Als Gott im brennenden Dornbusch dem Moses erschien, antwortete Er auf die Frage, wer Er sei, und sagte: „Ich bin der Ich bin“ (2 Mos 3, 14). Als im Jahr 1858 im französischen Lourdes der Seherin Bernadette Soubirous die Muttergottes erschien, gab sie auf die Frage nach ihrem Namen zur Antwort: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis.“ Sie bringt damit in vollkommener Weise ihr Wesen zum Ausdruck wie das „Ich bin“ das Wesen Gottes.
Das Dogma
Diese Selbstbezeichnung der allerseligsten Jungfrau hat bereits damals und auch danach viele Theologen befremdet. Warum sagt sie nicht: „Ich bin die unbefleckt empfangene Jungfrau“, sondern: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis“? Wie es scheint, identifiziert sie sich hier geradezu mit dem vier Jahre zuvor verkündeten Dogma, das auch nicht „Dogma von der unbefleckt empfangenen Jungfrau Maria“ genannt wird, sondern „Definition von der Unbefleckten Empfängnis Mariens“. Papst Pius IX. hatte damals feierlich „erklärt, verkündet und definiert“, „daß die Lehre, welche festhält, daß die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde“ (DH 2803).
Dies ist „nur“ eine Definition. Und doch tritt in dieser Definition das Wesen der allerseligsten Jungfrau vor unser geistiges Auge, deutlicher und vollkommener, als wenn sie unserem leiblichen Auge erschiene, wie sie es bei der heiligen Bernadette getan hat. Indem sie sich nach dem Dogma benennt, gibt sie uns zu verstehen, was für eine erhabene und alles überragende Erkenntnis uns der Glaube schenkt. Zwar ist sie noch nicht die vollkommene Erkenntnis, jenes geistige Schauen, das wir im Himmel haben werden. Wohl aber vermittelt sie uns ein vollkommen (zu-)treffendes Geistesbild dessen, was wir einst von Angesicht zu Angesicht schauen werden.
Der „moderne“, von Zweifelsucht und Agnostizismus geplagte Mensch tut sich schwer mit dem Glauben und hat darum keinen Zugang mehr zu den übernatürlichen Wahrheiten. Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis und die Erscheinungen in Lourdes waren ein unübersehbares Zeichen für dieses Übel der Zeit und zugleich ein großartiges Hilfsmittel. Um das besser nachzuvollziehen, müssen wir ein wenig Philosophie treiben, und zwar begeben wir uns in das Feld der Erkenntnistheorie oder „Kriteriologie“.
„Kriteriologie“
Dr. P. Bernhard Kälin, OSB., schreibt dazu in seinem „Lehrbuch der Philosophie“ (4. Aufl., bearbeitet von Dr. P. Raphael Fäh, OSB., Sarnen 1950): „Dem Wortlaut nach besagt Kriteriologie die Lehre von den Kennzeichen [aus dem Griechischen kritèrion = Kennzeichen und lógos = Lehre]; gemeint ist die Lehre von den Kennzeichen und Maßstäben, an denen die Wahrheit und Gewißheit unserer Erkenntnis geprüft wird“ (S. 337). Ein wichtiges Thema für den „heutigen Menschen“, der immer verzweifelt nach – möglichst „hundertprozentiger“ – „Gewißheit“ sucht. „Weniger zutreffend heißt man sie auch Erkenntnislehre oder Gnoseologie, Noetik, Epistemologie, oder auch kurzweg Kritik“ (ebd.). Letzteres ist vor allem seit Kant in Gebrauch. „Sachlich ist die Kriteriologie die wissenschaftliche Untersuchung über die Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis (d.h. ob und unter welchen Bedingungen unser Erkennen die Wirklichkeit wahrheitsgetreu erfaßt)“ (ebd.). Genau darum geht es bei einem Dogma, das tatsächlich die übernatürliche „Wirklichkeit wahrheitsgetreu erfaßt“, weshalb jemand, der diese Möglichkeit überhaupt bezweifelt oder ausschließt, folgerichtig auch kein Dogma glauben kann. Wir sehen einmal mehr, wie notwendig die richtige philosophische Grundlage ist für den Glauben.
Dr. Kälin erklärt über die Hintergründe: „Die äußere Veranlassung, die Kriteriologie als eigenes Wissensgebiet aufzustellen, gaben vor allem die mannigfachen Irrtümer, Täuschungen, die Vielfalt der Aussagen, Meinungen und Auffassungen über ein und denselben Gegenstand.“ Jeder von uns hat solche Erfahrungen bereits zur Genüge gemacht. Man wird kaum zwei Menschen finden, die sich vollkommen einig sind und über ein und denselben Gegenstand exakt das Gleiche aussagen. „Diese Beobachtung nötigte den forschenden Menschengeist, die Wahrhaftigkeit unserer Erkenntniskräfte zu überprüfen. Aber auch der innere Forschungsdrang der Philosophie selber, die bei allen Dingen nach letzten Begründungen fragt, mußte zu den Untersuchungen über die Zuverlässigkeit des eigenen Erkennens und Denkens führen“ (ebd.).
Das ewige Kreisen ums eigene Bewußtsein als „DIE Philosophie“
Interessant ist die Feststellung: „Naturgemäß wurde die Kriteriologie verhältnismäßig spät ausgebildet; denn das philosophische Denken geht zunächst unmittelbar auf die Dinge und erst dann tritt die Rückbesinnung (Reflexion) auf das Denken selber ein.“ Genau anders herum sieht das die neuzeitliche „Transzendentalphilosophie“, die immer zuerst das „Bewußtsein“ erforscht und von da aus erst – wenn überhaupt – zu den Dingen gelangen will. Das aber ist nicht „naturgemäß“. „Die Geschichte der Philosophie wie der psychologische Fortschritt im persönlichen Wissenserwerb bestätigen das“, und widerlegen somit den Ansatz der „Transzendentalphilosophie“. „Umfassendere kritische Untersuchungen haben wir erst seit Descartes und besonders seit Kant.“ Der Zweifel am eigenen Erkenntnisvermögen, wie ihn Descartes in die Philosophie einführte und Kant zum System ausbaute, ist das Fundament der neuzeitlichen Geisteshaltung geworden. „Jedoch findet man auch bei den Denkern des Altertums und Mittelalters gelegentliche Untersuchungen“ – es gibt eben „nichts Neues unter der Sonne“ –; „nur haben die Alten die kriteriologischen Fragen nicht als eigenes Wissensgebiet behandelt, sondern sie mit den metaphysischen Untersuchungen über die Wahrheit und mit den Fragen über das Wesen und die Natur der Erkenntnis verknüpft“ (ebd.). Das dauernde Kreisen um das eigene „Bewußtsein“ ist das eigentlich Neue an der „modernen Philosophie“.
„Die Absonderung der kriteriologischen Fragen zu einem selbständigen Wissensbereich hängt damit zusammen, daß man diesen Untersuchungen in der modernen Zeit einen breiten Raum zugestand. Die Folge war, wie das die neuzeitliche Geschichte der Philosophie belegt, daß die Erkenntniskritik für viele die Philosophie wurde“ (ebd.; Hervorhebung original). Darum vermag es die „moderne Philosophie“ kaum noch, zur Wirklichkeit der Dinge zu gelangen. Sie hängt wie festgeklebt am eigenen „Bewußtsein“. „Von der Lösung der Erkenntniskritik wird notwendig auch die Lösung vieler Fragen in andern Wissensgebieten mitentschieden“ (ebd.), namentlich auch im Gebiet der Theologie.
Wahrheit, Gewißheit, Evidenz
Dringen wir ein wenig näher in die Materie ein. Wie ist es um unsere Erkenntnisfähigkeit bestellt? Kälin gibt uns zunächst einen Plan von seiner „Einteilung der Kriteriologie“: „Von den Begriffen der Wahrheit, Gewißheit und Evidenz wird die Tatsache der Wahrheit und Gewißheit, sodann deren letztes Kriterium und schließlich die Objektivität der Erkenntnis aufgezeigt“ (S. 338). Die Objektivität der Erkenntnis ist es ja, die heute vor allem bestritten wird. Alle Erkenntnis ist subjektiv und jeder hat seine eigene Wahrheit, so wird es meistens gesehen. Das aber trifft nicht zu, wie wir sehen werden.
Kälin macht einige nicht unwichtige „Vorbemerkungen“, denn da „die Kriteriologie die Zuverlässigkeit unseres Erkennens aufzeigen soll, ist eine richtige Auffassung des Erkennens allgemein entscheidend“ (ebd.). Da geht es ja meist schon los, daß man sich gar nicht einig darüber ist, was unter „Erkennen“ überhaupt verstanden werden soll. „Aus der Psychologie“ – gemeint ist hier die philosophische Psychologie, nicht die empirische – will Kälin vor allem folgendes festgehalten sehen: „1. Erkennen ist eine psychische [seelische] Tatsache, die nur durch Beobachtung des Bewußtseins erfaßt werden kann“, und „2. Erkennen ist kein mechanisch-physikalischer Vorgang“. „Die Sinneswahrnehmung setzt zwar solche Prozesse voraus, erfolgt aber erst auf diese und ist wesentlich eine höhere, von der Erkenntniskraft aktiv vollzogene immanente Lebenstätigkeit“ (ebd.).
Damit tut sich unsere zunehmend im Materialismus versunkene Welt besonders schwer, die tatsächlich dazu neigt zu glauben, daß auch Maschinen ein „Bewußtsein“ haben oder doch entwickeln könnten (Stichwort „Künstliche Intelligenz“). Das ist vollkommen ausgeschlossen, da Maschinen – im Gegensatz zu Pflanzen, Tieren und natürlich Menschen – keine Seele und daher kein Leben haben. Erkenntnis und Bewußtsein aber sind immer „aktiv vollzogene immanente Lebenstätigkeit“, die zwar gewisse „mechanisch-physikalische“ oder chemische Vorgänge voraussetzt und mit einbezieht, die aber ihrerseits von der Seele aktiv gesteuert und gestaltet werden müssen und ihr lediglich als Hilfsmittel dienen. Es ist nicht das Gehirn, das denkt, sondern es ist die Seele, die das tut, auch wenn sie das Gehirn dazu als Werkzeug benutzt.
Erkennen als „Seinsbereicherung“
Dritte Vorbemerkung: „Erkennen erweist sich als Erfassen von Dingen, d.h. eine Aktivität, wodurch der Erkennende die Dinge (oder deren Bestimmtheiten, Inhalte) gegenständlich in sich besitzt“ (ebd.). Beim Erkennen ist die Seele aktiv und „verleibt“ sich sozusagen die Dinge ein, analog dem Leib, der die Nahrung nicht einfach mechanisch in sich hineinschaufelt, sondern sie aktiv aufnimmt und zu einem Teil seines Organismus macht. Darum: „4. Erkennen ist eine erlebnismäßige (intentionale) Einheit von Subjekt und Objekt. Erkennen zerstört weder das Subjekt noch verfälscht es das Objekt.“ Das ist der Unterschied zwischen der „intentionalen“ Einheit, welche die Seele mit dem Gegenstand eingeht, und der physischen Einheit, die der Leib beispielsweise erfahren würde, wenn man ihm einen Pfeil ins Herz bohrte. Die Seele erfaßt den Pfeil, ohne von ihm durchbohrt zu werden. Dabei gilt: „Das erkennende Subjekt ist von Natur aus auf das Erfassen der Dinge angelegt. Erkennen ist Seinsbereicherung, Vervollkommnung des Subjekts.“ Im Gegensatz zum Leib hat die Seele hierbei kein Übermaß zu fürchten, denn ihr Fassungsvermögen ist prinzipiell unbegrenzt. „Das Objekt wird durch das Erkennen nicht verfälscht; denn es liegt ja gerade im Wesen des Erkennens, Dinge zu erfassen, wie sie wirklich sind“ (ebd.). Im Gegenteil gewinnt das Objekt sozusagen eine neue Seinsweise hinzu, die es vorher nicht hatte. Deshalb sagt der heilige Thomas von Aquin, daß niedrigere Gegenstände durch unsere Erkenntnis gewissermaßen „geadelt“ werden. Umgekehrt werden wir durch die Erkenntnis höherer Gegenstände erhoben, wie z.B. durch die natürliche Erkenntnis Gottes, mehr noch aber die übernatürliche Erkenntnis im Glauben wie z.B. die Erkenntnis der Unbefleckten Empfängnis.
Zusammenfassend läßt sich also sagen: „5. Erkennen ist somit in seiner Grundhaltung Erfassen von gegebenen Gegenständen.“ Und: „6. Unser Erkennen ist unvollkommene Erfassung der Dinge; aber unvollkommene Erkenntnis ist keine falsche Erkenntnis“ (ebd.). Eine wichtige Bemerkung! Es ist, wie der heilige Paulus sagt: „Stückwerk ist unser Erkennen“ (1 Kor 13, 9), doch macht es diese Unvollkommenheit nicht zugleich falsch. Das gilt namentlich für die Glaubenserkenntnis, von welcher der Völkerapostel hier spricht, die erhaben und vollkommen wahr, aber noch unvollkommen ist, bis wir die Wahrheit „von Angesicht zu Angesicht“ schauen werden. „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin“ (1 Kor 13, 12).
Was ist Wahrheit?
Steigen wir nun vollends ein in die „Kriteriologie“ und beginnen mit dem Begriff der Wahrheit, der schon einem Pontius Pilatus Schwierigkeiten gemacht hat, weshalb er angesichts der vor ihm stehenden menschgewordenen wesenhaften Wahrheit fragte: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18, 38). Kälin gibt folgende „Begriffsbestimmung“: „Wahrheit allgemein ist Übereinstimmung zwischen Ding und Erkennen“ (S. 339), schließt also immer Subjekt und Objekt mit ein. „Die logische Wahrheit, um die es sich in der Kriteriologie handelt, besteht in der erkannten Übereinstimmung des urteilenden Verstandes mit dem Ding“ (ebd.). „Das Maßgebende“ dabei „sind die Dinge“, der Verstand ist das „Maßempfangende“. „Das Urteil des Verstandes muß darum in dem, was es behauptet, mit dem Sachverhalt der Dinge sich decken, damit es logisch wahr ist“ (ebd.). Das ist es, was die Wahrheit dem liberalen Geist so unangenehm macht. Er fühlt sich dadurch in seiner „Freiheit“ beeinträchtigt, weil er sein Urteil den Dingen anpassen muß statt umgekehrt.
Wir müssen beachten: Für die „Wahrheit der Erkenntnis“ ist es „nicht erfordert, daß alles erfaßt wird, was im Ding ist; denn so gäbe es für uns Menschen überhaupt keine wahre Erkenntnis, sondern nur für Gott, weil kein Mensch eine erschöpfende Erkenntnis auch nur vom kleinsten Atom besitzt“. Wie wir oben schon sagten: Die menschliche Erkenntnis ist unvollkommen, auch wenn sie wahr ist. Es wäre vermessener Geistesstolz, wollten wir uns eine vollkommene Erkenntnis der Dinge anmaßen und alles andere als unzulänglich verwerfen. Vielmehr ist die „Wahrheit des Urteils“ vorhanden, „wenn das, was behauptet wird, wirklich im Ding ist“. „So ist die Aussage: der Apfelbaum blüht, wahr, wenn es tatsächlich so ist, obwohl der Apfelbaum daneben noch viele andere Seinsinhalte besitzt, die in jenem Urteil nicht ausgesprochen, aber auch nicht geleugnet sind“ (ebd.). A fortiori gilt das für die übernatürlichen Dinge, die wir in Ewigkeit nicht erschöpfend erfassen werden.
Grade der Wahrheit
Aufgrund der Unvollkommenheit unserer Erkenntnis gibt es verschiedene „Grade der Wahrheit“. Zwar läßt die logische Wahrheit, „formell genommen“, „keine Grade zu; denn entweder stimmt das Urteil mit dem Sachverhalt des Dinges überein oder nicht; ein Mittleres gibt es nicht“. „Deckt sich das Urteil mit dem Sachverhalt des Gegenstandes, so ist die Erkenntnis wahr; z.B. 2 + 2 = 4. Weicht aber die Behauptung auch noch so wenig davon ab, so ist sie falsch, z.B. 2 + 2 = 3,999 oder 2 + 2 = 4,00001“ (ebd.). Es gibt in diesem Sinne kein „fast wahr“ oder „beinahe falsch“. „Die logische Wahrheit ist bestimmt durch die ontologische [seinshafte] Wahrheit der Dinge. So wie die Dinge sind, so müssen sie sich auch dem Erkennen offenbaren, wenn sie überhaupt erkannt werden (ens et verum convertuntur [Sein und Wahrheit lassen sich vertauschen])“ (ebd.). Das ist der wesenhafte Zusammenhang zwischen dem Sein der Dinge und unserem Erkennen. Deshalb erreichen wir mit unserer Erkenntnis die Dinge nicht nur in ihrem Schein, sondern in ihrem wirklichen Sein, wenn anders es überhaupt eine wahre Erkenntnis sein soll. Deshalb tritt im Dogma der Unbefleckten Empfängnis die erhabene Gottesmutter gewissermaßen „seinshaft“ vor uns, nicht nur als Erscheinung.
Formell genommen also läßt die logische Wahrheit keine Grade zu, „dem Umfange nach (d.h. materiell oder objektiv)“ aber sehr wohl. „Die Dinge können nämlich inhaltlich (objektiv) mehr oder weniger vollkommen erkannt sein, je nachdem eine größere oder kleinere Anzahl von Seinsbestimmungen eines Gegenstandes erfaßt wird“ (ebd.). Kälin bringt hier ein Beispiel, das für „Flat-Earther“ oder moderne Astrophysiker wahrscheinlich weniger geeignet, für uns einfache Katholiken aber sehr einleuchtend ist: „Erkennen wir, daß die Erde um ihre Achse sich dreht, so ist unsere Erkenntnis wahr; erkennen wir auch, daß die Erde sich um die Sonne dreht, so wird unsere Erkenntnis von der Erde vollkommener; vermögen wir auch die Zeit der Umdrehung oder die Entfernung der Erde von der Sonne usf. anzugeben, so wird der Erkenntnisinhalt immer reicher, die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit dem Gegenstande inhaltlich umfangreicher und vollkommener“ (S. 339-340). Auf diesem Prinzip beruht die sog. Dogmenentwicklung in der Kirche, bei welcher der Gegenstand des Glaubens immer umfangreicher und deutlicher hervortritt, bis er in die Form eines Dogmas gegossen wird.. Schließlich läßt die Wahrheit „auch subjektiv (intensiv) Grade zu, d.h. insofern der eine klarer und sicherer eine Wahrheit erkennt und darum ihr mit größerer Festigkeit zustimmt als ein anderer“ (S. 340). Das leuchtet unmittelbar ein. Natürlich hat der Experte (wie der Theologe) eine bessere Einsicht in die Wahrheit als der sog. Laie.
Gegenteil der Wahrheit
Das „Gegenteil der Wahrheit“ ist die „Falschheit oder der Irrtum“, „nämlich das Nichtübereinstimmen des Verstandesurteils mit dem Dinge“. „Der Irrtum besteht also darin, daß der Gegenstand anders beurteilt wird, als er wirklich ist, sei es, daß man von ihm etwas aussagt, was er nicht ist oder besitzt (z.B. Dublee ist Gold) oder von ihm etwas leugnet, was ihm tatsächlich zukommt (z.B. Dublee ist kein Metall). Hingegen besteht der Irrtum nicht darin, daß ein Gegenstand nicht allseitig oder nicht vollkommen erkannt wird“ (ebd.).
Wie die Wahrheit, so läßt auch die „Falschheit“ verschiedene Grade zu, und das „nicht bloß dem Umfange nach (objektiv) und subjektiv, sondern auch formell“. Wie das? „Weil der Irrtum formell ein Nichtübereinstimmen des Verstandesurteils mit dem Gegenstande ist, das Nichtübereinstimmen aber größer oder kleiner sein kann, so kann es davon verschiedene Stufen geben. So ist das Urteil weiter von der Wahrheit entfernt, wenn jemand ein Stück echtes Gold nicht als ein Metall betrachtet, als wenn er es für Dublee hält; oder die Behauptung 3 x 3 = 37 falscher als 3 x 3 = 10“ (ebd.).
Anwendung
Wenden wir das bisher Erarbeitete auf das Dogma der Unbefleckten Empfängnis an: Die Kirche hat immer schon die Wahrheit geglaubt, daß die allerseligste Jungfrau als Mutter Gottes frei von jeder Sünde war. Im Lauf der Jahrhunderte und durch theologische Durchdringung wurde diese Wahrheit immer klarer und vollkommener erfaßt, zunächst aber noch nicht von allen, bis das Dogma die volle Erkenntnis formulierte, daß „die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde“.
Seither kann niemand von dieser Wahrheit auch nur in einem Punkt abweichen, ohne in Irrtum, hier in Glaubensirrtum, d.h. Häresie zu verfallen. Dabei kann die Häresie sich mehr oder weniger weit von der Wahrheit entfernen. Jemand mag behaupten, die Muttergottes sei erst nach ihrer Empfängnis, aber bereits im Mutterschoß von der Erbsünde gereinigt worden, ein anderer sagt, sie sei überhaupt nicht frei von der Urschuld gewesen, weder vor noch nach ihrer Empfängnis. Obwohl erstere Aussage näher an der Wahrheit liegt als letztere, ist beides Häresie. In der Regel wird man finden, daß Irrtümer umso gefährlicher sind, je mehr sie der Wahrheit ähneln.
Fortsetzung folgt