Die alchemistische Umwandlung der römischen Liturgie
Bis vor wenigen Jahren schien die Welt der „Traditionalisten“ noch ganz in Ordnung. Da gab es ganz klare und einfache Fronten: hier die „Traditionalisten“ mit ihrer „alten“ Messe, der „messe de toujours - Messe aller Zeiten“, auch „tridentinische Messe“ oder „Messe des hl. Pius V.“ genannt, dort die Modernisten mit ihrer „Neuen Messe“, dem „Novus Ordo Missae“, der „konziliaren“ Messe oder „Messe Pauls VI.“. Diese war schlecht, trug einen protestantischen, ökumenistischen, freimaurerischen Geist, jene war gut, katholisch, ganz gemäß der apostolischen Überlieferung. Ein Ritus stand sauber gegen den anderen, 1962 gegen 1969, und trennte ordentlich in gut und böse, alt und neu, konservativ und progressiv. So weit so gut.
Doch nun geschah etwas Unerhörtes. Ein Theologe bestieg den Papstthron, ein Modernist zwar, aber immerhin ein Theologe, welcher bewies, daß er auf der Höhe der Zeit war und die Dinge besser und klarer einschätzen konnte als seine Gegner von links und rechts. So verblüffte er beide Seiten gleichermaßen mit seiner liturgischen „Reform der Reform“, die eine Art Mittelding zwischen „alter“ und „neuer“ Messe anstrebte, einen Mischritus, zwischen 1962 und 1969 gelegen, also so um 1965 herum. Und tatsächlich – hatte es damals nicht schon so etwas gegeben? So eine Art Übergangsritus zum „Novus Ordo“? Da er nur so kurz und vorübergehend in Erscheinung getreten war, hatte man ihn ganz vergessen und beiseite gesetzt. Zu Unrecht, wie sich nun zeigte. Zumal der intelligente Theologe Ratzinger sehr gut erkannt hatte, daß hier der archimedische Punkt lag, durch welchen sich die scheinbar so klaren und verhärteten Fronten auflösen ließen.
In Wahrheit nämlich, so erwies sich bei näherer Betrachtung des „Übergangsritus“ und seiner Geschichte, bestand zwischen den Riten von 1962 und 1969 kein kontradiktorischer Gegensatz, sondern allenfalls ein konträrer. Tatsächlich, und dies unsere These, die wir im folgenden näher beleuchten wollen, handelt es sich nur um zwei Stadien ein und derselben Entwicklung, einer sonderbaren Umwandlung oder Metamorphose im Sinne der Alchemie, von der katholischen zur protestantisch-freimaurerischen Liturgie, vom Opfer Abels in das Opfer Kains, in mehreren Etappen. Tatsächlich war es ein und derselbe Mann, nämlich Annibale Bugnini, welcher schon seit 1948 in offizieller Eigenschaft in Rom an der „Reform“ der heiligen Messe arbeitete und diese über mehrere Stadien, darunter eben auch das 1962er Missale Johannes' XXIII., bis zum endgültigen „NOM“ von Paul VI. vorantrieb. Insofern lag „Papst Ratzinger“ als Benedikt XVI. gar nicht so falsch, als er in seinem berühmt-berüchtigten Motu proprio „Summorum Pontificum“ vom 7.7.2007 beide als zwei Formen ein und desselben Ritus auffaßte und so deren Verschmelzung herbeiführen wollte.
Doch gehen wir dieser alchimistischen Metamorphose ganz systematisch und von Anfang an nach und beginnen wir mit der Vorgeschichte.
Die Vorgeschichte
Der heilige Pius X.: Notwendigkeit liturgischer Reformen
Vor gut 110 Jahren, am 4. August 1903, bestieg der heilige Pius X. den päpstlichen Thron. Noch im gleichen Jahr, am 22. November, Fest der heiligen Cäcilia, veröffentlichte er sein Motu proprio „Inter pastoralis officii“ („Tra le sollecitudini“), auch „Gesetzbuch der Kirchenmusik“ genannt. Darin taucht erstmals hochoffiziell der später so oft ge- und mißbrauchte Begriff der „actuosa participatio“, der „tätigen Teilnahme“ auf. Der Papst beklagt nämlich den bedauerlichen Mißstand, daß die Gläubigen der Liturgie mehr oder weniger als unbeteiligte Zuschauer beiwohnen und sich unterhalten lassen ähnlich wie in der Oper oder dem Konzert, wozu offensichtlich die damals übliche theatralische und üppige Kirchenmusik das ihre beitrug. Demgegenüber will er den Gregorianischen Choral neu beleben, welcher wahrhaft liturgisch ist und dessen Gesang die Gläubigen gleichsam wie von selbst wieder in die Liturgie hineinnimmt.
„Die Bedeutung, die Pius X. der Restauration der Kirchenmusik beimaß“, so lesen wir in Jedins „Handbuch der Kirchengeschichte“ (Bd. VI/2, Freiburg i.Br. 1973), „wurzelte nicht nur in ästhetischen Anliegen – 'für ein Beten auf der Grundlage der Schönheit sorgen', sagte er –, sondern in viel höherem Maße in dem Verlangen, bei den Gläubigen die Liebe zur Liturgie und zum feierlichen Gebet der Kirche zu erwecken, in dem er nach der Formulierung des Motu proprio von 1903 'den ersten und unersetzlichen Quell der christlichen Kraft' sah. Dieses Anliegen veranlaßte Pius X., der sein ganzes Leben lang vor allem ein 'Kirchenmann' war, mehrere Liturgiereformen durchzuführen“ (S. 423).
Schon seit dem Vatikanischen Konzil (1869/70) lag die „Zweckmäßigkeit bestimmter liturgischer Reformen oder zumindest Anpassungen“ „in der Luft“, wie es im Handbuch weiter heißt (ebd.). Schon Leo XIII. hatte deswegen 1902 eine historisch-liturgische Kommission ins Leben gerufen, und Pius X. führte das Werk weiter. Mit seiner Bulle „Divino afflatu“ vom 1. November 1911 führte er eine Brevierreform durch. „Sie nahm nicht nur eine Umstrukturierung des Officium divinum im Geiste der Überlieferung in Angriff, sondern trug auch dem vernünftigen Verlangen Rechnung, den im Pfarrdienst stehenden Priestern die Belastung durch das Breviergebet zu erleichtern“ (a.a.O. S. 425).
Im einzelnen gab es folgende Veränderungen: „Die Matutin wurde von 18 Psalmen am Sonntag und 12 an den anderen Tagen auf 9 Psalmen oder Psalmenstücke verkürzt; kein Fest wurde aufgehoben, aber die Sonntage hatten von nun an weitgehend Vorrang; für die meisten Feste sollte künftig außer für die Hymne der Matutin, für die Lektionen und Schlußgebete das Ferialoffizium verwendet werden. Das Proprium de Tempore erhielt so seine Bedeutung zurück, der Lesung der Heiligen Schrift wurde mehr Raum gegeben, und das gesamte Offizium wurde vielseitiger, wenn es auch beträchtlich verkürzt und vereinfacht wurde, leider mit Verzicht auf manche traditionellen Elemente“ (ebd.).
Allerdings war dies nur der Anfang der Reformen, die der hl. Pius X. im Sinn hatte. Er dachte vielmehr an eine „vollständige Reform des Breviers und des Meßbuchs“ und „faßte sogar eine vollständige Umgestaltung des Kalenders ins Auge“. Noch „Anfang 1914 wurde die Reform des Meßbuchs in Angriff genommen; doch der Tod des Papstes brachte alles zum Stillstand, zumal die Arbeitsweise der Kommission heftig kritisiert wurde“ (ebd.). Insbesondere machte man ihr zum Vorwurf, „sie habe manche ehrwürdigen Werte, die bis ins fernste Altertum zurückzuführen seien, geopfert“ (a.a.O. S. 425f).
Wir wissen also nicht, was genau herausgekommen wäre, wenn Pius X. sein Werk der liturgischen Reform hätte zu Ende führen können. Möglicherweise hat ihn die göttliche Vorsehung durch seinen Tod gerade davor gnädig bewahrt. Jedenfalls nahm von hier die „Liturgische Bewegung“ ihren Aufschwung, die im Jahr 1913 mit der Wahl Ildefons Herwegens zum Abt der Benediktinerabtei Maria Laach in der Eifel besonders im deutschsprachigen Raum „erstarkte“, wie es in „Wikipedia“ heißt.
Bevor wir uns jedoch der „Liturgischen Bewegung“ zuwenden, wird es nötig sein, auf die Prinzipien der Liturgie und auf den Unterschied zwischen echter und falscher Reform näher einzugehen.
Prinzipien der katholischen Liturgie: Der Hohepriester Jesus Christus
Der Dogmatiker Dr. J.B. Heinrich spricht in einem Artikel über „Die kirchliche Reform“ (2. Teil, Mainz 1850) über den göttlichen Ursprung der katholischen Liturgie. Er schreibt:
Nicht Zufall oder menschliche Einsicht hat das wunderbare Gebäude des katholischen Kultus und der kirchlichen Disziplin und Askese gegründet und ausgeführt. Wie das Dogma, so sind auch die Grundzüge des kirchlichen Kultus und der kirchlichen Disziplin von dem Herrn und seinen Aposteln selbst in der Kirche niedergelegt. Falsch ist es daher, nicht auch in dem Kultus und der Disziplin den gottentsprungenen Keim, das vom Herrn gelegte Fundament und in der Kirche die unfehlbare Bewahrerin und Auslegerin dieses göttlichen Depositums in Kultus und Disziplin, so wie bezüglich der Lehre, anzuerkennen. Denn Kultus und Disziplin, wie sie seit achtzehn Jahrhunderten sich ausgebildet, können wir nur als die naturgemäße Entfaltung jenes Keimes, als die regelrechte Ausführung jenes Grundrisses ansehen. Nicht zweifeln dürfen wir daran, daß derselbe Heilige Geist, der die Kirche bei der Bezeugung und Entfaltung der Lehre von Irrtum geschützt, sie auch bei der Ausbildung des Kultus und der Disziplin verbeistandet und geleitet habe. Oder wo hat Christus, da er der Kirche den Heiligen Geist verhieß, einen Unterschied gemacht zwischen Dogma und Kultus, zwischen Gesetz und Disziplin? …
Das Walten des Heiligen Geistes in der Kirche beschränkt sich nicht lediglich auf die Abwehr dogmatischer Irrtümer und auf die Bewahrung der abstrakten Glaubensnorm; sondern es ist ein positives und allseitiges Wirken, welches das ganze Leben der Kirche trägt und durchdringt. Es steht dogmatisch fest, daß die Kirche das Werkzeug ist, durch welches der Heilige Geist das Werk der Heiligung in den einzelnen Menschen vollbringt; diese geschieht aber nicht etwa bloß durch die unfehlbare Predigt des Dogmas und durch die wirksame Mitteilung der Gnade in den heiligen Sakramenten, sondern auch durch die erziehende, zur Gnade disponierende und deren rechte Benutzung vermittelnde Tätigkeit in Kultus und Disziplin. …
Diese Überzeugung, daß die gottesdienstliche, disziplinäre und asketische Ordnung, daß nicht bloß die abstrakte Theorie, sondern auch die lebendige Praxis der Kirche nicht ein Werk menschlicher Erfindung oder des Zufalls, sondern ein Werk des Heiligen Geistes sei, flößt dem Katholiken jene tiefe Ehrfurcht und jenen heiligen Gehorsam gegen die Anordnungen und heiligen Gebräuche der Kirche ein, ohne welche das christliche und kirchliche Leben gar nicht gedeihen könnte. [vgl. die hl. Theresia v. Avila, die für eine einzige Rubrik ihr Leben zu geben bereit gewesen wäre.] …
Was aber die Geschichte der Kultus und und der Disziplin betrifft, so wollen wir nur das eine hervorheben, daß deren Ausbildung und Fortentwicklung niemals durch das, was man Zeitgeist nennt, ist influenziert worden; sondern daß sie stetig und konsequent aus dem tiefsten und innersten Geiste der Kirche hervorgegangen ist, äußerlich aber vermittelt wurde durch die auserwähltesten Organe und Träger dieses Geistes, durch jene großen Heiligen nämlich, welche Gott, als die von ihm bestimmten Regeneratoren der Christenheit, zur rechten Zeit zu senden nie unterlassen hat. Diese großen und wahren Reformatoren und Regeneratoren in der Kirche haben aber nie zu der kirchlichen Hierarchie in irgendwelcher Opposition gestanden; vielmehr waren sie die treuesten und demütigsten Gehilfen derselben, wenn sie nicht Gott selbst an die Spitze der Kirche gestellt hatte. Auch waren sie niemals Tadler und Verächter, sondern die gewissenhaftesten Verehrer und Beobachter aller bestehenden kirchlichen Gebräuche und Einrichtungen, und nicht solche aufzuheben oder einzuschränken, sondern zu vervollkommnen und weiter auszubilden war ihr Bestreben.“(zitiert nach Heinrich, „Dogmatische Theologie“, 1876, Bd. II S. 639f)
Wir können also sicher sein, es bei der vom heiligen Papst Pius V. kanonisierten und so viele Jahrhunderte in der römischen Kirche geübten Liturgie mit einem Werk des Heiligen Geistes zu tun zu haben, auf das wir uns in jeder Hinsicht verlassen können. Daher kann sie uns als Quelle dienen, um einige wesentliche Prinzipien der katholischen Liturgie daraus abzuleiten.
Zunächst ist festzuhalten, daß der eigentliche Vollzieher der katholischen Liturgie, ihr eigentlicher Liturge kein anderer ist als der Ewige Hohepriester selbst, Unser Herr Jesus Christus. Er ist es, der den göttlichen Kultus darbringt, und Er allein ist dazu in der Lage. Freilich läßt Er Seine Braut, die Kirche, daran teilhaben. Dennoch ist Er es, das Haupt, welcher die göttlichen Geheimnisse feiert, und darum kann nur der Klerus und namentlich der durch das Weihesakrament mit Christus vereinte Priester als Liturge „in persona Christi“ handeln. Der Priester vollzieht im Namen und Auftrag des Hohenpriesters die Liturgie, allein oder zusammen mit dem Klerus.
Unser Herr Jesus Christus ist aber nicht nur der Hohepriester, Er ist auch das Opfer, Er ist der Altar. Er und Sein Kreuzesopfer sind Höhepunkt und Inbegriff der Liturgie. Somit stehen im Mittelpunkt der Liturgie klar der Altar, der Tabernakel, das Kreuz, das heilige Meßopfer. Dem trugen auch die Kirchenbauten ganz selbstverständlich Rechnung.
Die Liturgie ist Gottesdienst, Gottesverehrung, göttlicher Kultus. Sie geschieht zur Ehre Gottes, sie richtet sich ganz an den dreifaltigen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Ihr Sinn kann nichts anderes sein als die Anbetung und Verherrlichung Gottes. Dennoch oder gerade deshalb dient sie zum Nutzen und Heil der Gläubigen, sie ist ihr Lob-, Dank-, Sühne- und Bittopfer. Darum wendet sich der Priester vor dem Eintritt in die Kanonstille zu den anwesenden Gläubigen und fordert sie auf: „Orate, fratres, ut meum ac vestrum sacrificium acceptabile fiat apud Deum Patrem omnipotentem. – Betet, Brüder, daß mein und euer Opfer wohlgefällig werde bei Gott, dem allmächtigen Vater.“
Das Opfer des Altares ist eben auch das Opfer der Kirche, das Opfer der Gläubigen. Inwiefern haben die Gläubigen Teil an diesem Opfer? Ihre Teilhabe ist wesentlich eine zweifache. Erstens nehmen sie teil durch ihr persönliches Opfer, ihren eigenen besonderen Anteil am Kreuz Unseres Herrn Jesus Christus, welcher ihnen zugemessen ist. In diesem Sinn spricht der heilige Paulus davon, daß er das, „was an Christi Drangsalen noch aussteht“, ergänzt an seinem Fleisch „zum Besten Seines Leibes, das ist die Kirche“ (Kol 1,24). Auch wir als Glieder am Mystischen Leib Christi haben unseren Teil an Seinem Kreuz zu tragen, das kann ein Leiden sein, eine besondere Aufgabe oder Schwierigkeit, die wir zu bewältigen haben, oder ganz einfach die Last der täglichen Mühen, was auch immer. Hier nun ist der Ort der Liturgie, wo wir unser Opfer mit dem Unseres Herrn Jesus Christus vereinen, wo wir uns mit Ihm auf den Altar legen, um mit dem göttlichen Opferlamm zusammen vom Ewigen Hohenpriester geopfert zu werden. Darum wird während der Opferung nach der Hostie und dem Kelch, welche bereits Leib und Blut Unseres Herrn Jesus Christus darstellen, die sie dann bei der Wandlung tatsächlich werden sollen, eine weitere Opfergabe auf den Altar gelegt mit den Worten: „In spiritu humilitatis et in animo contrito suscipiamur a te, Domine, et sic fiat sacrificium nostrum in conspectu tuo hodie, ut placeat tibi, Domine Deus. - Im Geiste der Demut und mit zerknirschtem Herzen mögen wir bei dir Aufnahme finden, Herr, und so möge unser Opfer heute vor deinem Angesicht dir wohlgefällig werden, Herr und Gott.“
Die Kirche bezieht sich hier auf den berühmten Bußpsalm des Königs David (Ps. 50), in welchem es heißt: „Denn Schlachtopfergaben gefallen dir nicht, und brächte ich Brandopfer dar, du möchtest es nicht. Opfer für Gott ist ein zerknirschter Geist; ein zerknirschtes und zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verschmähen“ (V. 18f). Ohne diesen zerknirschten und demütigen Opfergeist, mit welchem wir uns selbst mit der göttlichen Opfergabe auf den Altar legen, wäre das Opfer nicht vollständig. Das ist unsere wahre „tätige Teilnahme“.
Zweitens wird die Liturgie zu „unserem“ Opfer dadurch, daß wir in den Genuß ihrer Früchte gelangen. Haben wir uns mit Christus geopfert, so werden wir auch mit Ihm auferstehen (vgl. Röm 6,8). In der Kommunion dürfen wir uns mit dem verklärten Christus vereinigen und empfangen als kostbare Opferfrucht bereits das Unterpfand der künftigen Herrlichkeit!
Das sind die wesentlichen Prinzipien, wie sie in der römischen Liturgie ihre vollkommenste Ausprägung fanden, und ohne die eine katholische Liturgie schlechthin undenkbar ist. Keine Reform also, die diesen Namen verdient, kann an diesen Prinzipien vorübergehen oder ihnen gar widersprechen.
Wahre und falsche Reform: Unzeitgemäß oder Zeitgeist
Heinrich schreibt in seiner Dogmatik über wahre und falsche Reform: „Diese wahre Reform, welche stets in der Kirche und von der Kirche geübt wurde, bildet den vollen Gegensatz zu jenen falschen Reformen, wie sie je zu Zeiten von unkirchlicher oder häretischer Gesinnung gefordert und angestrebt wurden. Diese falsche Reform möchte nämlich die Kirche und ihre Einrichtungen dem jeweiligen Zeit- und Weltgeiste gleichförmig machen, während die echte kirchliche Reform gerade umgekehrt darauf gerichtet ist, den Geist der Welt und die wechselnden verderblichen unchristlichen Tendenzen der Zeiten durch den Geist Christi und der Kirche zu überwinden und die Kirche vor diesem Geiste der Welt, der stets in sie eindringen möchte, zu bewahren. Die echte Reform wird daher dem Weltgeiste stets unzeitgemäß scheinen und eben deshalb im besten Sinne zeitgemäß sein“ (Heinrich a.a.O. Bd. II S. 638f).
Der hl. Pius X. hatte, wie wir gesehen haben, eine wahre Reform begonnen, denn er nahm sie „im Geiste der Überlieferung in Angriff“, auch wenn er daneben klugerweise „dem vernünftigen Verlangen Rechnung“ trug, „den im Pfarrdienst stehenden Priestern die Belastung durch das Breviergebet zu erleichtern“. Leider sind jedoch viele andere Kirchenmänner, wie wir wissen, spätestens im 20. Jahrhundert der Versuchung erlegen, sich dem Zeit- und Weltgeist gleichförmig zu machen, und so wurde aus dem Vorhaben einer wahren letztlich eine falsche Reform. Der Zeitgeist nämlich war bereits seit dem „Humanismus“ und der „Renaissance“ der, den Menschen zu betonen und in den Mittelpunkt zu stellen, diesen als mehr oder weniger eigenständigen Partner gegenüber Gott zu betrachten, ja die Verhältnisse geradezu umzukehren, als sei nicht der Mensch Gottes wegen da, sondern Gott für den Menschen. Daß ein solcher Gott schließlich auch gänzlich verzichtbar wurde, war nur konsequent. Somit war man im 20. Jahrhundert auf dem Weg über die „Aufklärung“ mit ihrer „Autonomie der Vernunft“ längst beim „Hominismus“ angelangt, welcher den Mensch zum Maß aller Dinge macht.
Im Blick auf diesen „Zeitgeist“ konnte natürlich eine Reform der Liturgie, die obendrein eine „tätige Teilnahme“ der Gläubigen verlangte, nicht anders verstanden werden denn als eine völlige Umkrempelung des Bestehenden. Eine Kleriker- und Priesterliturgie konnte nur noch als Fehlentwicklung angesehen werden. Stille Messen, denen das Volk einfach nur innerlich betend und betrachtend folgt – oder sogar mit dem Rosenkranz in der Hand! – wurden zum Schreckgespenst der Liturgischen Bewegung schlechthin, die „Privatmesse“, vom Priester allein oder nur mit einem Ministranten am Seitenaltar zelebriert, zum Kapitalverbrechen. Wo blieb da die „tätige Teilnahme“? Eine Reform war dringend notwendig, die Liturgie der Kirche mußte auf die Bedürfnisse des modernen Menschen zugeschnitten werden, und das hieß zunächst, sie mußte annehmbarer, einfacher, verständlicher, weniger anspruchsvoll, dafür aber abwechslungsreicher werden.
Vor allem aber ging es nicht länger an, daß der Priester allein als Liturge tätig war. Waren nicht im Mystischen Leib Christi alle Christen Priester? Brachte nicht der Mystische Leib, die Kirche, als Ganzes das Opfer dar? Waren somit nicht auch die gläubigen Laien Mitvollzieher der Liturgie, galt nicht das „allgemeine Priestertum“ aller Gläubigen? Und war somit die Liturgie nicht in erster Linie eine Gemeinschaftsfeier, ohne Volk also gar nicht eigentlich denkbar? War also die Gemeinde, das Volk, nicht auch Adressat der Liturgie und daher unmittelbar anzusprechen? Wir sehen hier die aus dem Zeitgeist entnommenen neuen Prinzipien für eine falsche Reform der Liturgie, die nun zum Anliegen der „Liturgischen Bewegung“ wurde.
Die Liturgische Bewegung: Tätige Teilnahme der Gläubigen
Dialogisierte Messe
Bereits im Jahr 1884 hatte der Benediktinerpater Anselm Schott aus Beuron ein verkleinertes „Meßbuch der heiligen Kirche“ in lateinischer Sprache mit deutscher Übersetzung und Erklärungen für das Volk herausgegeben, welches „den Laien eine bewusstere Mitfeier der Heiligen Messe und des Kirchenjahres ermöglichen“ sollte (Wikipedia). Dieses an sich ehrenwerte Anliegen verhinderte nicht, daß damit gewissermaßen ein „Dammbruch“ geschah. Denn bis dahin war es eben der Priester gewesen, welcher von der Kirche befugt und beauftragt war, über das Missale zu verfügen und damit „die Messe zu lesen“, während die Gläubigen lediglich „die Messe hörten“. Nun hatten auch die Laien das römische Meßbuch in der Hand, das bis dato dem Priester vorbehalten geblieben war, und konnten „die Messe lesen“. Es ist bezeichnend, daß der Vatikan anfangs verlangte, daß wenigstens der Meßkanon, das eigentliche Geschehen der Messe also, welches der Priester in persona Christi vollzieht, aus dem „Schott“ entfernt wurde. Es blieb freilich nicht lange dabei.
Waren die Laien nun imstande, ebenfalls im Meßbuch zu lesen, so konnte es nicht fehlen, daß sie auch die Messe mitsprechen und nicht nur „hören“ sollten. So entstand im Rahmen der Liturgischen Bewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die „Gemeinschaftsmesse“, bei welcher die Gemeinde mit dem Priester zusammen die Messe betet, also alles, was bislang den Ministranten vorbehalten gewesen war wie Stufengebet und „Suscipiat“, außerdem „Kyrie“, „Gloria“ etc., und alle Antworten laut spricht. Bis dahin hatte es das nicht gegeben. Man kannte nur zwei Formen der Meßzelebration, nämlich die Stille Messe, französisch „Messe basse“, bei welcher der Priester leise bis halblaut die Messe las und der Ministrant ebenso respondierte, oder die gesungene Messe, das Amt, französisch „Messe haute“, bei welcher die Gesänge des Ordinariums, also „Kyrie“, „Gloria“ usw., sowie die Antworten wie „Et cum spiritu tuo“, manchmal auch das Proprium (Introitus, Zwischengesänge etc.) gesungen wurden, entweder von einem Chor allein oder wenigstens teilweise vom Chor zusammen oder abwechselnd mit den Gläubigen. Letzteres war, wie wir oben gesehen haben, auch die Vorstellung eines heiligen Pius X. von der „tätigen Teilnahme“ der Gläubigen, reichte aber den „liturgisch Bewegten“ nicht im Sinne ihres „allgemeinen Priestertums“.
Zur Einführung ihrer „Gemeinschaftsmesse“, die man heute auch „dialogisierte Messe“ nennt oder „missa recitata“, sowie ihrer sonstigen Ideen bediente sich die „Liturgische Bewegung“ ihrer engen Verzahnung mit der „katholischen Jugendbewegung“ und deren Verbänden, die ebenfalls um die Jahrhundertwende entstanden waren in Anlehnung an die damals ohnehin grassierende säkulare Jugendbewegung mit ihrer Hinwendung zu Naturleben und Gemeinschaftserleben („Wandervogel“), wie etwa Quickborn, der Bund Neudeutschland und der Katholische Jungmännerverband. Man hielt sich eben ganz gemäß der Weisung der „Alta Venta“ der Carbonari zur Unterwanderung der Kirche an die Jugend. So erinnert sich heute noch manch in Ehren ergrauter Katholik seiner Jugendzeit, als der jugend- und liturgisch bewegte Kaplan die jungen Leute um sich scharte und sie, Mädchen und Jungen im Chorraum stehend, mit ihm zusammen die Messe beten ließ – ein ungeheures und vielen unangenehmes Novum.
Da nun das Volk so intensiv in die Liturgie eingebunden und von dieser auch anzusprechen war, war es nur folgerichtig, daß im Sinne der besseren Verständlichkeit und leichteren Faßbarkeit die Volkssprache in die bis dato noch rein lateinische Liturgie eingeführt werden mußte. Auch dies war eines der vornehmsten Anliegen der „Liturgischen Bewegung“, wenngleich man sich anfangs noch im Hinblick auf die Form der Sakramente und vor allem in bezug auf die Hl. Messe zurückhielt und zunächst nur für die Spendung von Sakramentalien auf die Landessprache zurückgriff. Man konnte ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. So hätte man nichts erreicht. Scheibchenweise kam man viel schneller voran.
"Wiederherstellung" der Osternacht
„Privatmessen“ und Stille Messen wurden naturgemäß zurückgedrängt und vor allem verächtlich gemacht. Dafür forderte man wieder mehr „historische Wahrhaftigkeit“, so z.B. die Wiederherstellung der Osternacht als nächtliche Feier, eine der wichtigsten Forderungen der „Liturgischen Bewegung“.
Dies mag zunächst berechtigt erscheinen oder zumindest verständlich zu sein, übersieht jedoch den Charakter der Liturgie als geistiges Gebäude, das daher eine gewisse (Ver-)Klärung und, wenn man so will, Schematisierung, Abstraktion oder besser höhere Ordnung verlangt. So teilt die Liturgie den Tag nach den Horen des Breviers ein, wobei der liturgische Tag jeweils mit der Vesper endet und der neue beginnt („Es ward Abend, und es ward Morgen: ein Tag...“). In diese Ordnung gliedern sich auch die übrigen liturgischen Feiern ein. So ergab es sich, daß die Osternacht als Vigilfeier von Ostern, die also liturgisch zwischen dem Karsamstag und dem Ostersonntag ihren Platz hat, zwischen der Non des Karsamstags und der Vesper, mit welcher der Ostersonntag begann, angesetzt werden mußte. Hatte es sich auch in der Zwischenzeit eingebürgert, sei es aus praktischen Gründen (nicht zuletzt wegen des "Neuen Feuers", das in der Ostervigil geweiht und von den Ministranten mit dem "Judas", einem brennenden Kienspan, in die Häuser der Gläubigen getragen wurde, wo man es für Licht und Herd schon dringend erwartete), sei es wegen des Verbots aller Abendmessen einschließlich der Osternacht durch den hl. Pius V., die Feier der Ostervigil bereits am Morgen des Karsamstags zu begehen, so behielt sie doch auf diese Weise ihren liturgischen Platz bei. Erst ihre Verlegung in die Nacht brachte den ganzen liturgischen Bau durcheinander, wie wir noch sehen werden.
Gegner der Liturgischen Bewegung
Besondere Fortschritte machte die Liturgische Bewegung in Deutschland merkwürdigerweise gerade in der Zeit der Unterdrückung der Kirche durch den Nationalsozialismus und während des II. Weltkrieges. Es erhoben sich gegen 1940 auch einige mahnende Stimmen, welche die Gefahren erkannten, die in den Bestrebungen um liturgische Reformen lagen. Zwar anerkannten auch sie die vielfach guten Absichten und den Eifer, der dieser Bewegung zugrunde lag, sahen jedoch auch die Abwege, auf welche sie geraten war. Zu den Kritikern gehörte der Volksmissionar Max Kassiepe OMI, August Dörner mit seinem Buch „Sentire cum Ecclesia“ und vor allem der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, der in seinem berühmt gewordenen Memorandum vom 18. Januar 1943 sehr hellsichtig viele Fehlentwicklungen benannte, die tatsächlich zu der heutigen kirchlichen Katastrophe geführt haben, darunter auch solche der „Liturgischen Bewegung“.
So zeigt sich der Erzbischof etwa beunruhigt über „die Überbetonung des allgemeinen Priestertums auf Kosten des sakramentalen“. Er bezieht sich auf die Theorien eines Autors der „Liturgischen Bewegung“, aus welchen er folgert: „Die Gemeinde ist also unverkennbar beim Gottesdienst das primäre wie beim protestantischen Gottesdienst … Man erklärt weiter die Beteiligung der Gemeinde an der heiligen Messe als einen 'priesterlichen Akt' und betrachtet ihn sogar sporadisch, im Widerspruch mit dem Konzil von Trient (Denzinger 955), als zur Gültigkeit der heiligen Messe notwendig, was logisch verständlich ist, wenn man in der Gemeinde die 'Trägerin des Gottesdienstes' erkennt. Oder man beurteilt den 'priesterlichen Akt' der Gemeinde wenigstens als eine Ergänzung, die der Urkirche eigentümlich gewesen sei. Folgerichtig wird auch davon gesprochen, daß die Privatmesse – trotz ihres ausdrücklichen Schutzes durch das Tridentinum und die Entscheidung Pius' VI. gegen die Synode von Pistoja (Denzinger 1528) – als eine Art 'Fehlentwicklung' gekennzeichnet werden müsse und sich nur als eine unerwünschte Erscheinung erhalten könne. Man vergißt, daß gerade in der Urkirche das sakramentale Priestertum (episcopi et presbyteri) ausschließlich das heilige Meßopfer darbrachte … und daß es dem Volk lediglich überlassen war, mit 'Amen' zu respondieren.“
Beunruhigt zeigt sich Gröber auch über „die neuerdings besonders stark vertretene These vom Mahlopfer und Opfermahl“, über „die Überbetonung des Liturgischen“ und „das Bestreben, die Gemeinschaftsmesse in ihren verschiedenen Formen durch allgemeingültige oberhirtliche Vorschriften pflichtgemäß zu machen“. Er stellt fest, „daß die Neuliturgiker gerade in der Gemeinschaftsmesse den Ausdruck ihrer Anschauungen über das allgemeine Priestertum und die Betonung der Laienrechte auf die Mitwirkung beim heiligen Meßopfer erblicken“. Demgegenüber betont er: „Tatsächlich liegt die Sache so: Der oberste Liturge ist der verklärte Christus. Auf Erden aber ist der Träger des Gottesdienstes das von ihm eingesetzte katholische Priestertum und nicht die christliche Gemeinde.“
Schließlich beunruhigt ihn auch „das Bestreben, nicht etwa nur mehrere Gebete bei der Spendung der heiligen Sakramente zu verdeutschen, … sondern dem Volk, ungeachtet des non expedire des Konzils von Trient..., durch die Einführung der deutschen Sprache sogar in der heiligen Messe entgegenzukommen.“ Er spricht von jenen, die, „verleitet von einer falschen Idee des allgemeinen Priestertums – mit dem Gedanken an eine deutschgelesene Messe liebäugeln“, und erinnert daran, „daß die lateinische liturgische Sprache eines der heiligsten und stärksten Bänder ist, die uns Katholiken der ganzen Welt mit Rom und untereinander verknüpfen“, und „daß die Forderung der heiligen Messe in der Landessprache fast zum 'eisernen Bestand' der meisten Häresien zählt“.
Die Liturgische Bewegung dringt nach Rom
Leider stand Erzbischof Gröber mit seiner Klarsicht im deutschsprachigen Episkopat, der sich mehr und mehr der „Liturgischen Bewegung“ und ihrer Anliegen annahm, ziemlich allein. Im allgemeinen standen die Bischöfe der Bewegung wohlwollend bis zustimmend gegenüber, übernahmen sogar deren Führung und versuchten auch in Rom, wo man mittlerweile ebenfalls auf diese Bewegung aufmerksam geworden war, entsprechend Einfluß zu nehmen, zumal Papst Pius XII., der selbst jahrelang als Nuntius in Deutschland gewesen war, ein offenes Ohr zeigte. So schrieben denn auch die „Liturgische Bewegung“ und die deutschsprachigen Bischöfe seine Enzykliken „Mystici Corporis“ und mehr noch „Mediator Dei“ als Siege auf ihre Fahnen, obwohl der Papst darin versucht hatte, einigen Auswüchsen der „Liturgischen Bewegung“ zu begegnen und ihre gefährlichsten Klippen zu umgehen.
Das Lexikon für Theologie und Kirche (1963) faßt die Ereignisse so zusammen: „Die gemeinschaftsstiftende und in einem umfassenden Sinn religiös erneuernde Bedeutung der Liturgischen Bewegung zeigte sich besonders während der nationalsozialistischen Unterdrückung, in der Not des 2. Weltkrieges und im Flüchtlingselend der Nachkriegszeit. Unterdessen hatte um 1940 die Entwicklung der L.B. in Deutschland, Übertreibungen auf der einen Seite, allzu starres Festhalten auf der anderen Seite [Anm.: Hier sind wohl die Interventionen von Kassiepe, Dörner und Gröber gemeint.], zu einer ernsten Kontroverse geführt; durch die kluge Haltung der Bischöfe, welche die Führung der L.B. übernahmen, und des Heiligen Stuhles (Enzyklika Mystici Corporis vom 29.6.1943, Schreiben des Staatssekretariats vom 24.12.1943 an Kardinal Bertram) wurde sie glücklich überwunden. … Auch der Hl. Stuhl wandte sich nun im verstärkten Maße (prüfend, hie und da hemmend, im ganzen aber fördernd) den Anliegen der L.B. zu. Pius XII. schenkte ihr in der Enzyklika Mediator Dei vom 20.11.1947 die Magna Charta libertatis, griff die Liturgiereform Pius' X. auf und führte sie fort (Approbation zahlreicher Ritualien mit muttersprachlichen Texten und Gesängen, neue lateinische Psalmenübersetzung aus dem Urtext, Erneuerung der Osternacht und der Heiligen Woche, die Rubriken-Vereinfachung, Abendmesse, Erleichterung des eucharistischen Nüchternheits-Gebotes; Enzyklika Musicae sacrae disciplina und Instruktion der SC Rit. De musica sacra et sacra liturgia).“
Damit sind wir mit unserer „liturgischen Reform“ wieder in Rom angelangt, wo nun unter Pius XII. das entscheidende Kapitel beginnt.