Wunschpäpste

1. Auf eine leere Fläche läßt sich alles mögliche projizieren. Vielleicht ist es daher ein Indiz für unsere heutige Zeit, daß es derzeit fast so viele „Päpste“ gibt wie Katholiken, denn jeder projiziert seinen eigenen Wunschpapst auf den Papstthron, egal wer dort sitzt. Wäre das zu normalen Zeiten auch so, wenn wir einen wahrhaften Nachfolger Petri und Stellvertreter Christi hätten?

2. Es verwundert uns nicht bei denjenigen, welche den gegenwärtigen „Mann in Weiß“ in Rom gar nicht für den wahren Papst halten – und das sind keineswegs nur „Sedisvakantisten“ – wenn sie sich auf die leere Projektionsfläche einen Papst nach ihren Wünschen und Bedürfnissen träumen – sofern sie nicht einfach daran gehen, sich selbst einen Papst zu wählen. Da sind etwa jene, welche Pius XII. nicht nur für den letzten rechtmäßigen Papst, sondern obendrein für einen ganz großen und heiligen halten. Darum haben sie auch kein Problem, die Psalmen des Ökumenisten Bea zu beten, die Karwoche nach der Reform des Freimaurers Bugnini zu feiern und den evolutionistischen und teilhardistischen Urknall zu verherrlichen, denn all das ist schließlich „pianisch“.

Für andere ist es der zum Märtyrer-Papst verklärte Paul VI., der möglicherweise im biblischen Alter von bald 117 Jahren immer noch – durch göttliche Kraft ganz wundersam trotz all seiner Qualen und Entbehrungen bis auf den heutigen Tag am Leben erhalten – in den unterirdischen vatikanischen Verliesen schmachtet, um dort eines fernen Tages glorreich wieder hervorzukommen wie Kaiser Friedrich Barbarossa aus dem Kyffhäuser, dieweil sein Doppelgänger, der für all die Schandtaten verantwortlich ist, die man dem armen heiligen Unschuldslamm völlig zu Unrecht anlastete, längst verschieden ist.

Wieder andere sehen in Johannes Paul I. den Märtyrer-Papst aus dem „dritten Geheimnis“ von Fatima. Hartnäckig hält sich die Fama, daß er von finsteren Mächten ermordet wurde, weil er, ein „zweiter Pius X., ohne es zu wissen“, den Plan gefaßt hatte, die Kirche wieder „in Christus zu erneuern“. Übrigens sind seine Verehrer merkwürdigerweise oft die gleichen, die nun die Wiederauferstehung des heiligen Reformpapstes in Bergoglio feiern.

Wiederum andere, und das sind vorzüglich von Bergoglio enttäuschte Konservative, Traditionalisten oder Pseudo-Traditionalisten, sehen den wahren Papst im ebenfalls zum Heiligen stilisierten Ratzinger alias Benedikt XVI., der keineswegs freiwillig zurückgetreten ist, sondern zum Rücktritt gezwungen wurde und nun ebenfalls gewissermaßen im Vatikan gefangengehalten wird – wohl von denselben Dunkelmännern, denen wir auch die übrigen Märtyrer-Päpste der letzten Jahrzehnte verdanken.

Noch einmal eine andere Theorie besagt, daß sowohl beim Konklave von 1958 als auch bei dem von 1963, nach anderer Lesart in den Konklaven von 1963 und 1978, eigentlich Kardinal Siri zum Papst gewählt worden ist. Auch er wurde von jenen dunklen Kräften zum Verzicht und zum Schweigen gezwungen und blieb so weiterhin nur Erzbischof von Genua. Er verstarb 1989 und nahm sein schreckliches Geheimnis mit ins Grab.

Eines ist all diesen Sagengestalten gemeinsam: Keine von ihnen kann – oder darf – mehr ihren Mund auftun und so ihre schwärmerischen Anhänger aus ihren Träumen und Wunschvorstellungen reißen oder sie gar dadurch irritieren, daß sie von ihnen Gehorsam, womöglich sogar in Glaubensdingen, verlangt.

3. Merkwürdiger ist dieses Phänomen bei jenen, welche zwar den jeweiligen Weiß-Träger als Amtsinhaber anerkennen, aber trotzdem munter drauf los projizieren, was das Zeug hält. Hier betreten wir fast schon das Feld der Psychoanalyse, die ja ebenfalls eine solche Projektion kennt, wo man seine eigenen „Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse“ gewissermaßen auf andere Personen überträgt. Hierbei zählt die Person des anderen nur, insoweit sie eben „Leinwand“ für die eigenen Projektionen ist oder sein kann. Dazu bedarf es der „selektiven Wahrnehmung“, d.h. der Projizierende richtet „seine Wahrnehmung des Gegenübers nach seinen eigenen Maßstäben aus, d.h. was in die eigenen Vorstellungen passt, wird bevorzugt wahrgenommen, wohingegen nicht Passendes nicht oder weniger [oder auch gar nicht!] gewertet wird“ (Wikipedia).

So kam es dahin, daß der Erz-Modernist Ratzinger wegen seines weit fortgeschrittenen und darum den meisten, auch Modernisten, völlig unverstanden Postmodernismus einerseits und seines klassischen Geschmacks und ästhetischen Flairs andererseits je nach Couleur zum finsteren „Reaktionär“ oder zum lichten „Restaurator“ wurde, Buhmann für die Progressisten und Erlösergestalt für Konservative und Pseudo-Traditionalisten – was psychologisch tief blicken läßt. Sogar die Traditionalisten sahen in ihm einen Mann, der vorsichtig das II. Vatikanum für Kritik öffnete, der, wie man „zwischen den Zeilen lesen konnte“, sogar „gewisse Irrtümer richtigstellen wollte“, der, so der puerile Vergleich des französischen Pius-Distriktoberen, einem Tanker-Kapitän glich, welcher längst das Steuer zur Umkehr herumgelegt hatte, während nur die Massenträgheit des Schiffes ein sofortiges Sichtbarwerden dieses neuen Kurses verhinderte.

All diese Projektionen erstaunen umso mehr, als es gerade Ratzinger nie an Klarheit fehlen ließ, worin seine eigentlichen Ideen und Absichten bestanden, nämlich in seiner „Hermeneutik der Reform“ (nicht: „der Kontinuität“, wie fälschlich projizierend immer wieder behauptet!), die er konsequent auf allen Gebieten umzusetzen suchte, so etwa auf dem liturgischen Feld mit seinem legendären „Motu proprio Summorum Pontificum“ und dessen subtiler Unterscheidung zwischen der „ordentlichen“ und der „außerordentlichen Form“ des „einen römischen Ritus“. Doch ungeachtet dessen, was er sagte und tat, fuhren alle fort, sich ihren je eigenen Benedikt XVI. zurechtzubasteln und zeigten sich beleidigt und enttäuscht, wenn die harten Fakten einmal die Wirklichkeit in ihr Illusionsgebäude einbrechen ließen. „Rom hat uns getäuscht!“, so die Klage des in seinen kindlichen Träumen gestörten Pius-Generaloberen.

4. Eine ganz neue Dimension eröffnete sich mit Bergoglio alias „Franziskus I.“. Sein garantiert dogmen- und theologiefreies grenzenloses Drauflos-Geschwätz – darin übrigens nicht ganz unähnlich gewissen „traditionalistischen“ Generaloberen und ihren Assistenten – gibt völligen Freiraum für Projektionen aller Art. So beklagte unlängst laut einem Bericht von kath.net/KNA sogar der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Jozef Michalik, „eine Instrumentalisierung des Papstes durch Kirchengegner. «Heute kämpfen sie mittels des Papstes gegen die Bischöfe in Polen», sagte Michalik laut Angaben der Tageszeitung «Nasz Dziennik» (Montag) bei einem Gottesdienst in seinem Erzbistum Przemysl. Die Laizisten sagten: «Franziskus ist gut, die Bischöfe böse.»“ (Seltsam, denn dieses Lamento vom guten Papst und den bösen Bischöfen war doch bislang ein Proprium der „Konservativen“ und „Traditionalisten“.)

Während selbst Kirchengegner und -„freunde“ wie Hans Küng ihn mit dem „Time Magazin“ zum „Mann des Jahres“ küren, suchen „Konservative“ in seinen geistigen Ausscheidungen nach „Franziskus-Perlen“, wohingegen er für die „Traditionalisten“ bald ein Mann ist, der „den Glauben“ hat, dann wieder ein „echter Modernist“, jedoch nicht im eigentlichen Sinn, sondern nur ein „praktischer Modernist“, der freilich eine „wahre Reform“ der Kirche einleitet und ihr den Geist der Armut wiederbringt.

5. Ohnehin haben die „Traditionalisten“ mit ihrer besonderen Lehre, welche die Amerikaner mit ihrem Sinn fürs Praktische auf die griffige Kurzformel „Recognize and Resist (R&R)“, also „anerkenne und widerstehe“ gebracht haben, carte blanche für alle beliebigen Interpretationen und Konstrukte. Da wurde dann auch schon aus Wojtyla – jedenfalls in seinen frühen Jahren – ein im Grunde seines Herzens ganz traditionell gesinnter Restaurator, der nur entweder nicht so konnte, wie er wollte, oder aber nur aus Klugheit sich als Ökumenist verstellte. Flugs entwickelte man eine große Kunstfertigkeit darin, stets zu wissen, was der Papst eigentlich meinte und wollte, auch wenn er er gerade das Gegenteil sagte oder tat. Die Bischofsweihen von 1988 etwa waren ganz nach dem geheimen Wunsch und Willen Wojtylas, auch wenn er sie ausdrücklich verboten hatte und eine Exkommunikation deswegen aussprach. Erst recht wußte man natürlich bei Ratzinger alleweg genau, was „zwischen den Zeilen“ jeweils zu lesen war, auch wenn in den Zeilen ganz etwas anderes stand.

6. Da Wunschbilder stets Idealisierungen und Stilisierungen sind, konnte es nicht ausbleiben, daß die solchermaßen erträumten Päpste zu Idolen wurden und daher samt und sonders demnächst zur Heiligsprechung anstehen; das ist ja das mindeste, was man seinen Traumpäpsten an Apotheose zukommen lassen kann.

In der „traditionalistischen“ „Piusbruderschaft“ füllte man die Lücke auf eigene Art und erhob den Gründer zum Super-Papstersatz und heiligen Sprachrohr Gottes, bei dem jedes Wort, das er je gesagt oder geschrieben hat, direkt vom Himmel stammt und daher letzte, unwiderlegbare und unhinterfragbare Gültigkeit hat. Der Versuch, diese Projektion jetzt auch auf seinen Nachfolger zu übertragen, führte zur Spaltung in „Levebvristen“ (der sog. Widerstand) und „Fellayisten“ - wobei es letzteren meist an Überzeugung fehlt, was durch andere „Tugenden“ wie Feigheit und Bequemlichkeit wettgemacht wird, und jede der beiden Gruppen ihre besondere Auswahl von unfehlbaren Lefebvre-Texten hat, je nachdem sich diese für ihre Zwecke eignen oder nicht.

7. Wir sehen das Problem: Solche imaginären Päpste oder Ersatzpäpste gehen aus der eigenen Einbildungskraft hervor, sie sind eben nicht real, sondern nur virtuell. Sie können uns darum so wenig helfen wie Superman, Rambo oder Tarzan, da sie nicht wirklicher sind als diese. Sie sind letztlich nur eine Flucht vor der Realität. Wer aber der Realität ausweicht, der weicht letztlich Gott aus, denn Gott ist die höchste Wirklichkeit.

Vor allem aber können sie natürlich nicht wirklich Lehramt oder objektive Norm unseres Glaubens sein, sind sie doch nur Projektionen des eigenen Bewußtseins und damit Ausdruck unserer eigenen Gedanken und Vorstellungen. Sie bedeuten gerade nicht eine Unterwerfung unseres Verstandes unter die von außen durch Hören – auf das Lehramt! – empfangene Offenbarung, wie es der wahre katholische Glaube verlangt, sondern gewissermaßen Unterwerfung der äußeren Wirklichkeit unter unsere inneren Wünsche und Phantasien – oder sollen wir sagen: unsere Gefühle? Sie passen damit gut zur modernen Mentalität, zur „Transzendental-Philosophie“ Immanuel Kants und zum Modernismus. Aber sie passen nicht mehr zum katholischen Glauben, ja sie zerstören letztlich den Glauben.

„Wird freilich der Menschensohn, wenn Er kommt, den Glauben finden auf Erden?“ (Luk 18,8), fragt der Heiland sorgenvoll. Gerade angesichts der eben dargelegten dramatischen Lage in der endzeitlichen Kirche versteht man diese Klage noch viel besser. Man könnte sie so formulieren: Wird denn ein Papst, wenn uns Gott in Seiner großen Güte wieder einen wahren solchen schenken wird, unter diesen Katholiken überhaupt noch Gehör finden? Werden sie überhaupt noch bereit sein, ihn als Papst anzuerkennen und ihm den schuldigen Gehorsam zu leisten? Werden sie überhaupt noch verstehen, was es heißt, einen realen Papst zu haben und nicht ein Traum- und Trugbild? Oder sind sie zu schon zu verliebt in ihre selbstgeschaffenen Phantasiegebilde, um sich noch von ihren Idolen abzuwenden?

„Kehret um, Kinder Israel, zu dem, von welchem ihr so weit abgewichen seid!“ (Isaias 31,6).
„Denn ihr ginget in der Irre wie Schafe, aber ihr seid jetzt zurückgekehrt zu dem Hirten und Aufseher eurer Seelen“ (1. Petrus 2,25).
„Denn sie selbst verkündigen von uns, welchen Eingang wir bei euch hatten, und wie ihr euch von den Götzenbildern zu Gott bekehrt habt, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“ (1. Thessalonicher 1,9)