, um sich zu rächen, sich zu rechtfertigen, zu zeigen 'dass ich recht gehabt habe'“, nochmals eine schwerwiegende öffentliche Anschuldigung, die der Herr Pater einmal vor Gott wird verantworten müssen.

Ganz in selben Stil kommt auch das nächste Prinzip daher: ad majorem Dei gloriam - „Alles hienieden ist auf die Ehre Gottes ausgerichtet“. Während P. Stehlin dieses Prinzip erstaunlich großzügig für sich in Anspruch nimmt, hält er dem Widerstand entgegen: „Umso schmerzlicher ist es für mich, dass im Namen dieses Prinzips der 'Widerstand' den Oberen der Bruderschaft (böswilligerweise, muß man nach dem Vorhergegangenen wohl ergänzen) den Prozess macht.“

Wie das genau mit dem Prozeß gemeint ist, ist aus dem Zusammenhang nicht ersichtlich. Was aber durchaus jedem ersichtlich ist, daß Letzteres doch eher eine Verdrehung der Tatsachen ist als die Wahrheit. Denn die Oberen der FSSPX gefallen sich zur Zeit ausgiebig darin, jedem Priester den Prozess zu machen, der auch nur im geringsten irgendwelche Zweifel am kirchenpolitischen Kurs der FSSPX zu äußern wagt. Wobei sie in der Beschaffung von Beweismaterial für diese Prozesse bekanntermaßen in keiner Weise zimperlich sind. Aber das stört den prinzipientreuen P. Stehlin anscheinend in keiner Weise, ihn stört vielmehr der nicht verifizierbare „Prozeß“ des Widerstandes gegen die Menzinger Führungsspitze – oder meint er vielleicht damit die sachliche Auseinandersetzung der Weihbischöfe und Priester mit Menzingen? Jeden, der sich darüber einen schnellen, aber gründlichen Einblick verschaffen möchte, der soll den Brief der drei Weihbischöfe vom 7. April 2012 an das Generalhaus und die entsprechende Antwort lesen. Da ist jeder Kommentar überflüssig, denn es wird daraus überdeutlich, mit welcher Art von Autorität man es hier zu tun hat.

Das letzte Prinzip, das Herr P. Stehlin den Kapuzinern von Morgon zu bedenken gibt ist: Filius Ecclesiae – Sohn der Kirche. Hören wir uns zunächst die Erklärung dazu an: „Dieses Prinzip gibt mir zu verstehen, dass ich der Sohn einer Mutter bin, dank derer ich alles von Gott erhalten habe. Jede Priesterweihe beginnt mit den Worten 'postulat Sancta Mater Ecclesia'. Dieses Prinzip verlangt von mir, die Kirche so zu lieben wie Christus sie geliebt hat. Es gibt aber nur eine sichtbare Kirche, die auf dem Fundament der Apostel errichtet ist. Sie ist ein großes Mysterium, denn sie ist gleichzeitig göttlich und menschlich. Sie ist heilig und ihre Mitglieder sind fast alle Sünder.“

Wenn die Modernisten anfangen, von einem Mysterium zu reden, dann muß man sich in Acht nehmen und bei manchen Traditionalisten ist das inzwischen genauso. Am besten, man glaubt nichts, was man nicht selber nachgeprüft hat, das erspart einem viele peinliche Reinfälle und eine Menge Irrtümer. Das ist freilich nur ein gutgemeinter Rat, der durchaus keine der stehlinschen Prinzipien verletzen möchte.

Aber kommen wir zurück zum Text. Unser Briefschreiber erklärt uns weiterhin: „Wenn ich an die Kirche dachte, dann war es nur noch die 'Konzilskirche' mit all ihrer Verblendung und all ihrem Gräuel. Es war, als gäbe es zwei Kirchen für mich, die traditionelle (unsere kleine Welt der Tradition) und die konziliare, die de facto für mich nicht mehr existierte. Aber es gibt nur eine Kirche als Braut Christi, als mystischer Leib Unseres Herrn.“

Damit wir richtig verstehen, was hier sachlich gesagt wurde, überspringen einmal die autobiographischen frömmlerischen Erinnerungen P. Stehlins und kommen zum entscheidenden Punkt, an dem der Briefschreiber zur eigentlichen Sache kommt: „Nach den Bischofsweihen waren die Umstände folgende: hemmungsloser Ökumenismus, 2 x 2 ist alles, nur nicht 4. Es war daher klar, dass für die Tradition keine Möglichkeit bestand, in Rom Gehör zu finden. Unter Benedikt XVI. änderte sich die Situation ebenfalls, 2 x 2 wird wieder 4, aber auch 5 und 6. Unter dem Gesichtspunkt der Logik ist das schlimmer, denn das ist die Aufgabe des Widerspruchsprinzips, aber Gott hat offensichtlich aus dieser Lage Gutes hervorgebracht, auf dass die Stimme der Tradition in der Kirche erneut ertöne. Mit Papst Franziskus ergibt sich wieder eine neue Situation, vielleicht die schlimmste von allen. Wem kommt daher das Recht zu, die besten Mittel auszuwählen, um das Ziel zu erreichen? Der Autorität!“

Man kann nur hoffen, daß Ihnen die Absurdität dieser Ausführung sofort aufgefallen ist. Wenn nicht, wollen wir Ihnen ein wenig dabei helfen, diese aufzuspüren. Eine Bemerkung voraus: Es kann eigentlich nur jemand solche Gedankengänge formulieren, der vollkommen von einer Ideologie befangen ist und aufgrund dessen unter Wahrnehmungsstörungen leidet. Im obigen Zitat – Sie erinnern sich? – spricht der Briefschreiber von der Kirche, und zwar von der einen sichtbaren Kirche. Sodann bekennt er, er hätte so gelebt, „als gäbe es zwei Kirchen für mich, die traditionelle (unsere kleine Welt der Tradition) und die konziliare, die de facto für mich nicht mehr existierte“, um schließlich festzustellen: „Aber es gibt nur eine Kirche als Braut Christi, als mystischer Leib Unseres Herrn.“ In dieser persönlichen Nacherzählung des Erlebten kommt zwar die Konfusion des Erzählenden angesichts der nachkonziliaren Wirklichkeit zum Ausdruck, aber es wird in keiner Weise auch nur ein Ansatz zu einer Lösung geboten – ja, eine solche Lösung wird, was man kaum fassen kann, auch gar nicht als notwendig erachtet. P. Stehlin genügt offensichtlich die theoretische Feststellung: „Aber es gibt nur eine Kirche als Braut Christi, als mystischer Leib Unseres Herrn“ – ohne sich in irgendeiner Weise Rechenschaft darüber abzulegen, wo denn nun diese Kirche heute konkret zu finden sei oder an was man sich denn in diesem allgemeinen Chaos unbedingt halten müsse, usw.

Um den eigentlichen Grund der Konfusion P. Stehlins klarer zu sehen, holen wir nochmals etwas weiter aus. P. Stehlin hat nämlich eine seltsame Art, das Gegenteil von dem zu beweisen, was er beweisen möchte. Hören wir uns zunächst seinen Gedankengang an: „In der Tat sind, dank der päpstlichen Beschlüsse, dank der Gespräche mit Rom und dank eines gewissen 'Tauwetters' manche dieser tief vergrabenen Schätze wieder aufgetaucht, zum großen Wohl vieler Seelen. Und das dauerte genau bis zu dem Moment, als Rom von neuem Kompromisse und Änderungen forderte. In diesem Moment forderte die Anwendung des Prinzips von uns, uns erneut zurückzuziehen und auf bessere Zeiten zu warten.“

Mit dem Tauwetter ist hier wohl das Motu proprio „Summorum Pontificum“ und die Aufhebung der sog. Exkommunikation der damals noch vier Weihbischöfe der FSSPX durch Josef Ratzinger alias Benedikt XVI. gemeint. Aber waren diese Akte, sachlich gesehen, objektiv wirklich gut und zum großen Wohl vieler Seelen. Woher weiß das übrigens P. Stehlin so genau, hat er die Seelenschau? Die Freigabe der „alten“ Messe im Rahmen der Theologie der neuen Messe, verbunden mit der Bedingung, die Heiligkeit des Neuen Ritus anzuerkennen, ist das objektiv gesehen ein Gut oder ein Übel? Die Aufhebung einer Exkommunikation, von der man behauptet, daß sie gar nicht existiert, in gut modernistischer Manier aus psychologischen Gründen (!), ist das objektiv gesehen ein Gut oder ein Übel? Was hier P. Stehlin praktiziert, nennt man Situationsethik. In der Situationsethik wird etwas gut oder schlecht genannt, nicht weil es objektiv und der Sache nach so ist, sondern aufgrund der Umstände. Darum kann in diesem irrigen System dieselbe Sache einmal gut und einmal schlecht sein, weil sich die Umstände geändert haben. P. Stehlin hat offensichtlich im Eifer des Gefechts ganz sein drittes Prinzip – „Man darf sich nicht schlechter Mittel bedienen, um etwas Gutes zu erreichen“ oder anders formuliert: „Der Zweck heiligt nicht die Mittel“ – vergessen und verfällt deswegen genau in diese irrige Ansicht des reinen Pragmatismus. Diesen reinen Pragmatismus hat der 1. Assistent des Generaloberen P. Stehlins im Jahre 2012 ganz öffentlich als Grundlage der Verhandlungen mit Rom verkündet. Es geht also nicht mehr darum, was objektiv gut ist, was der Glaube von uns fordert, sondern es geht allein darum, was der FSSPX nützt. Das Prinzip „Der Zeck heiligt die Mittel“ zerstört auf Dauer angewandt jegliches Gespür für die Wahrheit. Aus einem solchen reinen Pragmatismus folgt deswegen notwendiger Weise die Konfusion des Denkens und damit der eigenen Position, weil man in dessen Folge die eigene Handlungsweise nicht mehr vernünftig erklären kann. Wenn P. Stehlin behauptet: „In diesem Moment forderte die Anwendung des Prinzips von uns, uns erneut zurückzuziehen und auf bessere Zeiten zu warten“, dann ist das ganz einfach falsch, denn das katholische Prinzip fordert, daß man, bevor man sich mit den Modernisten in Gespräche und Verhandlungen einläßt, sich darüber Rechenschaft ablegt, ob eine Zusammenarbeit mit den Modernisten überhaupt – also grundsätzlich, prinzipiell! – ohne Gefahr für den eigenen Glauben möglich ist.

Weil P. Stehlin die Beispiele so liebt – man kann übrigens mit nichts so einfach sophistisch argumentieren wie mit Beispielen –, hier ein Gegenbeispiel zum „großen Wohl vieler Seelen“ durch das römische Tauwetter. Kürzlich erfuhren wir folgende wahre Geschichte: Eine zunächst ungläubige Frau kam über die protestantischen Charismatiker zum „Glauben“. Von dort kam sie zur „Amtskirche“ und im Rahmen der „Amtskirche“ zu den „katholischen“ Charismatikern. Von diesen kam sie zur konservativen „Amtskirche“. Dies führte zur Frage nach der „alten“ Messe, weshalb sie mit einem Motuproprio-Priester Kontakt aufnahm. Dieser Motuproprio-Priester hatte eine Immakulatagruppe des P. Stehlin aus der FSSPX, in welche diese Frau eintritt. Der noch jüngere Motuproprio-Priester lädt die Immakulatagruppe zu einer religiösen Fortbildung ein, zu der auch die Frau mitgeht. Und wo landet sie? Bei einem charismatischen Treffen der übelsten Sorte, mit Tanz, Handlauflegung und Geisttaufen – wobei der Motuproprio-Priester begeistert mitmacht! Die Frau ist also über die Motuproprio-Messe und die Militia Immaculatae des P. Stehlin wieder zu ihrem charismatischen Ursprung zurückgekehrt – worüber sie nicht besonders erfreut war – Gott sei Dank!

Es ist eine bekannte Tatsache, der Wirklichkeit kann man nicht davonlaufen, die Wirklichkeit holt einen immer wieder ein. Man kann sich noch so energisch dagegen stemmen, sie noch so beharrlich ignorieren, es kommt unweigerlich der Augenblick, in dem einen die Tatsachen unbarmherzig auf den Boden der Realität zurückholen. – Und wirklich, so ist es auch bei P. Stehlin, wenn auch leider nicht ganz, denn wie wir gehört haben: „Nach den Bischofsweihen waren die Umstände nämlich folgende“ – Umstände nennt der Pater das! – : ein „hemmungsloser Ökumenismus“ in der „Kirche“! Die „Aufgabe des Widerspruchsprinzips“ durch Benedikt XVI. – „aber Gott hat offensichtlich aus dieser Lage Gutes hervorgebracht, auf dass die Stimme der Tradition in der Kirche erneut ertöne“. – Und: „Papst Franziskus, vielleicht der schlimmste von allen?“ Nochmals sei es betont, Umstände nennt der Pater das: hemmungsloser Ökumenismus – Aufgabe des Widerspruchsprinzips – Papst Franziskus, vielleicht der schlimmste von allen! Da ist wohl mit der Benennung der Sache etwas schief gelaufen! – bzw. P. Stehlin ist leider doch nicht ganz auf dem Boden der Realität angekommen. All das sind keine Umstände, es sind geistige Katastrophen, Häresien, Apostasien, Verhöhnung des Heiligsten, das uns Gott anvertraut hat. Aber der Briefschreiber gefällt sich nicht nur in solch euphemistischen, illusionären Benennungen. Nachdem er diese „Umstände“ aneinandergereiht hat, kommt er zu der absurden Schlußfolgerung: „Wem kommt daher das Recht zu, die besten Mittel auszuwählen, um das Ziel zu erreichen? Der Autorität!“

Sie haben richtig gelesen: Der Autorität heißt es da. Dabei meint P. Stehlin allen Ernstes, nachdem er seine letzten drei Päpste umständehalber namentlich erwähnt hat, nicht diese seine legitimen Päpste, denn die Umstände scheinen ihm dafür nicht besonders günstig zu sein, sondern er meint Menzingen! Also nicht die von ihm als legitim anerkannten Päpste sind für P. Stehlin DIE AUTORITÄT, sondern seine außerordentlichen Oberen in Menzingen! Pater Pierre de Cloriviere S.J. beurteilt eine solche Haltung folgendermaßen: „... Selbst dann, wenn man die Kirche oder ihren obersten Hirten, dem die Unfehlbarkeit verheißen wurde, nicht um Rat fragen kann, darf man keiner wie auch immer gearteten Autorität blindes Vertrauen schenken, da es keine Autorität gibt, die nicht selbst dem Irrtum verfallen und uns mit hineinziehen könnte.“ (Etudes sur la Revolution, Ed. Sainte Jeanne d'Arc, S. 132-133).

Oder anders formuliert: Wenn jemand außerhalb des unfehlbaren Lehramts der Kirche einer anderen Autorität ein blindes (P. Stehlin sagt „unbedingt“, wie wir sahen) Vertrauen schenkt, dann hat er damit seinen katholischen Glauben verloren, weil er den Glauben nicht mehr von der Kirche, sondern von einer falschen Autorität empfängt. In der Dogmatik von J.B. Heinrich kann man lesen: „In der Kirche steht die Lehr- und Richtergewalt in Glaubenssachen nur dem von Christus in Petrus und den Aposteln eingesetzten Lehramte zu; also weder der Gesamtheit, noch irgendeinen einzelnen, von Christus mit diesem Lehramte nicht betrauten Gläubigen, welche Stellung auch sie einnehmen und mit welchen natürlichen oder übernatürlichen Gaben sie ausgerüstet sein mögen. Nur durch dieses infallible Lehramt ist die gesamte Kirche indefectibel im Glauben und nur dieses Lehramt ist nach göttlicher Einsetzung und nach der Natur der Dinge nächste Glaubensregel.“

Nachdem P. Stehlin, wie wir gezeigt haben, seine fehlbare und nach eigenem Bekunden derselben sogar irreguläre, mit einem kanonischen Mangel behaftete Autorität als nächste Glaubensregel anerkennt, hat er im Prinzip den katholischen Glauben verloren und einen Fellayglauben oder FSSPX-Glauben angenommen. Deswegen ist er auch ganz sicher nicht mehr die Stimme der Tradition, wenn er damit die katholische Tradition meinen sollte, die ihm unfehlbar nur das lebendige Lehramt geben kann, das allein die nächste Glaubensregel ist, sondern er ist gewissermaßen die Stimme einer Sekte geworden.

Aus diesem Sektenglauben heraus ist auch durchaus zu verstehen, was P. Stehlin sagt: „Dank der Gründung der Militia Immaculatae traditioneller Observanz bildet sich fast die Hälfte unserer Gläubigen (ca. tausend) nach den Prinzipien und dem Ideal des hl. Maximilian weiter. Es ist dies der Wunsch, der Immaculata Gehorsam zu leisten, indem man die Aufgabe der Werkzeuge versteht, derer sie sich bedient. Wenn die Gläubigen den Verrat und die Untreue des offiziellen Klerus entdecken und gleichzeitig unsere Treue, klammern sie sich an die Tradition und leben immer mehr in übernatürlichem Gehorsam. Es gibt nur zwei Arten von Gläubigen, die Verwirrung stiften, um die Tradition zu spalten: die Sedisvakantisten und der 'Widerstand'.“

Das ist wohl wahr, die „Sedisvakantisten und der 'Widerstand'“ stiften gegen die FSSPX-Sektentradition Verwirrung, weil sie sich redlich bemühen, die wahren, die katholischen Prinzipien festzuhalten und anzuwenden. Davon ist P. Stehlin himmelweit entfernt, wenn er behauptet: „Wenn die Gläubigen den Verrat und die Untreue des offiziellen Klerus entdecken und gleichzeitig unsere Treue, klammern sie sich an die Tradition und leben immer mehr in übernatürlichem Gehorsam.“ Woher weiß er denn, daß die Gläubigen, wenn sie sich an die Tradition – und hier ist doch wohl die FSSPX-Tradition gemeint – klammern, sie sich damit auch an die Tradition der Kirche klammern und somit „immer mehr in übernatürlichem Gehorsam“ leben? Das Gegenteil ist meist der Fall! Wenn sie wirklich den „Glauben“ der FSSPX annehmen, dann verlieren sie jeglichen übernatürlichen Glauben, weil sie einer Autorität Glauben schenken, die diesen Glauben niemals fordern und natürlich auch nicht geben kann. Nochmals, weil es so wichtig und entscheidend ist: „Nur durch dieses infallible Lehramt ist die gesamte Kirche indefectibel im Glauben und nur dieses Lehramt ist nach göttlicher Einsetzung und nach der Natur der Dinge nächste Glaubensregel.“

Wie verwirrt P. Stehlin aufgrund der FSSPX-Ideologie inzwischen schon ist, das dokumentiert er an einem seiner Gegenbeispiele: „Als verkündet wurde, dass Priester zur Tradition zurückgekehrt sind, fragte ein Priester, der dem 'Widerstand' nahesteht, ob sie sub conditione erneut geweiht wurden.“

Insofern P. Stehlin nicht schon an Gedächtnisschwund leidet, was wir jedoch nicht sicher wissen, wird er sich durchaus daran erinnern können, daß selbst von der FSSPX nicht wenige „Priester“ aus der Amtskirche „sub conditione“ nachgeweiht wurden. Vielleicht kann er sich sogar noch an die Predigt von Mgr. Marcel Lefebvre während der von Rom nicht erlaubten Bischofweihen erinnern, in der Mgr. Lefebvre wirklich allen Ernstes sagte: „Sie wissen ja, meine lieben Brüder, sie wissen sehr gut, daß es ohne Bischöfe keine Priester geben kann. Von wem werden also alle diese Seminaristen, die hier anwesend sind, das Sakrament der Priesterweihe empfangen, wenn mich der liebe Gott morgen ruft? Und das wird sicher nicht lange auf sich warten lassen. Vielleicht von konziliaren Bischöfen, deren Sakramente alle zweifelhaft sind, weil man nicht genau weiß, welches ihre Intentionen sind? Das ist ja nicht annehmbar.“ Sie haben richtig gelesen, „deren Sakramente alle zweifelhaft sind“ steht da. Dennoch empfindet es P. Stehlin, wie man aus der Verwendung seines Gegenbeispiels herauslesen muß, als eine Unverschämtheit, wenn ein Priester auch nur wagt nachzufragen, ob ein modernistischer Priester, der im modernistischen Ritus von einem modernistischen Bischof, der selber in modernistischen Riten geweiht wurde, „sub conditione“ nachgeweiht wurde? Woher will denn P. Stehlin die Sicherheit nehmen, die nach der Lehre der Kirche zum erlaubten Empfang eines Sakramentes notwendig ist, daß diese Weihen gültig waren? Ist er oder Menzingen plötzlich das unfehlbare Lehramt, das allein den Gläubigen diese Sicherheit geben könnte? Wenn dem aber nicht so ist, und das ist absolut sicher, wenn sowohl P. Stehlin als auch seine Oberen in Menzingen in ihrem Urteil fehlbar sind und sich durchaus auch schon mehrmals geirrt haben, und wenn deswegen, weil sie sich in dieser Sache wieder einmal irren, die Priesterweihen all dieser „Priester“ tatsächlich ungültig waren, dann muß er und seine Oberen in Menzingen es verantworten, daß die Gläubigen Brot anbeten, in der Kommunion anstatt des Leibes Christi Brot empfangen, anstatt einem hl. Meßopfer einer Theatervorstellung beiwohnen und ungültige Beichten ablegen und deswegen womöglich, so ist durchaus zu befürchten, in die Hölle kommen. Das ist nun ein recht langer Satz geworden, der umso anschaulicher dokumentiert, wie eng alles zusammenhängt. Ob also die Verwunderung P. Stehlins über diese Frage nach der Gültigkeit der modernen Weihen mit seinen eigenen Prinzipien übereinstimmt? – Vor allem mit dem ersten und höchsten Prinzip, das er formuliert hat: „Alles hienieden ist auf die Ehre Gottes ausgerichtet … und auf das Heil der Seelen“ – „Salus animarum suprema lex“.

Komm, wir spielen Kirche! Eine verlockende, aber sehr gefährliche Alternative zur so ernüchternden und täglich fordernden, von Kardinal Pie beschriebenen Realität der Kirche in der Endzeit: „Die Kirche, als Gemeinschaft zweifellos immer noch sichtbar, wird immer mehr auf rein individuelle und familiäre Dimensionen reduziert werden.“ Denn es ist nun freilich kein leichtes Spiel mehr, sich als Katholik in dieser Zeit der Verfinsterung der Kirche zurechtzufinden. Man würde P. Stehlin wünschen, daß er seine, in dem Brief an- und ausgeführten Prinzipien nochmals überdenkt, um sein theologisches Fundament etwas tragfähiger zu machen. Nur so könnte er der Versuchung entkommen, weiter Kirche spielen zu wollen. Aber wie man hört, wurde P. Stehlin von seinen außerordentlichen Oberen zum Distrikoberen von Asien ernannt, da wird es wohl mit dem Nachdenken nicht viel werden. Schade für Herrn Pater Stehlin und besonders auch schade für die vielen Gläubigen!