Franz Diekamp, geboren am 8. November 1864 in Geldern, verstorben am 10. Oktober 1943 in Münster, war römisch-katholischer Priester und Professor für Dogma und Dogmengeschichte in Münster. Als solcher verfaßte er eine „Katholische Dogmatik“, die „als bedeutendste thomistische Dogmatik der deutschen Sprache“ gilt und „in 13 Auflagen bis 1962“ erschien („Wikipedia“), zuletzt herausgegeben von seinem Nachfolger in Münster, Klaudius Jüssen (1898-1975), der das Werk auch neu bearbeitete. Das „II. Vatikanum“ machte der „thomistischen Dogmatik“ ein Ende und damit auch dem Lehrbuch von Diekamp-Jüssen, das jedoch bei der „Piusbruderschaft“ in deren deutscher Seminarausbildung fröhliche Urständ feierte. Bis heute – so nehmen wir jedenfalls an – dient es am lefebvristischen deutschsprachigen Seminar dem Unterricht der Priesteramtskandidaten im Fach Dogmatik. Das scheint uns wichtig festzuhalten, denn man möchte es angesichts der lefebvristischen „Theologie“ kaum glauben, daß es so ist.
Quellen der Dogmatik
Das Exemplar, auf welches wir uns beziehen, ist der Erste Band der zwölften und dreizehnten, neubearbeiteten Auflage, herausgegeben von Dr. Klaudius Jüssen, damals ordentlicher Professor der Dogmatik an der Universität Freiburg i.Br., mit Imprimatur versehen vom 17. August 1957 und erschienen in Münster/Westfalen 1958. Dieser erste Band beginnt, wie sich das gehört, mit einer „Einleitung in die Dogmatik“. Im 1. Abschnitt erfahren wir etwas über die „Theologie im allgemeinen“, während der 2. Abschnitt sich sogleich der „dogmatischen Theologie“ zuwendet und, nachdem der „Gegenstand der Dogmatik“ behandelt wurde, uns zu den „Quellen der Dogmatik“ führt. Da aus diesen Quellen die gesamte Dogmatik fließt, ist dies fraglos ein fundamentaler Gegenstand.
Zunächst hören wir über „Die Quellen der Dogmatik im allgemeinen“: „Quellen (loci oder fontes) einer Wissenschaft sind die ‚Orte‘ oder Fundstellen der Wahrheit, denen sie ihre Beweisgründe entnimmt. Als eigentliche Quellen (loci proprii) der Dogmatik kommen nur solche in Frage, die uns Offenbarungswahrheiten darbieten. Denn die Dogmatik ist Glaubenswissenschaft und geht deshalb von den formell geoffenbarten Wahrheiten aus, die im übernatürlichen Glauben erfaßt werden. Ihre eigentlichen Quellen sind daher loci ab auctoritate, quae fundatur super revelatione divina (1 q. 1 a. 8 ad 2)“ (S. 26). Letzteres Zitat des heiligen Thomas lautet verdeutscht: „Stellen von Autorität, die auf der göttlichen Offenbarung beruht.“
Diekamp nennt unter Berufung auf „zehn loci theologici, die Melchior Cano aufführt“, sieben von diesen zehn „eigentliche Quellen (loci proprii) und drei beigefügte (loci adscriptiti)“. Die sieben „eigentlichen Quellen“ stellen „übernatürliche Autoritäten dar“. Es sind dies: „Hl. Schrift, Überlieferung, katholische Kirche, allgemeine Konzilien, Päpste, Väter und Theologen“. Die „beigefügten Quellen“ hingegen „tragen keinen übernatürlichen Charakter und sind als loci communes für mehrere Wissenschaften wichtig, nämlich die natürliche Vernunft, die Philosophen und die Geschichte“. Dabei gilt: „Jede der eigentlichen Quellen genügt selbst schon für sich allein zu einem sicheren theologischen Beweise“, während den „beigefügten Quellen“ „keine strenge Beweiskraft“ zukommt (ebd.).
Heilige Schrift, Überlieferung und katholische Kirche
Im folgenden will Diekamp „von den eigentlichen Quellen der Dogmatik handeln“ und diese auf drei zurückführen, nämlich „Schrift, Überlieferung und katholische Kirche“. Zum Verhältnis dieser drei Quellen führt er aus: „Die Hl. Schrift und die mündliche apostolische Überlieferung sind die beiden Quellen, in denen die gesamte Offenbarung enthalten ist“ (S. 27). Hier müssen wir gut aufpassen, damit wir nicht in den Fehler der „Traditionalisten“ fallen, die immer alles durcheinanderbringen, weil sie nie genau hinschauen. Oben sprach Diekamp von den „Quellen der Dogmatik“ und nannte davon zehn, sieben „eigentliche“ und drei „beigefügte“. Die sieben „eigentlichen“ führte er sodann auf drei zurück, nämlich Hl. Schrift, mündliche Überlieferung und katholische Kirche. Hier spricht er nun nicht von den „Quellen der Dogmatik“, sondern von den „Quellen der Offenbarung“, und das sind nicht zehn, nicht sieben und nicht drei, sondern nur zwei: Schrift und Überlieferung. Einzig in ihnen ist „das apostolische Depositum“ und damit der „Vollinhalt der göttlichen Offenbarung“ enthalten. „Beide bieten, soviel an ihnen liegt, die göttliche Wahrheit unfehlbar dar“ (ebd.).
Doch was nützen die Quellen der unfehlbaren Wahrheit, wenn wir nicht richtig daraus zu schöpfen verstehen? Deshalb hat der Heiland vorgesorgt und uns ein kirchliches Lehramt gegeben: „Die in Schrift und Tradition enthaltenen geoffenbarten Wahrheiten werden uns durch das Lehramt der Kirche unfehlbar vorgelegt“ (ebd.). Damit besitzen wir nicht nur unfehlbare Wahrheiten, sondern auch jemanden, der sie uns unfehlbar vorlegt, damit wir nicht trotz der unfehlbaren Wahrheiten in die Irre gehen, weil wir sie nicht kennen, nicht recht verstehen, sie verfälschen, verlieren oder nicht richtig anwenden können. „Zur steten Erhaltung, Bezeugung, Erklärung und Überlieferung [!] des der Kirche anvertrauten apostolischen Glaubensgutes hat Christus in der Kirche ein lebendiges Lehramt gestiftet und es mit der Gabe der Unfehlbarkeit ausgestattet. Zu jeder Zeit können und sollen die Inhaber der Lehrgewalt, nämlich der Papst und die Bischöfe in Unterordnung unter den Papst, das apostolische Depositum den Gläubigen autoritativ vorlegen“ (ebd.). Man beachte: Das allzeit „lebendige Lehramt“ der Kirche, welchem die stete „Erhaltung, Bezeugung, Erklärung und Überlieferung [!] des der Kirche anvertrauten apostolischen Glaubensgutes“ obliegt, bestehend aus den „Inhabern der Lehrgewalt“, nämlich dem Papst und den „Bischöfen in Unterordnung unter den Papst“ – und aus niemandem sonst – kann „zu jeder Zeit“ das „apostolische Depositum den Gläubigen autoritativ vorlegen“ und ist dafür „mit der Gabe der Unfehlbarkeit ausgestattet“!
„Die Lehrtätigkeit der Kirche umfaßt also einerseits die ununterbrochene Weitergabe des mündlichen Zeugnisses der Apostel [die „Tradition“!] und andererseits – betreffs der Hl. Schrift, die sie uns beständig vorlegt – die fortwährende Bezeugung und Gewährleistung der Echtheit und Unverfälschtheit der inspirierten Bücher und die Erklärung ihres wahren Sinnes. Darum ist die kirchliche Lehrverkündigung wie für die Gläubigen, so auch für die dogmatische Wissenschaft eine dritte Quelle, aus der sie mit aller Zuversicht [!] die Offenbarungswahrheit schöpfen kann“ (ebd.). Wie paßt dazu die Lehre der „Traditionalisten“, daß wir dem kirchlichen Lehramt, nämlich dem Papst und den Bischöfen in Unterordnung unter den Papst, allzeit mit Mißtrauen begegnen und stets kontrollieren müssen, ob das, was sie uns sagen, mit der „Überlieferung“ übereinstimmt oder nicht?
Das Verhältnis der Hl. Schrift zum kirchlichen Lehramt
Diekamp handelt nun ausführlich über die Heilige Schrift, wobei uns in unserem Zusammenhang nur der letzte Abschnitt interessiert, § 12, in welchem „Das Verhältnis der Hl. Schrift zum kirchlichen Lehramt“ besprochen wird. „Es ist Sache des kirchlichen Lehramtes, die Tatsache der Inspiration mit Unfehlbarkeit zu verbürgen, und diese Bürgschaft ist für uns notwendig. Sententia communis“ (S. 44). So lautet der erste Satz. Denn, wie „das Tridentinum bezeugt“, zählt „die Inspiration der heiligen Bücher zu den Glaubenssachen“. D.h. wir können nur durch den Glauben wissen, daß die Bücher der Heiligen Schrift wirklich von Gott stammen, daß sie Gott zum „Hauptautor“ haben, daß sie das Wort Gottes sind. Wer aber soll uns das authentisch sagen, wenn nicht das von Christus autorisierte Lehramt? „Deshalb steht es der Kirche zu, mit Unfehlbarkeit festzustellen, welche Bücher inspiriert sind“ (ebd.).
Tatsächlich verbürgt uns die Kirche „die Inspiration der heiligen Schiften durch die Aufstellung des Bibelkanons und durch ihr Urteil über die Vulgata“ (S. 46). Auf dem Konzil von Trient und noch einmal auf dem Vatikanischen Konzil hat die Kirche „die Schriften des Alten und Neuen Testamentes einzeln“ aufgeführt und es für eine Glaubenswahrheit erklärt, daß diese Bücher „ganz mit allen ihren Teilen, wie sie in der katholischen Kirche von jeher gelesen wurden und in der lateinischen Vulgata enthalten sind, als heilige und kanonische Schriften anerkannt werden müssen“ (Denz. 784, 1787, 1809). Darüberhinaus ist die Kirche „die einzige authentische und unfehlbare Auslegerin der Hl. Schrift“ (ebd.). Dieser Satz ist „fidei proximum“. „Die Kirche gibt solche unfehlbare Deutungen teils direkt, was aber verhältnismäßig selten geschieht, teils indirekt, indem sie durch die endgültige Feststellung der Glaubenswahrheiten die häretische Auslegung von Schriftworten verdammt und die rechtgläubige bestätigt“, merkt Diekamp dazu an (S. 47).
Das Verhältnis der Überlieferung zum kirchlichen Lehramt
Als nächstes folgt die Abhandlung über die Überlieferung, wobei uns wieder der letzte Absatz besonders am Herzen liegt, der § 16 über „Das Verhältnis der Überlieferung zum kirchlichen Lehramt“ (S. 62). Daß der Protestantismus mit dem Lutherschen „sola scriptura“ den Fehler machte, die Heilige Schrift als die einzige Quelle der Offenbarung anzusehen und sie zugleich vom kirchlichen Lehramt vollkommen abzukoppeln, ist den „Traditionalisten“ bekannt. Doch: „Wie die Hl. Schrift, so bedarf auch die göttliche Überlieferung der Bezeugung und Auslegung durch das Lehramt der Kirche. Nur das kirchliche Lehramt kann unfehlbar feststellen, welche Wahrheiten und Einrichtungen der apostolischen Tradition angehören. Sententia communis“ (ebd.). Diesen Satz überlesen die „Traditionalisten“ geflissentlich. Stattdessen meinen sie, auch ohne das kirchliche Lehramt, ja gegen dieses und besser als dieses „unfehlbar feststellen“ zu können, „welche Wahrheiten und Einrichtungen der apostolischen Tradition angehören“ und welche nicht. Genau hier liegt der Irrtum des „Traditionalismus“, der, wie wir sehen, sich analog zum Protestantismus verhält. Denn wie dieser die Heilige Schrift vom kirchlichen Lehramt trennt und zur einzigen überlegenen Norm macht, so der „Traditionalismus“ mit der Überlieferung.
Die modernen „Traditionalisten“ stehen damit in einer illustren Ahnenreihe: „Gegen diesen Satz verstießen manche Gnostiker, die sich des Besitzes einer apostolischen Geheimlehre rühmten und sie als die einzige Regel des Glaubens hinstellten. Auch die Jansenisten und die Altkatholiken gehen fehl. Sie erkennen zwar an, daß die Hl. Schrift erst durch die Überlieferung die rechte Beglaubigung und Auslegung sowie die erforderliche Ergänzung erhält; aber die Lehre der Überlieferung selbst festzustellen – so behaupten sie – sei nicht Sache des kirchlichen Lehramtes, sondern der geschichtlichen Forschung“ (S. 63). Die modernen „Traditionalisten“ bedürfen dazu nicht einmal der „geschichtlichen Forschung“, sondern sind aus eigener Befähigung und Vollkommenheit ohne weiteres in der Lage, „die Lehre der Überlieferung selbst festzustellen“ und ihr „kirchliches Lehramt“ anhand ihres Befundes zu kritisieren, zu belehren oder zurechtzuweisen, ohne diesem in irgendeiner Weise Gehorsam oder Unterwerfung zu schulden.
Diekamp erklärt uns, warum das nicht funktioniert: „Dem einzelnen Christen ist es unmöglich, aus den Quellen der Überlieferung den Offenbarungsinhalt mit Sicherheit und vollständig zu entnehmen“, denn „wegen der erdrückenden Fülle des Stoffes ist der einzelne ganz außerstande, alle Traditionsquellen genau kennenzulernen und zu durchforschen“. Auch übersteigt es „völlig die Kräfte des einzelnen, in diesen Quellen das Irrige von dem Wahren und das Gefälschte von dem Echten zu scheiden sowie alles Dunkle und Mißverständliche aufzuklären“. Auch die „Wissenschaft“ ist nicht in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen, denn zum einen zeigt „die Erfahrung, daß von den zahlreichen Wissenschaftlern keine einmütige Deutung zu erhoffen ist“, und dann kann „auch die gründlichste Erforschung der Quellen nach der Methode der Geschichtswissenschaft“ an sich „nur zu einer natürlichen Gewißheit führen“ (ebd.). Damit ist dem modernen „Traditionalismus“ im Grunde bereits der Boden entzogen.
Der „Kanon des heiligen Vinzenz“
Zwar stellt die Theologie „gewisse Regeln für die Beurteilung der Tradition auf“, doch darf man bei der Anwendung dieser Regeln „nie von der Autorität des kirchlichen Lehramtes absehen“, wie es die „Traditionalisten“ tun (ebd.). Zu diesen Regeln gehört: „Eine nicht in der Hl. Schrift enthaltene Lehre beruht unzweifelhaft auf göttlicher Überlieferung, falls die gesamte Kirche sie in irgendeinem Zeitraum als Glaubenswahrheit festhält“ (ebd.)., wenn also z.B. die auf einem Konzil versammelten Bischöfe zusammen mit dem Papst diese als Glaubenswahrheit lehren. Denn: „Die Kirche ist unfehlbar in demjenigen, was ihr allgemeines Lehramt zu glauben befiehlt. Sie würde aber im Glauben irregehen und die Gläubigen irreführen, wenn sie etwas, was weder in der Schrift noch in der göttlichen Tradition enthalten ist, als Glaubenswahrheit hinstellt“ (S. 63-64). Es wäre also undenkbar, daß etwa ein allgemeines, vom Papst bestätigtes Konzil Irrtümer verkünden und Lehren verbreiten könnte, die von der Tradition abweichen.
Diekamp geht sogar auf den von den „Traditionalisten“ ad nauseam bemühten Vinzenz von Lerin ein, der „die bekannte Regel aufgestellt“ hat: „Magnopere curandum est, ut id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est; hoc est etenim vere proprieque catholicum (Commonit. 2, 3)“ (S. 64). Dies ist der berühmte „Kanon des heiligen Vinzenz“: „Desgleichen ist in der katholischen Kirche selbst entschieden dafür Sorge zu tragen, dass wir das festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde; denn das ist im wahren und eigentlichen Sinn katholisch.“ Dieser ist, wie Diekamp anmerkt, „unter Berücksichtigung des Kontextes und der geschichtlichen Zusammenhänge“, wie J. Madoz gezeigt habe, „folgendermaßen zu verstehen: 1. Die drei Merkmale ubique, semper, ab omnibus [überall, immer, von allen] bilden nicht etwa nur zusammen ein Kriterium der Glaubenswahrheit, sondern sind drei Kriterien, deren jedes für sich je nach den Umständen angewandt werden und ausreichen kann“ – ganz anders als die „Traditionalisten“ immer behaupten, die darauf insistieren, daß stets alle drei Merkmale zugleich gegeben sein müssen und besonders hartnäckig auf dem „immer“ bestehen.
Außerdem: „2. Der Kanon hat exklusiven Sinn; er besagt: Nur dasjenige ist wahrhaft und eigentlich katholisch, was entweder überall oder immer oder von allen geglaubt, und zwar fide manifesta, d.i. offenkundig oder ausdrücklich, geglaubt worden ist. Demnach scheint Vinzenz jenen realen Fortschritt im Dogma, durch den die fides implicita zur fides explicita wird, ausgeschlossen und nur eine Entwicklung in der subjektiven Erkenntnis und im Ausdruck der Glaubenslehre anerkannt zu haben. In solch engem Sinn ausschließlich von der fides manifesta vel explicita verstanden, wird die Vinzentinische Regel allerdings falsch und unkatholisch; die fides implicita der Kirche ist mit zu berücksichtigen“ (ebd.). Der „Kanon des heiligen Vinzenz“ ist daher wenig verwunderlich von Häretikern zu allen Zeiten gegen das Lehramt der Kirche verwendet worden, nicht zuletzt von den „Altkatholiken“.
Der „sensus fidelium“
Auch auf einen weiteren Gemeinplatz der „traditionalistischen“ Lehre geht Diekamp bereits ein, nämlich den „sensus fidelium“, den allgemeinen „Glaubenssinn“. Er sagt: „Gewiß sind auch der einmütige Glaube und das einhellige Bekenntnis des gesamten christlichen Volkes (communis sensus fidelium) ein sicheres Kennzeichen des Vorliegens göttlicher Überlieferung. Es bleibt nämlich durch das Wirken des Hl. Geistes in der Kirche ausgeschlossen, daß alle Christen insgesamt vom rechten Glauben abweichen; der Unfehlbarkeit der Glaubensverkündigung seitens des kirchlichen Lehramtes entspricht die Unfehlbarkeit des Glaubensgehorsams der ‚hörenden Kirche‘, d.h. des ganzen Kirchenvolkes“ (S. 64-65). Es kann daher keinen Konflikt geben zwischen der „Glaubensverkündigung seitens des kirchlichen Lehramtes“ und dem „Glaubensgehorsam der ‚hörenden Kirche‘“, wie es der moderne „Traditionalismus“ will. Denn: „Die letztere Unfehlbarkeit bewirkt der allmächtige Gottesgeist im christlichen Volke zuvörderst mittels der kirchlichen Lehrer und ihrer Glaubenspredigt“, dann aber auch „durch unmittelbare Belehrung und Leitung der Christgläubigen, sofern sie lebendige Glieder des mystischen Leibes Christi sind“, wozu auch gehört, daß sie sich nicht durch rebellischen Ungehorsam gegen den Papst von diesem mystischen Leib Christi getrennt haben (S. 65).
Somit wohnt zwar „dem einmütigen Glauben und Bekenntnis der ganzen katholischen Christenheit eine selbständige Kraft des Zeugnisses für die wahre, unverfälschte Überlieferung inne“ und kommt im „communis sensus fidelium“ der „‚Glaubenssinn‘ (sensus fidei) des christlichen Volkes zur Geltung“, welcher „mit der übernatürlichen, eingegossenen Tugend des Glaubens (habitus fidei)“ zusammenfällt (ebd.), doch kann dieser niemals im Widerspruch stehen zum kirchlichen Lehramt. Wenngleich also zuzugeben ist, daß es dieser „Glaubenssinn“ war, der sich bei vielen Katholiken angesichts der Irrlehren des „II. Vatikanums“ mächtig regte, so wurde dieser doch vielfach selber in die Irre geführt durch die Ansicht, es sei das kirchliche Lehramt, das gefehlt und den Weg der „Tradition“ verlassen habe, während der allgemeine Glaubenssinn der „traditionellen Gläubigen“ diesem treu geblieben sei, weshalb man nun dem Lehramt Widerstand zu leisten und es zur „Tradition“ zurückzubringen habe. So kommt es, daß wir heute, sechzig Jahre nach dem „II. Vatikanum“, von einem „einmütigen Glauben und Bekenntnis der ganzen katholischen Christenheit“, das als „eine selbständige Kraft des Zeugnisses für die wahre, unverfälschte Überlieferung“ dastünde, weit entfernt sind.
Es gibt eine sehr schöne Stelle in der Heiligen Schrift, im ersten Brief des heiligen Johannes, wo uns der „sensus fidelium“ erläutert wird: „Wir sind aus Gott. Wer Gott erkennt, hört auf uns; wer nicht aus Gott ist, hört nicht auf uns; daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrwahns.“ (1 Joh 4, 6). Dazu bemerkt der Kommentar: „Der Geist, welcher antreibt, die Apostel zu hören, kann nur der Geist der Wahrheit sein, der Geist, welcher die Welt bewegt, auf die falschen Propheten zu hören, kann nur der Geist des Irrwahns sein. Wie das Bekenntnis des im Fleische gekommenen Jesus (V. 2), so charakterisiert das bleibende Hören auf die Apostel (V. 5) den Geist, durch den Gott selbst in den Christen bleibt und sie das Gebot des Glaubens erfüllen lehrt.“ Deshalb sagt auch der Heiland über die Hirten und die Schafe: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer nicht durch die Tür in den Schafstall eingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber! Wer aber durch die Tür eingeht, der ist ein Hirt der Schafe. Diesem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören auf seine Stimme, und er ruft die eigenen Schafe mit Namen, … und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht, sondern fliehen vor ihm, denn sie kennen die Stimme des Fremden nicht“ (Joh 10, 1-6). Laut Kommentar spricht der Heiland hier „von dem wahren Lehramte“.
Wichtigste Aufgabe des „Glaubensinstinkts“ oder „sensus fidelium“ ist es also, die Schafe, d.h. die Gläubigen, erkennen zu lassen, wo die wahren Hirten sind und wo sie es mit „Dieben und Räubern“ zu tun haben. Mit seiner Hilfe können sie unterscheiden zwischen dem „wahren Lehramt“, aus welchem der „Geist der Wahrheit“ spricht, und falschen Propheten mit ihrem „Geist des Irrwahns“. Auf ersteres werden sie hören, weil es „aus Gott ist“ und sie „seine Stimme“ kennen, auf letzteres werden sie nicht hören, weil es „nicht aus Gott ist“ und sie „die Stimme des Fremden“ nicht kennen. Der „Glaubenssinn“ befähigt die Gläubigen nicht dazu, in den Lehren ihres Lehramtes auszuwählen, was davon richtig ist und was nicht, sondern gerade dazu, mit untrüglicher Sicherheit festzustellen, wo das wahre Lehramt ist und wo es nicht ist. Leider hat der „Traditionalismus“ seit den 1970er Jahren diesen „Glaubenssinn“ so sehr verdorben und entstellt, daß just diese Fähigkeit den meisten verloren gegangen ist und sie den „Geist des Irrwahns“ nicht mehr klar vom „Geist der Wahrheit“ scheiden können und falsche Propheten für ihr Lehramt halten.
Das kirchliche Lehramt als nächste und unmittelbare Glaubensregel
Fahren wir fort mit Diekamp, der uns nun, nachdem er die ersten beiden Quellen, die Heilige Schrift und die Überlieferung, dargestellt hat, zur dritten Quelle der Dogmatik übergeht, dem kirchlichen Lehramt. „Das kirchliche Lehramt als nächste und unmittelbare Glaubensregel“, ist der § 17 überschrieben. Es ist speziell dieser Paragraph, den wir den „Piusbrüdern“ zu Repetition oder Studium wärmstens ans Herz legen wollen, denn mit „nächster Glaubensregel“ wissen sie in der Regel nichts anzufangen. Stattdessen heißt es etwa in einem von dieser Gemeinschaft im Jahr 1999 herausgegebenen „Katechismus“: „Die erste Quelle des Glaubens ist die Heilige Schrift oder Bibel“, doch sei „neben der Heiligen Schrift auch die mündliche Überlieferung oder Tradition eine wahre Quelle der Offenbarung“. Dem kirchlichen Lehramt komme es lediglich zu, „uns in Streitfragen mit Sicherheit (zu) sagen, was wir zu glauben haben und was irrtümlich ist“. Das Lehramt wird demnach nur als eine Art „Schiedsrichter“ benötigt, wenn das „Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen, durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt“ (Wojtyla, „Ecclesia Dei“), wozu sie an sich keines Lehramts bedürfen, nicht so recht weiter kommen will.
Demgegenüber erklärt uns Diekamp, was „Glaubensregel“ bedeutet: „Katholische Glaubensregel ist dasjenige, was die Glaubenspflicht für alle Glieder der Kirche maßgebend bestimmt“ (S. 65). Weiter führt er aus: „Sie [scil. die Glaubensregel] ist eine entfernte (mittelbare), wenn sie zwar die göttliche Gewähr der Glaubwürdigkeit ihres ganzen Inhaltes in sich trägt, aber einer weiteren Instanz bedarf, die ihre (scil. der entfernten Regel) innere Autorität in allgemein bindender Weise nach außen geltend macht. Sie ist hingegen eine nächste (unmittelbare), wenn sie, ohne solcher Vermittlung zu bedürfen, durch sich selbst jeden einzelnen Gläubigen verpflichtet“ (S. 66). Nun gilt: „Hl. Schrift und Tradition – letztere als Summe der Traditionszeugen und -denkmäler verstanden – sind regula fidei remota [entfernte Glaubensregel]; das kirchliche Lehramt ist regula fidei proxima [nächste Glaubensregel]. Den jeweiligen Trägern des Lehramtes steht es zu, aus der Hl. Schrift und der apostolischen Überlieferung zu schöpfen, unfehlbar über sie zu urteilen und dadurch allen Gliedern der Kirche Glaubenspflicht aufzuerlegen“ (ebd.). Das ist deutlich mehr als nur als „Schiedsgericht“ in „Streitfragen“ zu fungieren.
Man kann ferner „von der nächsten Glaubensregel im aktiven und im objektiven Sinne sprechen. Im aktiven Sinn ist sie die Tätigkeit, durch die das kirchliche Lehramt den Inhalt der Offenbarung als Gegenstand des pflichtmäßigen Glaubens verkündigt. Im objektiven Sinn ist sie die von der Kirche vorgeschrieben Lehre, die von allen Christen in bereitwilliger Unterwerfung angenommen werden muß, damit sie in der Einheit des Glaubens und der Kirche stehen“ (ebd.). Daher der Lehrsatz: „Die kirchliche Lehrverkündigung ist nächste und unmittelbare Richtschnur des katholischen Glaubens (regula proxima fidei). De fide.“ Es handelt sich hier um ein Dogma im strikten Sinn! Denn das Vatikanum lehrt: „Wenn das kirchliche Lehramt kraft seiner Unfehlbarkeit endgültig entscheidet, daß eine Wahrheit von Gott geoffenbart ist, und ihre gläubige Annahme gebietet, so ergibt sich für jeden einzelnen Christen die Pflicht der fides divina et catholica (S. 3 cp. 3 und 4, Denz. 1792. 1795)“ (ebd.).
Die Glaubensregel der „Traditionalisten“
Als „spekulative Begründung“ wird angegeben: „Die Hl. Schrift und die Überlieferung enthalten zwar die ganze Offenbarungslehre, bedürfen aber, wie oben gezeigt wurde, der Bestätigung und Auslegung durch das kirchliche Lehramt (s. § 12 u. 16). Deswegen sind Schrift und Überlieferung regula remota fidei, und nur das Lehramt kann die nächste und unmittelbare Regel unseres Glaubens sein“ (S. 67). Genau diese Lehre, dieses Dogma, haben die „Traditionalisten“ ausgehebelt und gewissermaßen umgedreht. Für sie ist nicht das Lehramt, sondern die „Tradition“, also die Überlieferung, die „nächste und unmittelbare Regel“ ihres Glaubens, und sie bedarf nicht „der Bestätigung und Auslegung durch das kirchliche Lehramt“, sondern umgekehrt, das kirchliche Lehramt bedarf „der Bestätigung und Auslegung“ durch die „Tradition“.
Diese Irrlehre formulierte Erzbischof Lefebvre in seinem Buch „Ich klage das Konzil an“ aus dem Jahre 1976 (Editions Saint-Gabriel, Martigny) wie folgt: „Das Erkennungsmerkmal der Wahrheit und übrigens auch der Unfehlbarkeit des Papstes und der Kirche ist ihre Übereinstimmung mit der Überlieferung und dem anvertrauten Glaubensgut. ‚Quod ubique, quod semper – Was überall und immer‘ gelehrt wird, im Raum und in der Zeit. Sich von der Überlieferung entfernen heißt, sich von der Kirche entfernen“ (S. 102; Hervorhebungen von uns). Er zeigt hier überdies die „falsche und unkatholische“ Auffassung der „Vinzentinischen Regel“, die Diekamp oben angekreidet hatte, und widerspricht direkt dem Dogma von der Unfehlbarkeit, in welchem das Vatikanum festgestellt hatte, daß eine Lehrentscheidung des Papstes „ex sese“, von sich aus, unfehlbar ist, nicht erst durch die „Zustimmung der Kirche“ infolge der Überprüfung ihrer „Übereinstimmung mit der Überlieferung und dem anvertrauten Glaubensgut“.
Da die lefebvristische Lehre nicht funktioniert, wie Diekamp uns ebenfalls aufgezeigt hatte – „Dem einzelnen Christen ist es unmöglich, aus den Quellen der Überlieferung den Offenbarungsinhalt mit Sicherheit und vollständig zu entnehmen“ – kam es, wie es kommen mußte, und Lefebvre wurde für die Seinen selber zum Ersatz-Lehramt: „Der Erzbischof ist die ‚Glaubensregel‘ für den Widerstand und war die ‚Glaubensregel‘ für die SSPX“, hatte es ein treuherziger „Pius-Widerständler“ einst treffend zum Ausdruck gebracht. Das war äußerst verhängnisvoll, denn wie P. de Clorivière S.J. zu bedenken gibt: „Selbst dann, wenn man die Kirche oder ihren obersten Hirten, dem die Unfehlbarkeit verheißen wurde, nicht um Rat fragen kann, darf man keiner wie auch immer gearteten Autorität blindes Vertrauen schenken, da es keine Autorität gibt, die nicht selbst dem Irrtum verfallen und uns mit hineinziehen könnte“ (Etudes sur la Revolution, Ed. Sainte Jeanne d‘Arc, S. 132-133). Unwillkürlich werden wir hier an die Worte des Heilands gemahnt: „Laßt sie! Sie sind Blinde und Führer von Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, fallen beide in die Grube“ (Mt 15, 14).
Fortsetzung folgt