Im November des Jahres 1890 traten zwei syrische Priester in den Kreis ihrer Freunde und berichteten, sie hätten mit größtem Staunen in den Gesichten der westfälischen Seherin Anna Katharina Emmerich gelesen, daß in der Nähe von Ephesus an einem Berge das Wohnhaus der allerseligsten Jungfrau sich befinde und nahebei ihr Kreuzweg. Kopfschütteln, ungläubiges Lächeln und leiser Spott ward ihnen als Antwort. Nur ein ernster Priester, der Land und Leute der Gegend von Ephesus kannte, meinte: „Das darf man weder sofort bejahen noch verneinen, das muß vielmehr untersucht werden!“ Diesen guten Rat nahmen sich die beiden Syrer zu Herzen. In aller Stille — sie gaben weder ihren Freunden noch den Behörden Kenntnis von ihrem Vorhaben — machten sie sich auf die Reise im Sommer des Jahres 1891. Es war am St. Annatag. Sie dachten in stillem Beten: „Mutter Anna, wenn es wahr ist, so laß uns die letzte irdische Wohnstätte deiner allheiligen Tochter Maria finden, es wird eine Freude sein für alle ihre Verehrer auf Erden!“
Mit dem Kompaß in der Hand und genauen Notizen über die Angaben der Seherin begannen sie am dritten Tag ihrer Reise den Aufstieg in das Bergland bei Ephesus. Der Aufstieg bei brennender Sommerhitze war sehr mühsam, doch nichts konnte ihren frommen Eifer hemmen. In den Viertelstunden notwendiger Rast unterhielten sie sich über Nachrichten von Ephesus, einst Bischofssitz des Apostels Johannes, von den Besuchen des Apostels Paulus in Ephesus und von Berichten, nach denen der Grieche Dionysius mit Paulus nach Ephesus gereist sei und hier die Allheilige gesehen und gesprochen haben soll. Daß die Allerseligste zu Ephesus gelebt habe, darüber hegten sie keinen Zweifel. Sie waren ganz erfüllt von dem Gedanken: Hier hat sie gelebt, hier ist sie über die Erde geschritten, jedes Stäublein dieser Gegend ist von ihrer Nähe gesegnet. Und immer glühender brannte in ihren Herzen der Wunsch, wirkliche Spuren von Marias Erdenleben zu finden.
Immer wieder flehten sie in Stoßgebeten St. Anna an, ihnen zu helfen. Aber auch die Heilige von Bethanien wurde angefleht, denn es war ja inzwischen St.-Martha-Tag geworden. An diesem Tage gelangten sie nach einem dreistündigen Aufstieg an den Rand einer Hochfläche, von der ihnen der starke Duft weiter Tabakfelder zuströmte. „Wo Felder sind, da werden auch Menschen sein“, überlegten sie und hielten angestrengt Ausschau, denn sie waren schlimm geplagt von Durst. Ihre Annahme enttäuschte sie nicht. In den Feldern arbeiteten einige Frauen, die reife Blätter sammelten. „Wasser! Wasser!“ riefen die Wanderer.
Die Frauen schauten verlegen auf ihre Krüge und kehrten sie um, um zu zeigen, daß sie leer seien. Da jedoch die beiden Wanderer aufs neue nach Wasser riefen, gedachten sie einer kleinen Quelle, die sich nicht allzuweit von den Männern befand, und sie hoben die Arme, deuteten auf eine Baumgruppe am Hang und riefen durch die hohl um den Mund gelegten Hände: „Monastiri!“ Monastiri, das war den beiden Priestern kein fremdes Wort, es bedeutete Heiligtum. Aber wo befand sich hier irgendwo ein Heiligtum? Sie sahen nur Gras und Gestrüpp um sich her und seitab ein paar Bäume.
„Geht auf die Bäume zu!“ besagten die Gesten der Frauen. Und die Wanderer, diesen Wink befolgend, schritten zu der Baumgruppe hin. Ja, im Schatten dieser Bäume fanden sie das Monastiri, ein bis auf die Grundmauern zerfallenes Heiligtum, und nebenan das Wasser einer Quelle, die anscheinend mitten in dem Steingebäude entsprang. Wie entgeistert sahen sich die beiden Priester an. Sie netzten kaum die trockenen Lippen, sie griffen stumm nach ihren Notizen und stammelten nur: „Deo gratias!“ Und dann: „O Schwester Emmerich, wie richtig hast du geschaut!“
Alle Müdigkeit war verflogen, aller Durst vergessen. Mit frischer Kraft, neu belebt von Entdeckerfreude, erstiegen sie die Höhe des Berges und fanden restlos bestätigt, was die Seherin ausgesagt hatte.
Zu ihrer Rechten lag das Trümmergebiet des alten Ephesus in der weiten Ebene zu Füßen des Berges. Zur Linken erblickten sie das Mittelmeer mit seinen Inseln, so wie die Seherin es angegeben hatte.
Sie haben lange ergriffen um sich geschaut. Die Frauen waren inzwischen näher gekommen, vor Priestern fürchteten sie sich nicht. Auf deren Frage, was jenes Heiligtum bedeute und welchen Namen es trage, sagten sie: „Panagia Capuli“, d. h. „die Allheilige schläft“.
Nun stand es ganz außer Zweifel. Jenes Heiligtum mit der Quelle mußte das von der Seherin geschaute einstige Wohnhaus der Mutter Gottes sein. Nun sie dieses gefunden hatten, mußte es auch möglich sein, den von der Seherin bezeichneten Kreuzweg zu finden. — Noch zwei Tage verweilten die beiden Syrer auf der Hochfläche des Berges und suchten bei den wenigen Bewohnern dieser weltvergessenen Gegend etwas zu erfahren über das Heiligtum und seine Verehrung. Da hörten sie immer wieder, daß die Ruine seit eh und je als die letzte irdische Wohnstätte der Jesumutter verehrt worden sei.
Hochbeglückt über das unerwartet schnelle Ergebnis ihrer Nachforschungen, kehrten die beiden Priester zurück. Bereits 15 Tage später zog eine zweite Gruppe Forscher aus, die vom 19. bis 21. August 1891 alle bisherigen Ergebnisse nachprüfte. Auch sie konnte keinen Zweifel hegen. Endlich, im Dezember des gleichen Jahres, begab sich Erzbischof Timoni von Smyrna selbst an Ort und Stelle, um die Wahrheit der beiden vorliegenden Berichte zu prüfen. Er konnte nur feststellen, daß Anna Katharina Emmericks Angaben zutrafen.
Nun wurden die Gesichte der Seherin genauer studiert. Alles, was sie erzählte über den Grundriß und die Einteilung des Wohnhauses Maria wurde durch Ausgrabungen voll und ganz bestätigt, so klar, daß es ein Leichtes war, dieses Gebäude auf den alten Fundamenten wieder zu errichten.
In den Angaben der Seherin war dazu aber ein Kreuzweg erwähnt, den Maria sich auf einer Wegstrecke von einer halben Stunde, von ihrem Wohnhaus ausgehend, habe errichten lassen. Hierzu sagte die Seherin: „Hinter dem Hause, eine Strecke Weges den Berg hinan, hatte sich die Heilige Jungfrau eine Art von Kreuzweg angelegt. Sie hatte, da sie noch in Jerusalem wohnte, seit dem Tode des Herrn es nie unterlassen, dort seinen Leidensweg unter Tränen und Mitleid zu wandeln. Bald nach ihrer Ankunft hier in der Gegend sah ich sie täglich hinter ihrem Hause den Berg eine Strecke Weges in diesen Leidensbetrachtungen wandeln. Sie ging anfangs allein und maß nach der Zahl der Schritte die Entfernung der Stellen ab, wo dem Heiland etwas geschehen war. An jeder dieser Stellen richtete sie einen Stein auf. Der Weg führte in einen Wald, wo sie auf einem Hügel den Kalvarienberg und in einer kleinen Höhle eines anderen Hügels das Grab Christi bezeichnete… Ich sah damals kein Bild, auch kein feststehendes Kreuz die Stellen bezeichnen, es waren nur einfache Denksteine mit Inschriften in hebräischer Sprache.“
Entsprechend diesen Angaben begannen die Forscher zu graben und zu suchen. Bis zum Jahre 1898 hatten sie bereits mehrere dieser Kreuzwegsteine entdeckt. Die Angaben der Seherin stimmten aufs genaueste. Kein Zweifel, der Kreuzweg war gefunden.
(Aus: "Schutzengel, Freund der Jugend" Jahrgang 1956, März 1956)