Pilger der Hoffnung (1/2)

Die diesjährige Advents-Spendenaktion der „Piusbruderschaft“ stand unter dem Motto „Heiliges Jahr 2025“. Als ein „Heiliges Jahr der Hoffnung und Erneuerung“, wurde es vom „Distriktoberen“ für Deutschland angepriesen. „Viele fühlen sich angesichts der Veränderungen und der aktuellen Entwicklungen verunsichert und verloren“, zeigt der Pater sein Mitgefühl. „Doch inmitten dieser Umbrüche möchten wir als Gemeinschaft diesen Seelen einen festen Anker der Hoffnung und des Glaubens bieten.“ Dieser „Anker“ lag in Form einer Broschüre bei, die ein Programm der „Herz-Jesu-Verehrung“ für das „Heilige Jahr 2025“ enthält. Denn, wie der hochwürdige Herr im Vorwort zu diesem Heftchen erklärt: „Ein Heiliges Jahr ist ein Jahr der Gnade und Barmherzigkeit. Angesichts der Not der Seelen, die verschärft wird durch die Gottlosigkeit staatlicher Gesetze und durch die Krise innerhalb der Kirche, ist es unsere Aufgabe, entschieden in die Nachfolge Jesu Christi, unseres Herrn und Meisters, zu treten.“ Das ist schön!

Zentrale Anliegen

Die „zentralen Anliegen“ der „Piusbrüder“ sind dabei die folgenden: „Erstens die gemeinsame Sühnekommunion an den Herz-Jesu-Freitagen von Januar bis September 2025.“ Warum nur „von Januar bis September“ und nicht das ganze Jahr, erschließt sich uns nicht. Offensichtlich haben die „Piusbrüder“ ihr „Heiliges Jahr“ auf ein „Heiliges Dreivierteljahr“ vekürzt. „Zweitens das Gebet für Berufungen: Um dem wachsenden Zulauf der Seelen gerecht zu werden und die Arbeit auf mehr Schultern verteilen zu können, brauchen wir dringend Priester, aber auch Ordensbrüder und Schwestern, welche die Priester in ihrer Arbeit unterstützen und vor allem durch ihr Gebet die Gnaden Gottes herabziehen.“ Doch mahnend fügt Hochwürden hinzu: „Skandale und negative Beispiele zeigen, dass es nicht genügt, um Berufungen zu beten. Es ist ebenso notwendig, für die Priester und Ordensleute zu beten, damit sie ihrer Berufung treu bleiben. Deshalb gesellen wir dem Gebet um Berufungen das Gebet um die Treue der Berufenen bei.“

Daß es vielleicht nicht nur notwendig wäre, zu beten, sondern auch etwas für die Berufungen und namentlich die „Treue der Berufenen“ zu tun, gerade als „Oberer“ (z.B. indem man sich um seine Priester kümmert), das scheint er geflissentlich zu übersehen bzw. vornehm zu verschweigen (vielleicht aus Demut). Versteht sich ja auch von selbst. Nicht versäumt wurde hingegen, wie weiland bei den „Rosenkranz-Kreuzzügen“ einen „Schatzzettel“ einzuheften, den man heraustrennen kann und in welchem man seine „Sühnekommunionen“ eintragen soll. Man kann dort „das Datum, den Ort sowie besondere Einsichten oder geistliche Erfahrungen aus der Betrachtung oder der Beichte festhalten“, und auch „weitere Familienmitglieder haben die Möglichkeit, eigene Eintragungen vorzunehmen“. Das ist in der Tat sehr fürsorglich!

Ansonsten findet sich für jeden Monat (und diesmal sind, anders als in der Liste, sogar die Monate Oktober bis Dezember berücksichtigt) ein hübsches Bild auf der einen und ein kurzer besinnlicher Text auf der anderen Seite samt den jeweiligen Terminen für die „Sühnekommunionen“ am Priesterdonnerstag, Herz-Jesu-Freitag und Herz-Mariä-Sühnesamstag. Endlich, am Ende des Heftchens, werden wir belehrt, was ein „Heiliges Jahr“ sei und wie es sich speziell mit dem „Heiligen Jahr 2025“ verhalte, und ein kleiner Blick in die „Geschichte“ gewährt.

Das „Heilige Jahr 2025“

„Das Heilige Jahr (lateinisch annus sanctus) oder Jubeljahr (lateinisch annus jubilaeus)“, erfahren wir im ersten Punkt, „ist ein besonderes Ereignis in der katholischen Kirche und wird alle 25 Jahre gefeiert. Ziel des Heiligen Jahres ist es, die Gläubigen zur Erneuerung ihres Glaubens und zur Vertiefung ihrer Beziehung zu Gott aufzurufen. Ein wichtiges Merkmal des Heiligen Jahres ist die Möglichkeit, einen vollkommenen Ablass zu erlangen, also die Vergebung der zeitlichen Sündenstrafen.“ Aha. Im geschichtlichen Überblick vernehmen wir, daß das „Heilige Jahr“ eine „lange Tradition in der katholischen Kirche“ habe und dazu diene, „den Glauben der Menschen zu stärken und sie zu einem tieferen Leben im Einklang mit christlichen Werten zu ermutigen“. Die Rede von dem „tieferen Leben im Einklang mit christlichen Werten“ hat bestimmt keine „lange Tradition“, sondern ist typisch liberal-konservativer Jargon.

Das „Heilige Jahr 2025“ speziell stehe unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“. „Papst Franziskus“ habe es „ausgerufen, um in Zeiten von Kriegen und globalen Krisen eine Zeit der Besinnung und Erneuerung zu schaffen“. „Christen und alle Menschen guten Willens sollen wieder Hoffnung schöpfen können.“ Das mit den „Menschen guten Willens“ entstammt dem (nach)konziliar-ökumenistischen Vokabular, wie es Wojtyla alias „Johannes Paul II.“ bevorzugt verwendete. „Deine Sprache verrät dich ja…“ Mit den „Menschen guten Willens“ und ihren „christlichen Werten“ fügt sich die „Piusbruderschaft“ bestens in das Motto Bergoglios von den „Pilgern der Hoffnung“, weshalb sie dieses anstandslos für ihre geplante „Romwallfahrt 2025“ übernommen hat.

Internationale Wallfahrt

Getreu dem Ruf des „Heiligen Vaters“ organisiert die „Piusbruderschaft“ „vom 19. bis 22. August 2025 eine internationale Wallfahrt nach Rom“, denn derlei „Events“ liebt sie über alles. (Wahrscheinlich hört ihr „Heiliges Jahr“ deswegen im September auf, weil sie ja dann ihre Wallfahrt hinter sich haben.) „Bereits 1975 pilgerte die Priesterbruderschaft mit ihrem Gründer, Erzbischof Marcel Lefebvre, im Heiligen Jahr nach Rom“, erinnert uns die Broschüre. „Auch die große Jubiläumswallfahrt im Jahr 2000 ist vielen noch in Erinnerung.“ Oh ja! Damals begann der „Prozeß der Annäherung und Verständigung“ mit dem modernistischen „Rom“, der leider nicht zum erwünschten Ziel der „kanonischen Anerkennung“ durch die „Konzilskirche“ und Eingliederung in dieselbe als „Personalprälatur“ führte.

Doch nun „möchten wir erneut als treue Söhne der Kirche nach Rom reisen, um den Jubiläumsablass zu erlangen und Zeugnis für unseren Glauben abzulegen“. „Als Katholiken sehnen wir uns nach der Ewigen Stadt und fahren gerne nach Rom, besonders in so einem Jahr.“ Und vielleicht klappt’s ja diesmal besser mit der „Annäherung und Verständigung“. „Wir freuen uns, die Gräber der Apostel zu besuchen, bei so vielen Heiligen beten zu können und den Mittelpunkt der Kirche auf dem Erdkreis zu sehen.“ Ach, ist dieser „Mittelpunkt“ nicht in Ecône, wo man immerhin die Gräber von Erzbischof Lefebvre, Weihbischof Tissier de Mallerais und „Bischof“ Huonder besuchen und bei diesen zwar wenigen, aber gerade für unsere Zeit der „Verunsicherung“ und der „Krise innerhalb der Kirche“ so übergroßen „Heiligen“ beten kann?

Wie auch immer, der „Distriktobere“ fände es „schön, wenn möglichst viele Pilger auch aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom reisen und in diesen so schweren Zeiten für die Kirche ein klares Bekenntnis ihres Glaubens und ein Zeugnis für eine echte kirchliche Gesinnung ablegen“ würden. Deshalb sind alle „Pius“-Gläubigen „herzlich eingeladen, im kommenden Jahr nach Rom zu pilgern, und wenn möglich an den offiziellen Programmpunkten der Priesterbruderschaft [die „Piusbruderschaft“ ist gemeint] teilzunehmen“. Schließlich erwartet „die Stadt Rom“ für 2025 „rund 45 Millionen Pilgerinnen und Pilger“ (das ist wunderbar gendergerecht gesagt; besser wäre noch „Pilgernde“), „also Gäste aus aller Welt“. Da dürfen die „Pius“-Leute nicht fehlen und wollen ein wenig auf sich aufmerksam machen. „Publicity“ halt.

Was ein Heiliges Jahr wirklich ist

Wir haben uns unsererseits etwas schlau gemacht und nachstudiert, was ein „Heiliges Jahr“ wirklich ist und wie es in der Geschichte begangen wurde. „Jubeljahr der Kirche, jubilaeum majus, Jubiläumsjahr, ‚Goldenes Jahr‘, heute meist ‚Heiliges Jahr‘ (= mit heiligen Gebräuchen und Gnaden ausgestattet und zur Heiligung der Gläubigen bestimmt): ein Zeitraum (Jahr), innerhalb dessen ein in besonders feierlicher Weise verkündeter Ablaß (Jubelablaß) und andere geistliche Gnaden gewonnen werden können.“ So lesen wir es in Buchbergers „Lexikon für Theologie und Kirche (LThK)“ (Band 5, Freiburg i.Br. 1933, Sp. 665). Keine Rede ist hier seltsamerweise von „einem tieferen Leben im Einklang mit christlichen Werten“. Doch egal.

„Das Jubeljahr ist seit dem Spätmittelalter eine auszeichnende regelmäßige Erscheinung des kirchlichen Frömmigkeitslebens des Abendlandes. Vorläufer waren die auch Jubeljahr genannten großen Ablaßzeiten der Kreuzzüge. Das Jubeljahr im geltenden amtlichen Sinn stiftete Bonifatius VIII für das Jahr 1300 und jedes folgende 100. Jahr als ‚plenissima omnium venia peccatorum‘ (=Sündenstrafen) für all jene, die in diesem Jahre nach reuiger Beicht an 30 Tagen (Auswärtige an 15 Tagen) die Grabeskirchen der hll. Apostel Petrus und Paulus in Rom andächtig besuchen“ (ebd.). Das klingt in der Tat etwas handfester als die schwabbelige Rede von den „christlichen Werten“. „Gleich die erste Feier des Jubeljahres verlief großartig, religiös erhebend, völkerverbindend bei der ansteigenden Sonderung der europäischen Länder und Staaten. Klemens VI bestimmte 1343 in einer Bulle von klassischer Ablaßtheologie und im Hinblick auf das altisraelitische Jubeljahr jedes 50., Urban VI. 1389 jedes 33. (= Lebensdauer des Herrn), Paul II 1470 jedes 25. Jahr als Jubeljahr, wobei es verblieb“ (Sp. 665-666).

Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon (Bd. 6, Freiburg i.Br. 1889) gibt folgende Erklärung: „Jubiläum (Jubeljahr, heiliges Jahr) heißt in der katholischen Kirche eine Zeit, in welcher in besonders feierlicher Weise ein vollkommener Ablaß (Jubelablaß) den Gläubigen dargeboten wird. Man unterscheidet ein doppeltes Jubiläum, das ordentliche, welches dermalen alle 25 Jahre wiederkehrt, ein ganzes Jahr lang, von Weihnachten bis Weihnachten, dauert [und nicht nur ein Dreivierteljahr von Januar bis September wie bei den „Piusbrüdern“] (…), und ein außerordentliches, welches ungewöhnlicher Weise, oft nur für kurze Zeit und bald für die Gesamtkirche, bald auch für einzelne Länder und Städte konzediert wird.“ (Sp. 1906). Hier beschränken sich die „christlichen Werte“ ganz auf den „Jubelablaß“.

Die Entstehung des Jubeljahres

Über die Entstehung wird uns berichtet: „Veranlassung zur Einführung des regelmäßig wiederkehrenden Jubeljahres gab das durch Aussagen uralter Leute verstärkte, mit dem Anbruch des Jahres 1300 in Rom und auswärts sich immer mehr verbreitende Gerücht, daß alle hundert Jahre ein großer Ablaß zu Rom stattfinde, demzufolge mit dem Anfang des Jahres 1300 nicht bloß viele Römer, sondern auch viele auswärtige Pilger in der Peterskirche sich einfanden, um diesen Ablaß zu gewinnen. Papst Bonifaz VIII. ließ über die Sache in dem päpstlichen Archive Nachforschungen anstellen, aber es fand sich in den alten Urkunden nichts vor. Da jedoch der Zudrang der Gläubigen zur Peterskirche von Tag zu Tag größer wurde, so entschloß sich endlich der Papst, den vermeintlichen Ablaß zur Wirklichkeit zu machen, und ließ am 22. Februar 1300 in der Peterskirche eine Bulle verkünden, worin er für das Jahr 1300 sowohl als auch für jedes folgende hundertste Jahr einen vollkommenen Ablaß (non solum plenam et largiorem, imo plenissimam omnium veniam peccatorum) allen denen erteilte, welche ihre Sünden bereuen und beichten und die Kirchen des hl. Petrus und des hl. Paulus 30mal, wenn sie Römer, und 15mal, wenn sie Auswärtige seien, besuchen würden“ (Sp. 1906-1907).

Weiter: „Nun eröffnete sich ein nie gesehenes Schauspiel. Aus ganz Europa strömten unzählige Pilger nach Rom; kaum konnten die Straßen der Stadt die auf- und abwogenden Menschenmassen fassen; viele wurden im Gewirr erdrückt. Aus Deutschland, erzählt Trithemius, kamen viele Fürsten, Bischöfe, Äbte und unzähliges Volk. Der italienische Historiker Giovanni Villani, ein zuverlässiger Augenzeuge, der damals selbst nach Rom kam, berichtet, fortwährend hätten sich im ganzen Jahr 200 000 Pilger zu Rom befunden, die Römer und die Wallfahrer auf dem Wege hin und her ungerechnet, auch seien alle Pilger gut und zur Zufriedenheit bewirtet, die Kirchen der Apostelfürsten aber reich beschenkt worden“ (Sp. 1907).

Das erste Jubeljahr

Ausführlicher und genauer finden wir die Sache bei Chrysostomus Stangl geschildert in seinem großartigen Werk „Die Statthalter Christi auf Erden“ (Regensburg 1878). Er schreibt: „Das auserwählte Volk des alten Bundes, die Israeliten, feierten nach Gottes Anordnung alle fünfzig Jahre ein Jubeljahr. In demselben erntete man nicht und säte nicht, sondern überließ sich der Freude. Um aber doch nicht darben zu müssen, sorgte der Liebe Gott dafür, daß im vorhergehenden Jahre die Ernte eine sehr reiche war, sodaß Getreide und Lebensmittel in Fülle vorhanden waren. Damit der arme Israelite sich auch der Freude dieses Jubeljahres hingeben, damit er sich mit dem Reichen ebenfalls freuen konnte, gehörte ihm der Ertrag, welchen die Äcker ohne Anbau in jenem Jahre lieferten. Dem Schuldner wurde ohne Bezahlung die Schuld nachgelassen. Hatte einer aus Not einen Acker oder sein Haus verkaufen müssen, so mußten diese im Jubeljahre ihm unentgeltlich zurückerstattet werden. War ein Israelite in Folge eines Mißgeschickes der Sklave eines anderen geworden, so erhielt er die Freiheit. Auf solche Weise wurde jedes fünfzigste Jahr für das auserwählte Volk ein Jubel- und Freudenjahr. Man schätzte sich glücklich, es erlebt zu haben.“ Diese Freude kann man gut verstehen und nachfühlen. Stangl weiter: „Dieses Jubeljahr wurzelte in der Idee, daß Gott seinem Volke das Land Kanaan geschenkt hatte. Und es war ein mächtiges Mittel, den Monotheismus, den Glauben an Einen Gott, zu erhalten, und einer der furchtbarsten Quellen menschlichen Elends, der allzugroßen Ungleichheit des Besitzes, vorzubeugen. Daher eine der segensvollsten Einrichtungen im alten Bunde.“ (S. 655)

Man würde sich wünschen, daß es so eine „segensvolle Einrichtung“ auch in den modernen Staaten geben würde. Wenigstens die Kirche hat sich daran ein Beispiel genommen, und das kam so: „Etwas ähnliches ereignete sich einige Jahre nach dem Tode des heiligen Papstes Cölestin.“ [Der heilige Cölestin V. war Papst von Juli bis Dezember 1294 und trat zurück, als er einsah, als frommer Einsiedler dem schweren Amt nicht gewachsen zu sein.] „Es kamen nämlich, ohne daß man anfangs die eigentliche Ursache wußte, ungeheure Scharen frommer Pilger nach Rom, um, wie sie sagten, den großen Ablaß zu gewinnen. Männer, Frauen, Gesunde, Kranke kamen oder ließen sich nach Rom bringen, um am Grabe der Apostel Petrus und Paulus zu beten. Die Erscheinung war um so auffallender, weil man sich in Rom nicht erinnerte, daß früher einmal ein solcher Ablaß stattgefunden hatte. Doch behaupteten die Fremdlinge, daß alle hundert Jahre ein Ablaß statt hatte. Ein Greis, der in dem Alter von hundertsieben Jahren nach Rom pilgerte, erzählte: ‚Ich erinnere mich, daß mein Vater am Ende des Jahres 1200 nach Rom gegangen war, den Albaß zu gewinnen. Auch erinnerte er mich, daß, wenn ich das Jahr 1300 erleben würde, ich ja den Vorteil eines so wunderbaren Schatzes nicht versäumen sollte.‘ In Frankreich behaupteten zwei Männer, die über hundert Jahre alt waren, das nämliche“ (ebd.).

Wie tat nun die Kirche im Hinblick auf diese seltsamen Vorkommnisse? „Auf das hin versammelte der Papst [Bonifaz VIII.] das heilige Kollegium der Kardinäle um sich und verordnete, nachdem er ihren Rat gehört hatte: ‚Damit die heiligen Apostel Petrus und Paulus mehr geehrt und ihre Kirchen mehr besucht werden, verleihen wir allen einen vollkommenen Ablaß, welche ihre Sünden wahrhaft bereuen und beichten und mit Ehrfurcht diese Kirchen während des Jahres 1300 und alle künftigen Jahrhunderte besuchen. Welche zu Rom wohnen und Anteil an diesem Ablasse haben wollen, sollen diese Kirchen dreißig Tage hindurch besuchen, vierzehn Tage aber jene, welche außerhalb der ewigen Stadt wohnen.‘“ Die Reaktion der Gläubigen war begeistert: „Das katholische Volk nahm die Verkündigung dieses Ablasses mit außerordentlicher Freude auf. Erst wollten die Römer den großen Ablaß gewinnen. Dann eilten aus Italien, Sizilien, Sardinien, Deutschland, England, Spanien, Frankreich unzählbare Menschenscharen nach Rom. Selbst Greise mit siebzig Jahren und darüber befanden sich unter ihnen. Das ganze Jahr hindurch hielten sich zweimalhunderttausend Wallfahrer in Rom auf, um dort die vom Papste verliehenen Ablässe zu gewinnen“ (S. 655-656). Freilich: „Würde aber dieser Ablaß nur alle hundert Jahre gewonnen werden, so würde nur ein geringer Teil der Christen daran Anteil nehmen können; deswegen haben spätere Päpste die Zeit auf fünfzig und jetzt sogar auf fünfundzwanzig Jahre verkürzt. Ein solches Jubeljahr ist immer ein Jahr geistiger Freuden“ (S. 656). „Geistige Freuden“, nicht „christliche Werte“!

Das Jubeljahr 1300 war in jeder Hinsicht denkwürdig. „Für einen Augenblick schien es, als sei in die Christenheit wieder die frühere Begeisterung des Glaubens und der Hingebung an Gott gekommen. Große Wallfahrerzüge sah man im sechsten Jahre der Regierung des Papstes Bonifatius nach Rom ziehen, um am Grabe der Apostel den großen Ablaß zu gewinnen, wie oben schon angedeutet wurde. Bonifatius mußte, weil die gewöhnlichen Stadttore nicht ausreichten, an mehreren Stellen die Stadtmauern ausbrechen lassen, damit die aus- und einziehenden Pilger sich nicht gegenseitig erdrückten. Und bei diesem außerordentlichen Andrange der Menschen aus allen Ländern fehlte es in der ewigen Stadt weder an Lebensmitteln für Menschen und Pferde, noch kam die geringste Unordnung vor. Ungeheure Summen Geldes legten die Pilger auf den Altar des heiligen Petrus nieder. Der Papst erhielt auf diese Weise die Mittel, um die Stadt mit allem Notwendigen zu versorgen, und es blieb ihm noch Geld, die Kirchen in Rom zu verschönern und Künste und Wissenschaften zu fördern“ (S. 662).

Die „Zeitenwende“

„So glücklich und großartig verliefen die ersten Jahre des Pontifikates Bonifatius’ VIII. Es war ein Triumph, den der Statthalter Christi feierte.“ Doch es sollte nicht dabei bleiben. „Allein in jenem Augenblicke erhob sich ein furchtbarer Sturm, der Jahrhunderte hindurch verheerend wirkte. Mit dem Schlusse des Jubeljahres, fast möchte ich sagen, mit dem letzten Dezember des Jahres 1300 wurde die europäische Welt eine andere. Wie einst der Patriarch Noe zwei Welten sah, eine vor der Sündflut und eine nach der Sündflut, so sah Bonifatius bis zum Jahre 1300 ein gläubiges Volk, das die Stimme des Statthalters Jesu Christi mit Jubel vernahm. Von da an begann die ‚Auflehnung‘ gegen den Heiligen Stuhl. Ein Geist des Widerspruches fuhr in viele Fürsten, der ihnen nicht zum Heile diente“ (ebd.).

Das erste Jubeljahr sollte zum Beginn eines vollkommenen Umschwungs werden. Im Mittelalter war es so gewesen: „Hatten die Völker des Erdkreises schon bisher mit Verwunderung auf das Papsttum gesehen, so wuchs ihre Achtung von jetzt an immer mehr. (…) Das Papsttum aber entfaltete sich in dieser Zeit und während der Kreuzzüge zur höchsten Blüte. Es trat an die Spitze der Welt und regiert die Welt. Die Völker hörten die Stimme der Statthaltern Christi wie Gottes Stimme. Und wenn Fürsten es wagten, den Päpsten zu trotzen, so gruben sie sich selbst ihr Grab, wie wir z.B. an den Hohenstaufen gesehen haben“ (S. 669). Es war gewissermaßen das helle Aufleuchten vor dem Einbruch der Finsternis.

„Aber mit dem Jahr 1300 tritt eine Änderung ein. Der Glanz des Papsttumes nimmt nach außen hin ab, und der Einfluß wird ein geringerer. Diese Veränderung tritt besonders augenscheinlich während des Pontifikates hervor, welches das dreizehnte Jahrhundert abschloß. Bonifaz VIII., regierend 1294 bis 1303, gleicht nach unserer Meinung Noe. Noe sah die Menschheit vor der Sündflut und nach derselben. Bonifatius VIII. sah im großen Jubiläum die Völker nach Rom eilen, dort mit Feuer am Grabe der Apostelfürsten beten. Er konnte einen Moment glauben, daß die alte Liebe und Verehrung für den Heiligen Stuhl fortdauerte, aber die Ereignisse nach dem Jubiläum belehrten ihn eines anderen. In Wort und Schrift wurden die Päpste geschmäht, und es begann eine Zeit tiefer Erniedrigung des Heilgen Stuhles“ (ebd.). Eine Erniedrigung, die heute, so scheint es, an ihrem tiefsten Punkt angelangt ist. Denn was wäre erniedrigender als ein „Antichrist“ auf dem „Papstthron“?

Man spricht heute viel von „Zeitenwende“. Doch wenn es eine dramatische Zeitenwende gab, dann um das Jahr 1300. „Die Zeit nach Bonifaz ist wesentlich verschieden von jener, die ihm vorausgegangen war. Diese Verschiedenheit ist so augenfällig, daß selbst die Weltgeschichte hier einen neuen Zeitabschnitt beginnt, weil auf der großen Weltbühne ebenfalls ganz neue Verhältnisse eintraten. Es beginnt eine Zeit nationaler Eifersucht zwischen den Staaten, welche die Mutter blutiger Kriege wird“ (S. 669-670). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir stehen gerade vor dem vielleicht blutigsten Krieg von allen. Und was wäre von der kaiser- und papstlosen Zeit des „großen Abfalls“ anderes zu erwarten?

Fortsetzung folgt