1. Wenn man in den Publikationen sog. „Traditionalisten“ stöbert, so stößt man immer wieder auf reichlich sonderbare Aussagen, die offensichtlich recht unreflektiert gemacht werden, aber gerade deshalb bei näherer Beleuchtung das ganze Dilemma offenbaren, in welchem diese Bewegung steckt und festgefahren ist.
2. Da ist zum einen etwa die Behauptung, der Glaube sei mehr oder wichtiger als der Gehorsam. Gemeint ist damit der Gehorsam gegenüber dem Papst! Wir dürfen also oder müssen sogar, das soll damit gesagt sein, selbst dem Papst ungehorsam sein und ins Angesicht hinein widerstehen, wenn es gegen unseren Glauben geht, was er vorschreibt oder verlangt. Damit rechtfertigen diese „Traditionalisten“ ihr Verhalten, dem von ihnen als legitim anerkannten Papst dennoch ungehorsam zu sein.
Wenn wir ein wenig näher darüber nachdenken, wird uns jedoch gerade in der schlagwortartigen Zusammenfassung der Un-Sinn dieser Aussage bewußt: „Der Glaube ist mehr als Gehorsam.“ Aber der Glaube ist doch gerade Gehorsam! Darin besteht der Glaube wesentlich, daß wir unseren Verstand im Gehorsam dem sich offenbarenden Gott unterwerfen. Wir glauben alles, was Gott uns geoffenbart hat, und zwar nur deswegen, weil es Gott offenbart hat. Ohne diesen Gehorsam wäre unser Glaube kein wahrer Glaube, selbst wenn wir alles annehmen würden, was Inhalt unseres Glaubens ist. Nicht die Glaubensinhalte machen das Wesen und den Wert unseres Glaubens aus, sondern die Unterwerfung, der Glaubensgehorsam. Allein dadurch wird unser Glaube übernatürlich und verdienstlich.
Woher wissen wir denn aber nun, was Gott uns geoffenbart hat, wer lehrt es uns denn? Die Kirche ist es, die es uns lehrt. Sie verfügt über den Schatz der Offenbarung in Tradition und Heiliger Schrift, bewahrt ihn, legt ihn aus und vermittelt ihn uns durch ihr unfehlbares Lehramt. Das höchste Lehramt in der Kirche aber übt – der Papst! Gerade im Gehorsam gegen den Papst betätigt der Katholik seinen Glauben. Und nun soll der Glaube plötzlich mehr oder wichtiger sein als dieser Gehorsam? Was kann dann mit diesem „Glauben“ gemeint sein? Doch wohl nur gewisse Glaubensinhalte, und damit würde der Satz lauten: „Glaubensinhalte sind wichtiger als der Glaubensgehorsam.“ Das aber ist falsch und wäre nichts anderes als Protestantismus.
Natürlich ist es so, daß wir anhand der Glaubensinhalte feststellen können, ob jemand den Glauben mitbringt oder nicht, ob er Gläubiger oder Häretiker ist, ob wir ihm glauben und folgen dürfen oder nicht. „Doch wenn selbst wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten, als wir euch verkündet haben, so sei er verflucht!“ (Gal 1,8). Ein Häretiker kann nicht unser Glaubenslehrer sein, er kann nicht Lehramt sein, er kann nicht im Namen Gottes Glaubensgehorsam beanspruchen. Wir müssen ihm widerstehen, er sei „verflucht“. Aber kann ein solcher dann tatsächlich das oberste Lehramt der Kirche innehaben?
Wir stehen also wieder unausweichlich vor dem unauflöslichen Dilemma: Entweder handelt es sich um das höchste Lehramt, dem wir gerade im Namen des Glaubens Gehorsam schulden, oder wir müssen im Namen des Glaubens ungehorsam sein, aber dann kann es sich nicht um das kirchliche Lehramt handeln. Dem höchsten kirchlichen Lehramt im Namen des Glaubens ungehorsam zu sein ist ein Widerspruch in sich oder eben Protestantismus: Hier stehe ich, ich kann nicht anders!
3. Ein weiteres Kuriosum an Aussage leistete sich unlängst ein „traditionalistischer“ Vorzeige-Theologe. Nachdem seine Gemeinschaft, die sich auch gerne als „katholische Avantgarde“ bezeichnet, voriges Jahr durch ihren Beinahe-Anschluß an das konziliare Rom schon fast Schiffbruch erlitten hätte und nun nur noch mit Schlagseite dahindümpelt, versucht sie sich neuerdings durch mehr oder minder markige Worte über den in dieser Hinsicht dankbaren „Franziskus I.“ wieder aufzurichten. So füllt unser Theologe denn auch mehrere Seiten des Organs seiner Gemeinschaft mit mäßiger Kritik über das „Interview, das Papst Franziskus der Jesuitenzeitschrift Civilta‘ Cattolica gegeben hat“. Dies könne „man nur als Schlag ins Gesicht eines jeden glaubenstreuen Katholiken bezeichnen und jeder bibeltreue Protestant kann sich in seinem falschen Glauben, die katholische Kirche sei nicht die wahre Kirche, bestätigt fühlen“, so der tadelnde Ton unseres Theologen.
Nachdem er dann einige „päpstliche Aussagen“ aufs Theologen-Korn genommen hat, kommt er unter der Zwischenüberschrift „Welche Hoffnung bleibt?“ zu folgender erstaunlicher Quintessenz: „Als Katholik, der seinen Glauben ernst nimmt, kann man über die Aussagen von Papst Franziskus nur entsetzt sein. Vielleicht öffnen sie wenigstens dem einen oder anderen derjenigen konservativen Katholiken, die die Krise der Kirche bisher immer verharmlost haben, die Augen. Ansonsten bleibt die Gewissheit, dass auch der Papst die Kirche nicht zerstören kann. 'Non praevalebunt – die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden' (Mt 16,18).“
Hier begegnen wir nicht nur wieder jenem Prinzip, wonach der Glaube mehr ist als Gehorsam (denn als „Katholik, der seinen Glauben ernst nimmt“, kann man ja „über die Aussagen von Papst (!) Franziskus nur entsetzt sein“), sondern auch einer höchst sonderbaren Exegese. Denn, wie jedem Katholiken nur zu gut bekannt sein sollte, lautet die von unserem Theologen herangezogene Stelle bei Matthäus vollständig: „Und ich sage dir: Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden“ (Mt 16,18). Gerade Petrus ist ja der Fels, auf den die Kirche errichtet ist, er und seine Nachfolger, die Päpste, sind die Garanten, daß die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen werden! Und nun wird also der Fels selber zum potentiellen Zerstörer? „Und ich sage dir: Du bist Petrus, der Fels, und selbst du wirst meine Kirche nicht zerstören können!“ Ist das noch horrender Schwachsinn oder schon Gotteslästerung? Zumindest ist es gerade dieser Schlußsatz unseres Vorzeige-Theologen, durch den „jeder bibeltreue Protestant ... sich in seinem falschen Glauben, die katholische Kirche sei nicht die wahre Kirche, bestätigt fühlen“ kann.
4. Wir sehen also, wohin selbst Vorzeige-Theologen einer „katholischen Avantgarde“ geraten können, wenn sie nicht bereit sind, sich dem Dilemma offenen Geistes zu stellen, sondern in Vor-Urteilen befangen nur krampfhaft Rechtfertigungen für eine in sich widersprüchliche und damit unhaltbare Position suchen. Nur die Einsicht, daß wir es bei diesen höchst „zweifelhaften Päpsten“ (Melanie von La Salette) nicht mit dem legitimen kirchlichen Lehramt zu tun haben, bewahrt uns davor. Dann aber brauchen wir uns nicht jedesmal künstlich zu empören, herummäkeln, lamentieren und den „Papst“ schulmeistern, wenn die üblichen Häresiaden ertönen, umgekehrt aber auch nicht aufgeregt herumgackern, wenn einmal aus Versehen etwas Katholisches herauskommt, wie eine Mutter, die ihr Kind lobt, weil es ausnahmsweise ins Töpfchen statt in die Windel gemacht hat. Ein wenig mehr Gelassenheit wäre die Folge und würde von einem Zuwachs an Weisheit zeugen, welche heute in Kreisen der Katholiken leider eine sehr seltene Eigenschaft geworden ist.