Die Hermeneutik der Reform

Welcher „Tradition“ ist das „II. Vatikanum“ verpflichtet?

„Der katholische Staat? Gott sei Dank: Den sind wir los!“ Unter diesem Titel erschien im „Vatican-Magazin“, 7. Jahrgang, Heft 11, November 2013, ein Gespräch des Magazin-Chefredakteurs Guido Horst mit Martin Rhonheimer, seines Zeichens Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, der im vorigen Jahr ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel „Christentum und säkularer Staat“. „Der Islam muss sich ändern. Die katholische Kirche aber nicht. Mit dem Zweiten Vatikanum ist sie zum Gründungscharisma des Christentums und zur Tradition des Evangeliums, der Apostel und der Kirchenväter zurückgekehrt.“ So faßt die Überschrift über dem Artikel die Thesen des Philosophen kurz zusammen.

Die Hermeneutik der Reform: Diskontinuität und Kontinuität

Professor Rhonheimer charakterisiert zunächst den säkularen Staat in Abgrenzung zum konfessionellen oder auch dem antireligiösen Staat dadurch, „dass er selbst keine bestimmte religiöse Position bezieht, nicht aber dass er Religion bekämpft, auch nicht Äußerungen von Religion im öffentlichen Raum“. Dieser moderne, säkulare Staat, so „eine der Hauptthesen meines Buches“, sagt der Philosoph, ist „gerade auf dem Humus des Christentums gewachsen“. Denn nur dort sei die „klare Scheidung von Politik und Religion“ beheimatet, gemäß dem Wort des Heilands: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört.“

Die „Idee des konfessionellen Staates“ sei eine „spezifisch moderne Idee“, eigentlich und ursprünglich eine „politische Friedensformel, mit der die konfessionellen Bürgerkriege des siebzehnten Jahrhunderts beendet werden konnten“. „Mit der Lehre des Zweiten Vatikanums über die religiöse Neutralität des Staates und das Recht auf Religionsfreiheit ist die katholische Kirche zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, zur Tradition des Evangeliums, der Apostel, der ersten Christen und der Väter“. Die „Konzeption des katholischen Staates“ finde hingegen „keine Grundlage in der Tradition der Schrift, der Apostel und der Väter“.

Der Herr Professor beruft sich ausdrücklich auf Benedikt XVI. und dessen denkwürdige „Weihnachtsansprache an die römische Kurie im Dezember 2005“ von der berühmten „Hermeneutik der Reform“ (meist falsch und unzutreffend als „Hermeneutik der Kontinuität“ bezeichnet) und faßt diese wie folgt zusammen: „Die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass sich die Kirche in ihrem Selbstverständnis geändert hat. Sie versteht sich immer noch als die gleiche eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, gegründet auf das Firmament der Apostel und mit einem göttlichen Auftrag. Was sich geändert hat, ist das Verständnis des Verhältnisses der Kirche zur Welt. Hier gibt es eine Diskontinuität bezüglich der Vergangenheit, betonte Benedikt. Das ist, was die Traditionalisten nicht anerkennen wollen. Benedikt sprach in diesem Zusammenhang von einer 'Hermeneutik der Reform', mit der das Konzil verstanden werden müsse. Reform sei das Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität, auf verschiedenen Ebenen, so hatte er betont: Kontinuität in den geoffenbarten und von der Kirche immer gelehrten Prinzipien des Glaubens und der Moral; Diskontinuität auf der Ebene der konkreten historischen Anwendungen und lehrmäßigen Ausgestaltung dieser Prinzipien.“

Die Kirche, so der Philosoph weiter, sei „im Laufe der Geschichte im Wesentlichen ihrem Auftrag treu geblieben“, habe aber „ihre Beziehungen zu den weltlichen Gewalten“ aufgrund „verschiedenster historischer Konstellationen“ oft in einer Weise geformt, „die sich vom Gründungscharisma des Christentums – Scheidung von Politik und Religion – oft in wesentlichen Punkten wegbewegte, was auch nicht ohne Einfluss auf die Theologie bleiben konnte“. „Mit der Erklärung über die Religionsfreiheit hat nun die Kirche ihren Willen bekundet, alten Ballast abzuwerfen und zur Tradition des Evangeliums, der Apostel und der Väter zurückzukehren. Auch das tat sie aber auf dem Konzil aufgrund derselben Prinzipien, denen sie im Laufe der Geschichte immer treu geblieben war: Scheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt und die libertas Ecclesiae, die Freiheit der Kirche von allen weltlichen Mächten – und damit die 'Entweltlichung der Kirche', wie Benedikt dann formulierte“.

Soweit der Herr Professor, und uns scheint, daß er hiermit auch die Gedanken „Papst Ratzingers“ von dessen „Hermeneutik der Reform“ sehr gut wiedergegeben hat. Wir dürfen den Gedankengang noch einmal kurz zusammenfassen: Das Grundprinzip der Kirche ist die Scheidung von Politik und Religion. Sie hat darum vor allem immer um ihre „Freiheit von allen weltlichen Mächten“ zu kämpfen gehabt, die immer wieder versucht haben, die Kirche für sich zu vereinnahmen oder zu unterdrücken. Dies gelang mal mehr, mal weniger, führte je nach Konstellation auch einmal zu einem Wegbewegen der Kirche von ihrem „Gründungscharisma“ oder Grundprinzip. Im letzten jedoch blieb sich die Kirche treu und fand nach den ursprünglich als „Friedensformel“ im 17. Jahrhundert entstandenen konfessionellen Staatenbildungen auf dem II. Vatikanum endlich zu ihrer eigenen „Tradition des Evangeliums, der Apostel und der Väter“ zurück, nämlich der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat. Gerade im Bruch mit der historisch bedingten Fehlentwicklung des katholischen Staates zeigte sich ihre Kontinuität mit ihren überlieferten Wurzeln. Das ist das, „was die Traditionalisten nicht anerkennen wollen“.

Die Tatsache der Diskontinuität oder des Bruches

In der Tat hätte die Diskontinuität nicht deutlicher ausfallen können, als sie sich gerade auf dem II. Vatikanum zeigte. Denn unmittelbar bevor dieses mit „Dignitatis humanae“ die Religionsfreiheit und den religiös neutralen Staat auf seinen Schild hob, hatte man ein Dokument verworfen, welches von der Vorbereitenden Konzilskommission unter Kardinal Ottaviani als Schema über das Verhältnis von Kirche und Staat entworfen worden war, um dem Konzil zur Verabschiedung vorgelegt zu werden. Darin lesen sich die Dinge nun tatsächlich ganz anders.

Zunächst wird auch in diesem Dokument freilich festgestellt, daß Kirche und Staat klar unterschiedene, je eigenständige Gesellschaften sind. Jede von ihnen „besitzt die notwendigen Befugnisse, um ihre eigene Mission in gehöriger Weise zu erfüllen“, und „jede ist auch vollkommen, das heißt sie steht in ihrer Ordnung an der Spitze und ist also unabhängig von der anderen und Inhaberin der gesetzgebenden, gerichtlichen und exekutiven Gewalt“. „Diese Unterschiedenheit der beiden Gemeinwesen, wie eine ständige Tradition sie lehrt, beruht auf den Worten des Herrn: 'Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist'“ (Mt. 22,21). Aha, also doch Kontinuität!

Doch gleich etwas weiter heißt es: „Da indessen diese beiden Gesellschaften ihre Gewalt über dieselben Personen ausüben und oft in Bezug auf denselben Gegenstand, können sie einander nicht ignorieren; sie müssen sogar in vollkommener Harmonie vorgehen, damit sie selbst nicht minder als ihre gemeinsamen Mitglieder gedeihen.“ Darum erklärt das Konzil „an allererster Stelle die Verpflichtung daran festzuhalten, daß sowohl die Kirche als die bürgerliche Gesellschaft zum Nutzen des Menschen eingesetzt worden sind; daß jedoch das der Sorge der bürgerlichen Gewalt anvertraute zeitliche Glück für den Menschen nichts wert ist, wenn er dabei seine Seele verliert (vgl. Mt. 16,26; Mk. 8,36; Lk. 9,25). Daß folglich der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft nie verfolgt werden darf, indem der letzte Zweck ausgeschlossen oder verletzt wird, nämlich das ewige Heil.“

Aus diesem Prinzip werden nun die Konsequenzen gezogen, und zwar zunächst für die Kirche. Für sie ergibt sich, daß sie sich „nicht mit den zeitlichen Realitäten befaßt, es sei denn insoweit, als diese auf den übernatürlichen Zweck hingeordnet sind“. Was nämlich „die ebenso auf den Zweck der Kirche wie auf den des Gemeinwesens hingeordneten Akte betrifft wie Ehe, Kindererziehung und anderes dergleichen, so müssen die Rechte der bürgerlichen Gewalt auf solche Weise ausgeübt werden, daß nach dem Urteil der Kirche die höheren Güter der übernatürlichen Ordnung keinerlei Schaden erleiden“. Jedoch in „die übrigen Aktivitäten, die, unbeschadet des göttlichen Gesetzes, mit gutem Recht auch auf verschiedene Weise ins Auge gefaßt oder ausgeführt werden können, mischt die Kirche sich in keiner Weise ein“. Das ist die wahre "Entweltlichung". (Leider erleben wir heute oft das Gegenteil. Die Bischöfe mischen sich nur allzu gerne in rein politische, besonders finanzpolitische Fragen ein, während sie etwa zu Fragen von Familie und Ehe schweigen.) Insbesondere hält es die Kirche „nicht für ihre Sache, eine Regierungsform oder Institutionen zu wählen, die dem zivilen Bereich der christlichen Völker angehören; von den verschiedenen Regierungsformen mißbilligt sie keine unter der Bedingung, daß Religion und Moral unangetastet sind“. (Auch hier halten es die Kirchenvertreter heute leider meist anders, indem sie meinen, es sei ihre Pflicht, die Demokratie als einzig christliche Regierungsform überall zu fördern und anzumahnen.)

Die Kirche bringt dem Staat großen Nutzen, denn sie „arbeitet ja selbst daran mit, daß die Bürger durch ihre Tugend und ihre christlichen Frömmigkeit gut werden; und wenn sie so sind, wie die christliche Lehre es befiehlt, wird ... ohne jeden Zweifel das öffentliche Wohl in Blüte stehen“. Auch erlegt die Kirche den Bürgern „die Verpflichtung auf, den legitimen Befehlen zu gehorchen“, und zwar nach Anweisung des hl. Paulus „um des Gewissens willen“ (Röm. 13,5), wie sie jedoch gleichzeitig die Regierungen auf die Verpflichtung hinweist, „ihr Amt auszuüben nicht aus Machtwillen, sondern zum Wohl der Bürger, da sie vor Gott Rechenschaft ablegen müssen (vgl. Hebr. 13,17) über ihre von Gott empfangene Gewalt“. Und schließlich „prägt die Kirche die Befolgung sowohl der natürlichen als der übernatürlichen Gesetze ein, dank welcher die gesamte bürgerliche Ordnung sowohl unter den Bürgern als unter den Nationen in Frieden und Gerechtigkeit verwirklicht werden kann“. (Gerade eine Demokratie, welche ja von den Tugenden ihrer Bürger lebt, könnte der Kirche also nur dankbar sein.)

Aber auch für die bürgerliche Gewalt ergeben sich religiöse Pflichten, denn sie „kann hinsichtlich der Religion nicht gleichgültig sein“. „Von Gott eingesetzt, um den Menschen zu helfen, eine wahrhaft menschliche Vollkommenheit zu erwerben, muß sie ihren Untertanen nicht nur die Möglichkeit liefern, sich die zeitlichen Güter – seien es materielle, seien es geistige – zu verschaffen, sondern auch den Zufluß der geistlichen Güter fördern, die ihnen erlauben, auf religiöse Art ein menschliches Leben zu führen. Nun aber ist unter diesen Gütern nichts wichtiger, als Gott zu erkennen und anzuerkennen, ferner seine Pflichten gegen Gott zu erfüllen: denn hierin besteht die Grundlage jeder privaten und mehr noch jeder öffentlichen Tugend.“ Das ist eine klare Absage an den „Indifferentismus“, die „religiöse Neutralität“ des Staates.

Diese Pflichten gegen Gott verpflichten obendrein „nicht nur jeden Bürger gegenüber der göttlichen Majestät, sondern auch die bürgerliche Gewalt, welche bei den öffentlichen Akten die bürgerliche Gesellschaft verkörpert“. Denn auch diese hat Gott zum Urheber und ist verpflichtet, Ihn zu ehren und Ihm zu dienen, und zwar auf jene Weise, „welche Er selbst als verpflichtend bestimmt hat, nämlich in der wahren Kirche Christi“. Und daß „die bürgerliche Gewalt die Fähigkeit hat, die wahre Kirche Christi zu erkennen, ist klar: Sie kann dies aufgrund der offenkundigen Zeichen ihrer göttlichen Einsetzung und Sendung, welche Zeichen der Kirche von ihrem göttlichen Gründer gegeben worden sind“. Sie ist somit verpflichtet, die Offenbarung anzunehmen und ihre Gesetze sowohl nach dem natürlichen Sittengesetz als auch nach den positiven Gesetzen, den göttlichen und den kirchlichen, zu bestimmen.

Die bürgerliche Gewalt muß „die volle Freiheit der Kirche auf ganz spezielle Art schützen“ und „aus Gesetzgebung, Regierung und öffentlicher Aktivität alles ausschließen, was nach ihrer Beurteilung die Kirche hindern könnte, ihr ewiges Ziel zu erreichen“. Ja „mehr noch, sie muß sich befleißigen, ein Leben nach christlichen und jenem erhabenen Ziel, für welches Gott die Menschen geschaffen hat, absolut konformen Grundsätzen zu erleichtern“. Da sind wir offensichtlich weit von der Befürwortung eines religiös neutralen, säkularen Staates.

Die dargelegte Doktrin ist nun verschieden anzuwenden, „je nach der Art, wie weit die das Volk persönlich repräsentierende bürgerliche Gewalt von Christus und der von Ihm gegründeten Kirche Kenntnis hat“. In einem katholischen Gemeinwesen, „wo die Bürger nicht nur getauft sind, sondern den katholischen Glauben bekennen“, soll das Leben nach der freien Wahl seiner Bürger auch „gemäß den katholischen Grundsätzen geformt“ werden. „Dennoch ist es selbst unter diesen glücklichen Bedingungen der bürgerlichen Gewalt in keiner Weise erlaubt, die Gewissen zu zwingen, den von Gott geoffenbarten Glauben anzunehmen.“ Denn es ist stets der Grundsatz der Kirche gewesen, daß der Glaube wesentlich frei ist und „nicht Gegenstand irgendwelchen Zwanges sein“ kann, wie dies sogar der Codex Iuris Canonici festhält (can 1351).

„Das hindert jedoch nicht, daß die bürgerliche Gewalt die erforderlichen geistigen, sozialen und moralischen Bedingungen schaffen muß, damit die Gläubigen, auch die weniger gebildeten, leichter im empfangenen Glauben verharren. Ebenso also, wie die bürgerliche Gewalt sich für berechtigt hält, die öffentliche Moral zu schützen, ebenso kann die bürgerliche Gewalt, um die Bürger vor der Verführung des Irrtums zu schützen, um das Gemeinwesen in der Glaubenseinheit, die das höchste Gut und Quelle vielfacher auch zeitlicher Wohltaten ist, zu erhalten, von sich aus die öffentlichen Bekundungen anderer Kulte regeln und beschränken und ihre Bürger gegen falsche Lehren verteidigen, die nach dem Urteil der Kirche ihr ewiges Heil in Gefahr bringen.“

Freilich gilt es bei diesem Schutz des wahren Glaubens „nach den Erfordernissen der christlichen Liebe und Klugheit vorzugehen, damit die Dissidenten nicht von der Kirche abgeschreckt, sondern vielmehr von ihr angezogen werden und weder das Gemeinwesen noch die Kirche irgend einen Schaden erleidet“. Darum kann der bürgerlichen Gewalt unter Umständen „sogar durch Gesetze verbürgte Toleranz auferlegt sein“, und zwar „einmal, um größere Übel wie ein Ärgernis oder einen Bürgerkrieg, das Hindernis für die Bekehrung zum wahren Glauben, oder andere Übel dieser Art zu vermeiden, und weiter, um ein größeres Gut zu verschaffen wie etwa die bürgerliche Zusammenarbeit und friedliche Koexistenz der Bürger verschiedener Religionen, größere Freiheit für die Kirche und wirksamere Erfüllung ihrer übernatürlichen Sendung und andere Güter dieser Art“. Das eben ist die religiöse Toleranz, durch welche die katholische bürgerliche Gewalt das Beispiel der göttlichen Vorsehung nachahmt, „die Übel zuläßt, aus denen sie den Vorteil größerer Güter zieht“. „Diese Toleranz ist vor allem in den Ländern zu beobachten, wo seit Jahrhunderten nichtkatholische Gemeinschaften bestehen.“ Soviel zum katholischen Staat, mit dem es nun ja „Gott sei Dank“ vorbei ist.

In nichtkatholischen Gemeinwesen, wo also „ein großer Teil der Bürger nicht den katholischen Glauben bekennt oder nicht einmal von der Tatsache der Offenbarung weiß, muß die nichtkatholische bürgerliche Gewalt sich in religiösen Dingen wenigstens den Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes anpassen“. Sie muß „allen Kulten, die sich nicht der natürlichen Religion entgegenstellen, die bürgerliche Freiheit einräumen“. „Diese Freiheit widerspricht sodann nicht den katholischen Grundsätzen, da sie ebenso dem Wohle der Kirche als dem des Staates ansteht.“ Die katholischen Bürger solcher Staaten haben die Pflicht, „durch ihre bürgerlichen Tugenden und Handlungen, mit denen sie im Verein mit ihren Mitbürgern das Gemeinwohl des Staates befördern, zu erreichen, daß man der Kirche die volle Freiheit gewährt, ihre göttliche Sendung zu erfüllen“. Denn diese Freiheit ist dem Gemeinwohl in jeder Hinsicht förderlich.

Zum Schluß anerkennt das heilige Konzil, „daß die Prinzipien der wechselseitigen Beziehungen zwischen der kirchlichen Gewalt und der bürgerlichen Gewalt nicht anders angewandt werden dürfen als nach der oben dargelegten Regel“. Es ist nicht gestattet, „daß eben diese Prinzipien durch irgend einen falschen Laizismus verdunkelt werden, auch nicht unter dem Vorwand des Gemeinwohls“. „Diese Prinzipien beruhen nämlich auf den absolut festen Rechten Gottes, auf der unveränderlichen Verfassung der Mission der Kirche sowie auch auf der sozialen Natur des Menschen, welche, alle Jahrhundert hindurch immer dieselbe bleibend, selbst den wesentlichen Zweck der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, ungeachtet der Verschiedenheit der politischen Regierungsformen und der übrigen Wechselfälle der Geschichte.“

Potzblitz! Das klingt nun doch ganz anders als die These von Rhonheimer und Ratzinger, wonach gerade der Bruch mit dieser Lehre wieder zu den eigentlichen Prinzipien und dem „Gründungscharisma“ der Kirche, zur „Tradition des Evangeliums, der Apostel, der ersten Christen und der Väter“ zurückgeführt habe. Wer hat nun recht?

Die wahre Kontinuität

Bischof Antonio de Castro-Mayer schrieb in den 1980er Jahren einen Artikel, der folgendes enthüllte:

Am 8. Dezember 1869 wurde in Rom das (I.) Vatikanische Konzil eröffnet. Am gleichen Tag eröffnete Ricciardi, ein Abgeordneter aus Savoyen, in Neapel das „Freimaurer-Gegenkonzil“, dem Freimaurer aus ganz Europa angehörten. Unter ihnen stachen hervor Männer wie Victor Hugo, Edgar Quinet, Michelet und Giuseppe Garibaldi, der Zerstörer der weltlichen Macht des Papstes. Papst Pius IX. hatte die Absicht, den Glauben der Katholiken gegen das Einwirken von Rationalismus und Naturalismus zu stärken, die dem katholischen Volk von der Französischen Revolution aufgedrängt worden waren. Das Ziel der Freimaurer war, das Werk Pius' IX. zu bekämpfen. Ricciardi fasst die Aufgabe des Freimaurerkonzils mit diesem Satz zusammen : „Im Namen des heiligen Grundsatzes der Gewissensfreiheit erklären wir gegen die Verblendung und Lüge in Gestalt der katholischen Kirche, vor allem in Form des Papsttums, einen immerwährenden Krieg.“

Am 16. Dezember veröffentlichte das Freimaurerkonzil seine Beschlüsse : Selbständigkeit des Staates gegenüber der Religion, Abschaffung der Staatsreligion, religiöse Neutralität im Erziehungswesen, Unabhängigkeit von Sitte und Moral in Bezug auf die Religion.
Die italienische Zeitschrift „Chiesa Viva“ berichtet uns folgendes bezüglich des Freimaurerkonzils von 1869 und des „II. Vatikanischen Konzils“, das kaum ein Jahrhundert später stattfand (Novemberausgabe 1984) : Wer bei den Dokumenten des Vat. II den § 75 der Konstitution „Gaudium et Spes“ betrachtet und im besonderen die Erklärung „Dignitatis humanae“ über die Religionsfreiheit, dem muss auffallen, dass das Konzil die wichtigsten Grundsätze des Gegenkonzils von 1869 aufgenommen hat und, ob man will oder nicht, die ideale Fortsetzung dessen darstellt, was sich dem Vaticanum I und dem Syllabus widersetzt. Und wieder einmal kann man feststellen, dass Vatikan II im Mittelpunkt der Kirchenkrise steht.

(Monitor Campista, 10. März 1985; Heri et Hodie, N° 59, November 1988)

Sollte es also vielleicht sein, daß das „II. Vatikanum“ gar nicht wirklich zur „Tradition des Evangeliums, der Apostel, der ersten Christen und der Väter“ zurückgekehrt ist, sondern eine ganz andere „Kontinuität“ hergestellt hat, daß es nicht die Fortsetzung von Vaticanum I gewesen ist, sondern die des damals parallel dazu abgehaltenen Freimaurer-Konzils? Offensichtlich ist das die wahre „Tradition“ und „Kontinuität“, in welche sich dieses „Konzil“ einordnet, in die Tradition des immerwährenden Krieges der Freimaurer „gegen die Verblendung und Lüge in Gestalt der katholischen Kirche, vor allem in Form des Papsttums“, in die Kontinuität jener falschen, revolutionären und liberalen Prinzipien, die von den Päpsten stets verurteilt worden sind.

Umso unverständlicher erscheint es, daß nicht nur „Konservative“ wie die Macher des „Vatican-Magazin“, sondern selbst sog. „Traditionalisten“ heute diese „Diskontinuität“, die in Wahrheit die Zerstörung der katholischen Prinzipien und des katholischen Glaubens bedeutet, nicht mehr wahr- oder zumindest nicht mehr ernst nehmen. Da sind zum einen die aus dem „Ecclesia Dei“-Lager, die ohnehin das II. Vatikanum als katholisches Konzil annehmen müssen und daher die Religionsfreiheit und die religiöse Neutralität des Staates verteidigen, als sei diese Freimaurer-Doktrin die Lehre der katholischen Kirche. Und sie merken nicht, daß sie damit längst aufgehört haben, katholisch zu sein.

Da sind aber auch jene „Traditionalisten“ aus dem angeblich konzilskritischen Lager, welche gleichwohl behaupten, das Konzil habe keine eigentliche Häresie verkündet, 95 Prozent dieses Konzils seien ohnehin annehmbar, die von diesem verkündete Religionsfreiheit sei „sehr, sehr begrenzt – very, very limited“. Ja, ein Führer dieser Bewegung verstieg sich sogar zu der Aussage: „Die gesamte Tradition des katholischen Glaubens muß das Kriterium und der Führer zum Verständnis der Unterweisungen des 2. Vatikanischen Konzils sein, das selbst wiederum gewisse Aspekte des Lebens und der Lehre der Kirche beleuchtet – d.h. nachträglich vertieft und verdeutlicht – die implizit in ihnen enthalten oder noch nicht begrifflich formuliert sind“ (Mgr. Fellay in seiner berühmten "Doktrinalen Erklärung" vom 15. April 2012).

Das heißt doch wohl nichts anderes, als daß er dieses „Konzil“ als in der Tradition der katholischen Kirche stehend begreift und nicht mehr sieht, daß es in einer ganz anderen Tradition begründet ist. Das heißt, daß er nicht mehr sieht, welche radikale Häresie die Religionsfreiheit bedeutet: Sie leugnet nämlich die beiden Titel der Königsherrschaft Unseres Herrn Jesus Christus über die ganze Welt, jeden einzelnen und die ganze Gesellschaft, als da sind Seine Gottheit und Sein Erlösertum. Jesus Christus ist die zweite Person der dreifaltigen Gottheit, welche die Welt erschaffen hat; somit ist sie Sein Eigentum. Er ist der Erlöser, welcher die Welt, jeden einzelnen, die Völker und Staaten, mit Seinem Erlöserblut erkauft hat; somit ist alles Sein. Was kann man noch mehr leugnen? Welche Häresie könnte radikaler sein? Aber 95 Prozent dieser Häresie kann man ja annehmen, da sie „sehr, sehr begrenzt“ ist...

Die „Religionsfreiheit“ des „II. Vatikanums“ ist sicher der Punkt, an dem sich die Geister scheiden, für oder gegen Christus. „Wer nicht mit mir ist, ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“ (Lukas 11,23; Matthäus 12,30). Wir haben die Wahl…