„Traditionalisten“ in Gefahr

Die Kirchenkrise und ihre Turbulenzen

Strategien zur Bewältigung der Krise

Daß es so etwas wie eine „Krise der Kirche“ geben mag, welche wir derzeit erleben, wird mittlerweile von vielen, teilweise sehr divergierenden Richtungen und Gruppen erkannt und zugegeben. Worin freilich diese „Krise“ bestehe, darüber gehen die Ansichten doch sehr weit auseinander. Die einen verorten das Problem ganz außerhalb der Kirche, sehen es in der modernen, der „säkularen Welt“, in der wir leben, im „Globalismus“ und vielen anderen derartigen Erscheinungen. Andere sehen ein, daß die Ursache doch eher im Inneren der Kirche liegen muß und jene äußeren Probleme durchaus in einer Wechselbeziehung damit stehen, d.h. zum Teil wenigstens gerade durch die „Krise“ der Kirche mit verursacht wurden. Doch besteht da wieder Uneinigkeit darin, wo genau wir in der Kirche nach der Quelle zu suchen haben. Sind es die „Modernisten“, linke Laien-Gruppierungen wie „Wir sind Kirche“ oder „ZdK“, sind es die Professoren, aufsässige Pfarrer, einige progressistische Bischöfe gar oder vielleicht sogar gewisse sich dem Papst widersetzende Kardinäle? Oder ist auch dies alles wieder mehr Folge und Erscheinung der „Krise“ als deren Ursache?

Für die hell- und einsichtigsten unter den Katholiken ist es evident, daß die „Krise“ nur eine Ursache haben kann. Sie ist so fundamental, daß sie auch nur im Fundament der Kirche selbst ihren Ursprung haben kann, und dieses Fundament ist Petrus, der Fels, auf dem Unser Herr Jesus Christus Seine Kirche errichtet hat. Die heutige „Krise“ der Kirche ist nicht nur eine Krise der Welt, nicht nur eine des katholischen Kirchenvolks, seiner Priester oder Bischöfe, nein, sie ist eine Krise des Papsttums. Wir müssen es erleben, daß das höchste, unfehlbare Lehramt der Kirche, diese große Wohltat, dieses größte Geschenk des Heilands an uns arme Menschen, praktisch ausgefallen ist. Daher alle Verwirrung, daher alle Finsternis, daher das Überhandnehmen aller möglichen Irrtümer, Verirrungen und Verwegenheiten. Hieß es früher einfach „Ubi papa, ibi ecclesia – wo der Papst, da die Kirche“, so wissen heute selbst treueste Katholiken nicht mehr, wo die Kirche ist.

Da gibt es nun verschiedene Strategien der Katholiken, auf diese Situation zu reagieren – abgesehen von denen, die fatalistisch nur noch auf die „große Katastrophe“ warten. Die einen versuchen, die Tatsache einfach zu negieren. Sie verschließen ihre Augen hartnäckig und tun so, als sei im wesentlichen doch alles noch in Ordnung. Der Papst könne nur nicht so, wie er wolle, seine Anordnungen würden torpediert, seine Umgebung bremse ihn aus usw. Andere freuen sich über jedes katholisch klingende Wort aus dem Mund des Papstes, über jede halbwegs katholisch zu interpretierende Geste und finden darin die Bestätigung, daß es eben doch der katholische Papst ist, mit dem wir es zu tun haben, und daß man ihm unbedingt trauen und folgen muß. Wieder andere sagen, daß der Mann, der da im Vatikan sitzt, gar nicht Papst ist. Dann gibt es solche, die eine „mittlere Position“ einnehmen wollen und sagen, es ist der Papst, nur wir folgen ihm nicht, wo es gegen unseren Glauben ist, was er von uns verlangt.

Entsprechend vielfältig sind die Kompensations-Mechanismen. Einige nehmen ihre Zuflucht zu einem „höheren“ Lehramt und suchen ihre göttlichen Orakel in Botschaften von „Begnadeten“ oder sogar Besessenen. Andere bauen sich ihr Lehramt aus den wenigen aktuellen päpstlichen Aussagen und Bruchstücken, die sie brauchbar oder doch wenigstens interpretierbar genug finden. Dabei stützen sie sich insbesondere auf die stets gleichbleibend „konservative“ Haltung auch der Konzilspäpste in Fragen etwa des Lebensschutzes und der Ehe. Wieder andere haben das päpstliche Lehramt mehr oder weniger durch die „Tradition“ ersetzt, an welcher sie auch päpstliche Handlungen und Verordnungen zu messen vorgeben. So wollen sie feststellen können, ob und wann dem Papst zu gehorchen sei oder nicht. Wir nennen sie gewöhnlich „Traditionalisten“. Letzteren wollen wir hier unser besonderes Augenmerk schenken.

Falsche Vorstellungen von der Unfehlbarkeit

Dr. J.B. Heinrich schreibt in seiner „Dogmatischen Theologie“ Bd. 2 von 1876, also ganz unter dem Eindruck des (I.) Vatikanischen Konzils, über die Infallibilität der Kirche, besonders natürlich des Papstes. Hier stellt er fest, daß die Unfehlbarkeit „unauflöslich mit dem kirchlichen Lehr- und Richteramte verknüpft“ ist, „welches Christus in Petrus und den Aposteln eingesetzt hat und in deren rechtmäßigen Nachfolgern forterhält alle Tage bis ans das Ende der Zeiten“ (§89, I, S. 211).

Zwar hafte die Unfehlbarkeit jeweils am entsprechenden Amt (Papst oder Bischof), jedoch nicht in abstracto am Amt an sich, welches es als solches ja nicht gibt außer als Gedankending, sondern immer nur in concreto an der Person, die dieses Amt ausfüllt, jedoch nicht als Privatperson, sondern als Amtsperson (§89, II.1). Das Amt existiere nicht getrennt von der Person, „vielmehr ist es dieselbe physische Person, welche in einer doppelten Beziehung in Betracht kommt, nämlich als Mensch oder als Privatperson – und als Beamter, Bevollmächtigter, Stellvertreter Christi oder als Amtsperson“ (S. 212 f).

In diesem Sinn kann und muß daher allerdings die höchste Lehrautorität und die damit verbundene lehramtliche Unfehlbarkeit als etwas dem Papst persönlich Eigenes, als ein persönlicher Vorzug, ein persönliches Recht, ein persönliches Privileg des Papstes (…) bezeichnet werden, nämlich als etwas, was dem Papste allein, nicht einem anderen zusteht. Es hat also in dem allgemein bekannten und anerkannten Sinne der katholischen Autoren dieses Wort nicht den Sinn, daß Lehrgewalt und Unfehlbarkeit dem Papste als Privatperson eigen sei, sondern in seinem Amte, seiner amtlichen Eigenschaft, seiner amtlichen Persönlichkeit. Das gilt aber nicht nur vom Papste, sondern von einem jeden Träger eines Amtes, insbesondere vom Bischof; auch alle Gewalt und alle Gnade, welche mit dem bischöflichen Amte als solchem verknüpft ist, inhäriert, wie das Amt selbst, der Person des Bischofs, nicht irgend einem nichtigen Gedankending oder einem unter diesem Namen versteckten anderen Subjekte.“ (S. 213)

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant, von der Antwort zu hören, die ein besorgter Gläubiger von einem „traditionalistischen“ Priester erhielt, als er diesen fragte, ob man denn fürchten müsse, für Ökumenismus und Religionsfreiheit, also um schlechte Dinge zu beten, wenn man „nach der Meinung des Heiligen Vaters“ bete. Der Pater antwortete, man bete ja nicht nach der Meinung des Papstes, sondern nach der des „Heiligen Stuhles“. Wird hier nicht entweder der „Heilige Stuhl“ in abstracto als etwas von seinem Inhaber getrennt Existierendes gedacht? Oder wird hier die „Meinung des Heiligen Vaters“ dem Papst als Privatperson zugerechnet und mit welchem Grund, da er diese doch offensichtlich bewußt in seiner Eigenschaft „als Beamter, Bevollmächtigter, Stellvertreter Christi oder als Amtsperson“ herausgibt? Bezeichnend ist auch die feine und subtile Unterscheidung, die ein „Theologe“, seines Zeichens „Professor“ an einem traditionellen Seminar mit dem Spezialgebiet der „Ekklesiologie“, unlängst vornahm, als er vorgab, dem „objektiven lebendigen Lehramt“ zu folgen, aber nicht dem „subjektiven“ - so als ob es ein vom Träger des Lehramts verschiedenes, für sich existierendes „objektives Lehramt“ gäbe.

Eine weitere falsche Vorstellung von der Unfehlbarkeit des Heiligen Stuhles stellt Heinrich im nächsten Punkt dar: „Bossuet und die ihm folgenden Gallikaner stellten die Behauptung auf, daß der apostolische Stuhl, das Papsttum oder, wie man dieses näher erklärte, die Reihenfolge der Päpste unfehlbar sei, nicht aber irgend ein einzelner Papst. Dieser könne eine irrige Lehrentscheidung erlassen, aber der apostolische Stuhl könne bei einem solchen Irrtum nicht verharren, vielmehr werde dieser Irrtum durch einen Nachfolger des irrenden Papstes verbessert werden.“ (S. 213 f)

Auch diese „Lösung“ scheint heute manchen „Traditionalisten“-Kreisen nicht ganz fernzuliegen, vor allem wenn man sie noch erweitert, wie Heinrich im folgenden zeigt: „Diese zunächst bezüglich des Papstes aufgestellte Theorie wurde von den neuesten Häretikern auch auf den Episkopat mit Einschluß des Papstes ausgedehnt. Nachdem man nämlich die Vatikanische Lehrentscheidung über das unfehlbare Magisterium des Papstes, selbst nachdem der gesamte Episkopat zugestimmt, verworfen hatte, schritt man mit innerer Notwendigkeit zur Behauptung fort, daß mit dem jeweiligen Papst der gesamte jeweilige Episkopat in glaubenswidrigen Irrtum fallen könne; allein, meinte man in Anwendung der Bossuet'schen Theorie auf die Gesamtkirche, dieser Irrtum könne kein bleibender sein und eben darin bestehe die Unfehlbarkeit der Kirche, daß dieselbe über kurz oder lang sich wieder zurecht finde und durch ein künftiges Konzil oder einen künftigen Papst und Episkopat den Fehltritt verbessere“ (S. 214).

Hier wird man nicht umhin können, erstaunt festzustellen, wie weit eine solche Sichtweise heute unter gewissen „Traditionalisten“ verbreitet ist. Für sie ist tatsächlich beim „II. Vatikanum“ der Papst mitsamt dem gesamten Weltepiskopat in Irrtum gefallen, und nun warten sie darauf, bis ein „Papst Pius XIII.“ und ein „Vatikanum III“ oder „Tridentinum II“ diesen Fehler wieder korrigieren und gleichsam ungeschehen machen. Dann ist gewissermaßen nichts passiert, und wir können dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Doch wie sehr müssen wir erschrecken, wenn wir hören, wie Heinrich fortfährt:

Diesen Kirche und Glauben radikal zerstörenden Irrtümern gegenüber ist also festzuhalten, daß, wie die Lehrautorität, so auch das damit verknüpfte Charisma der Unfehlbarkeit den jeweiligen Trägern des kirchlichen Lehramtes, also in jeder Zeit dem zeitweiligen Papste und Episkopate eigen ist. Nur der lebende Papst, der lebende Episkopat ist eine lebendige Autorität – und darum handelt es sich, darauf kommt alles an. Wenn es dagegen gestattet wäre, jede Lehrentscheidung eines bestimmten gegenwärtigen Papstes oder eines bestimmten gegenwärtigen Konzils, unter dem Vorwande einer Abweichung von der Überlieferung der früheren Päpste und des früheren Episkopates und unter Berufung auf einen zukünftigen Papst oder ein zukünftiges Konzil oder auf die Geschichte, zu verwerfen, so wäre jede lebendige kirchliche Autorität, jede Sicherheit des Glaubens vernichtet und jenes Kirche und Christentum zersetzende System eingeführt, das wir oben § 83 charakterisiert haben“ (ebd.).

Auf jenes „Kirche und Christentum zersetzende System“ werden wir gleich kommen. Wir wollen jedoch nicht vorübergehen, ohne noch einmal darauf hinzuweisen, wie sehr sich solche Anschauungen bereits in den Kreisen der „Traditionalisten“ festgesetzt haben und wie gefährlich nahe diese den „Kirche und Glauben radikal zerstörenden Irrtümern“ sind. Noch unheimlicher wird dies, wenn wir uns den genannten § 83 bei Heinrich ansehen, worin er über „irrige Meinungen“ zum Verhältnis der Tradition zum Lehramt handelt.

Tiefste und folgenschwerste Irrlehre

Die tiefste und folgenschwerste Irrlehre liegt in dieser Beziehung darin, wenn man, wie schon die Jansenisten und in noch weit größerem Umfange die neuesten Häretiker, zwar die Tradition und sie ganz vorzugsweise als Quelle des Glaubens anerkennt, aber das kirchliche Lehramt als den unfehlbaren Träger und Interpreten dieser Tradition praktisch und auch theoretisch leugnet, indem man sich selbst oder 'der Wissenschaft' das Recht zuschreibt, dasjenige, was man durch eigene Forschung in der Tradition gefunden zu haben meint, unbekümmert um die Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes festzuhalten“ (S. 148).

Ist es nicht ein wenig das, was ein „traditionalistischer“ Priester einst in einem öffentlichen Vortrag als angeblich vorbildlich katholische Haltung eines Bauern vorlegte, welcher gesagt haben soll: „Der Papst kann sagen, was er will, ich bleibe doch katholisch“?

Heinrich fährt fort: „Es ist dieses, wie sofort einleuchtet, die Übertragung des protestantischen Prinzips der freien Forschung von der heiligen Schrift auf die Tradition. Man erkennt dann zwar an, daß die heilige Schrift einer Beglaubigung, Erklärung und Ergänzung durch die Tradition bedürfe; aber was echte Tradition und was ihr Sinn sei, das zu entscheiden, behält man sich selbst in letzter Instanz vor. Es liegt auf der Hand, daß dadurch die kirchliche Autorität, die Objektivität der Glaubensregel, die Glaubenseinheit und das Wesen des Glaubens selbst gänzlich zerstört und das eigene Ermessen an die Stelle der göttlichen Autorität gesetzt wird“ (S. 148 f).

Da hatte demnach ein konziliarer Bischof unlängst vielleicht gar nicht so unrecht, als er einer bekannten „traditionalistischen“ Gruppierung „Protestantismus“ unterstellte, was besagte „Traditionalisten“ leider lediglich auf die Barrikaden rief statt sie zur selbstkritischen Besinnung zu bewegen, ob und wie weit solche Vorwürfe möglicherweise zutreffen könnten. Dabei ist es ja doch wohl keine ganz geringe Gefahr, wenn man unter Umständen die kirchliche Autorität, die Objektivität der Glaubensregel, die Glaubenseinheit und das Wesen des Glaubens selbst gänzlich zerstört und so das eigene Ermessen an die Stelle der göttlichen Autorität gesetzt wird. Also dürfen wir uns nicht mehr auf die Tradition berufen, um festzustellen, daß die konziliaren Autoritäten von der katholischen Lehre abweichen? Müssen wir ihnen stattdessen nunmehr gehorchen und ebenfalls Modernisten werden?

Noch einmal Heinrich: „Gewiß sind die Zeugnisse der Tradition so zahlreich und klar, daß dadurch der wahre Sinn der heiligen Schrift und die gesamte katholische Lehre für jeden, der redlich nach der Wahrheit forscht, mit großer Sicherheit und Klarheit festgestellt wird. In dieser Beziehung sagen die Väter und in specie Vincenz von Lerin, daß ein jeder die wahre Lehre aus der Überlieferung der Kirche, wie sie in den Vätern bezeugt ist, entnehmen könne. Dadurch erklären sie aber den einzelnen nicht für unabhängig vom kirchlichen Lehramte, sondern setzen überall voraus, daß der Einzelne nicht nur in Gemeinschaft mit der Kirche stehe, sondern auch bezüglich der Auslegung der Tradition sich jederzeit der Entscheidung des gegenwärtigen und lebendigen Lehramtes der Kirche unterwerfe, wie sie dieses überall, wo Gelegenheit dazu war, aufs Nachdrücklichste hervorheben und fordern. Wenn man dagegen, um seine eigenen Meinungen im Widerspruch mit den Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes festzuhalten, sich anmaßt, die Geltung und den Sinn der Überlieferung nach eigenem Ermessen auszulegen, so bietet offenbar eine solche Behandlung der Überlieferung der Willkür, dem Irrtum und der Sophistik selbst einen noch größeren und gefährlicheren Spielraum und führt folgerichtig zu noch verderblicheren Konsequenzen, als das protestantische Schriftprinzip“ (S. 149 ff).

Mit anderen Worten, es ist selbstverständlich legitim, als Katholik ein Abweichen der konziliaren Autoritäten von der Tradition und somit einen Ausfall des lebendigen und gegenwärtigen Lehramts festzustellen. Anderes würde bedeuten, die Augen vor offensichtlichen Tatsachen zu verschließen oder das Widerspruchsprinzip außer Kraft zu setzen. Es ist ebenfalls legitim, sich angesichts des aktuellen Lehramts-Ausfalls so gut wie möglich anhand der überlieferten Lehre zu orientieren und die Tradition soweit wie möglich als Richtschnur für unser katholisches Denken und Handeln zu nehmen.

Gefährlich wird es dort, wo wir die aktuellen Autoritäten – die konziliaren Päpste und Bischöfe – als legitime, wahre Autoritäten der katholischen Kirche ansehen, also als lebendiges und gegenwärtiges Lehramt, uns diesen jedoch im Namen der Tradition widersetzen bzw. nach eigenem Gutdünken uns anmaßen, die Auswahl darüber zu treffen, wo und wann ihre Entscheidungen mit der Tradition übereinstimmen und wo nicht. Wohin wir dabei letztlich geraten können, zeigt uns Heinrich, wenn er über andere „falsche Auffassungen“ über das Verhältnis von Tradition und Lehramt spricht, welche mit dem „bisher besprochenen Grundirrtum“ in engstem Zusammenhang stehen.

Andere falsche Auffassungen

Da ist zunächst der Irrtum über „die Beschaffenheit des ursprünglichen Glaubensdepositums und seine Entwicklung in der Kirche“, wonach die Apostel „der Kirche nicht sowohl eine festbestimmte Lehre, als vielmehr nur gewisse Keime und Prinzipien zu einer erst in der Zukunft durch historische Entwicklung sich gestaltenden Lehre hinterlassen“ hätten. „Nicht sowohl Lehren, als die Tatsachen der heiligen Geschichte und gewisse Grundanschauungen über die Person und das Werk Christi, zugleich mit den Keimen der Kirchenverfassung und des Cultus in den vom Herrn angeordneten heiligen Handlungen, hätten das apostolische Glaubensdepositum gebildet, aus denen sich dann erst im Laufe der Jahrhunderte, wie die Verfassung der Kirche und das kirchliche Leben, so auch die kirchliche Lehre allmählich entwickelt habe“ (S. 154). Wer sähe hier nicht die falsche Auffassung der Modernisten von der Tradition am Werk?

Das hängt dann wieder mit einer falschen Auffassung von dem Träger der kirchlichen Überlieferung zusammen. Man betrachtet nämlich als solchen nicht sowohl die Inhaber des kirchlichen Lehramtes als Stellvertreter Christi, als vielmehr die Gesamtheit der Gläubigen, von deren Glauben die Bischöfe und der Papst lediglich Zeugnis zu geben haben“ (S. 156).

Diese von dem kirchlichen Gesamtbewußtsein oder von der Wissenschaft getragene Lehrtradition und Lehrentwicklung kann man sich nun entweder lediglich als Produkt natürlicher Geistestätigkeit vorstellen – das ist dann ein bereits gänzlich außerhalb des Christentums stehender Naturalismus; - oder man denkt sie sich unter einem übernatürlichen Einflusse Gottes und der göttlichen Providenz. Wenn man nun aber diesen göttlichen Einfluß und diese göttliche Providenz nicht in der Leitung des kirchlichen Lehramtes anerkennt, sondern, wie die neueste Häresie [Anm.: der Modernismus] tut, annimmt, daß nicht bloß der Papst in seinen Lehrentscheidungen, sondern daß auch ein allgemeines Konzil in seinen Glaubensdekreten irren, ja daß in der Kirche Jahrhunderte lang die Wahrheit verdunkelt werden und Irrtümer die Oberhand erlangen könnten; so bleibt, um den göttlichen Beistand in der Kirche und die Fortexistenz des wahren Christentums auf der Welt irgendwie in dieser Theorie zu retten, nur die Behauptung übrig, daß nach solchen, wenn auch noch so langen Verdunkelungen, dennoch durch jene Geistesarbeit der Gelehrten, durch die öffentliche Meinung der Gebildeten und durch eine (freiwillige oder etwa durch erleuchtete Herrscher oder durch den Volkswillen erzwungene) Bekehrung der Träger des kirchlichen Lehramtes, die Wahrheit irgend einmal wieder zum Siege gelangen werde“ (S. 157).

Wir begegnen hier genau den Vorstellungen eines Benedikt XVI., welcher seine „Hermeneutik der Reform“ exakt in diesem Sinn versteht und am Beispiel der Religionsfreiheit durchexerziert: Die Kirche war in diesem Punkt Jahrhunderte lang auf dem Irrweg, selbst Konzilien und Päpste haben demnach hier historisch bedingt geirrt, und erst auf dem II. Vatikanum ist es gelungen, wieder zur eigentlichen „Tradition“ der Kirche zurückzukehren. Man versteht, wieso gerade ein Papst Benedikt/Joseph Ratzinger so großes Interesse hatte, mit den „Traditionalisten“ in „Dialog“ zu treten und diese als Verbündete zu gewinnen, denen er sich durchaus geistesverwandt fühlte.

Doch wir würden weder die Tragweite, noch das innerste Wesen der neuesten deutschen Häresie, die zunächst aus einer teils einseitigen, teils falschen Auslegung des katholischen Traditionsprinzips hervorgegangen ist, genügend erkennen, wenn wir nicht zugleich ihre unionistischen Tendenzen ins Auge faßten“, fährt Heinrich fort. „Wenn die Bewahrung und Erklärung der echten apostolischen Lehre nicht principaliter an das kirchliche Lehramt geknüpft, wenn dessen höchste Entscheidungen nicht unfehlbar und deshalb nicht definitiv sind, ja wenn Glaubensirrtümer und Verfälschungen der echten Kirchenverfassung in der Kirche sich allgemein verbreiten, Jahrhunderte lang die Herrschaft in der Kirche erlangen, selbst durch feierliche Lehrentscheidungen sich befestigen und so jene, welche die wahre Lehre erkannten und festhielten, aus der also verderbten Kirche hinaustreiben konnten; dann liegt es nahe, auch in den längst von der Kirche getrennten schismatischen und protestantischen Gemeinschaften solche aus der verderbten katholischen Kirche ausgeschiedenen Teile der wahren Kirche zu erblicken und denselben wenigstens eine relative Berechtigung zuzugestehen“ (S. 158 f).

So sind wir also mit unserer zunächst vielleicht unscheinbar aussehenden, etwas schiefen und durch die augenblickliche Situation sogar gerechtfertigt erscheinenden Sichtweise von Tradition unversehens im Modernismus und Ökumenismus gelandet. Denn auch diese beruhen letztlich auf einer falschen Auffassung vom Verhältnis des Lehramtes zur Tradition, ja sogar auf demselben Grundirrtum, wie uns Heinrich sagt.

Schlußermahnung

Dies sollte genügen, uns ein wenig mit „Furcht und Zittern“ zu erfüllen, sodaß wir uns als „Traditionalisten“ nicht allzu sehr auf der sicheren Seite fühlen. Eingedenk der Mahnung des heiligen Paulus, „Wer demnach zu stehen vermeint, sehe zu, daß er nicht falle“ (1 Kor 10,12), sollten wir zumindest aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und diese nicht einfach wiederholen. Gerade die gegenwärtige Krise der Kirche verlangt von uns ein sehr behutsames, vorsichtiges, überlegtes Vorgehen, nicht Schnellschüsse mit allzu einfachen Lösungen, die zunächst sehr praktisch und tragfähig erscheinen, sich aber schließlich als Falle erweisen und zum Zusammensturz führen müssen.