Holen sich die „Traditionalisten“ die „Kirche“ zurück? (1/2)

Auf der Seite des Kölner „Domradios“ fand sich vor einigen Wochen ein Interview mit Dr. Thomas Schmidinger, „Buchautor, Politikwissenschaftler und Kulturanthropologe“, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Wenn der Herrgott das Wichtigste auf der Welt ist – Katholischer Traditionalismus und Extremismus in Österreich“, erschienen im „Mandelbaum Verlag“. Seither gilt er als Experte in Sachen „Traditionalismus“ und wurde von „domradio.de“ zu diesem Thema befragt. (Eigentlich sollte für jeden „der Herrgott das Wichtigste auf der Welt“ sein, nicht nur für „Traditionalisten“ und „Extremisten“. Immerhin gibt es das erste und wichtigste Gebot, das ausnahmslos für alle Menschen gilt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus allen deinen Kräften, und von deinem ganzen Gemüte; und deinen Nächsten wie dich selbst“ (5 Mos 6, 5). Und nach den ausdrücklichen Worten Unseres Herrn Jesus Christus ist es notwendig, dieses Gebot zu halten, „um das ewige Leben zu ererben“: „Dies tue, so wirst du leben“ (Lk 10, 25.28).)

Die Strategie der „Piusbruderschaft“ und ihr „Recognize and Resist“

Die erste Frage des Interviewers galt der „Piusbruderschaft“, die „auf dem Gebiet des Bistums Regensburg … fast gelangweilt auf das Verbot durch Bischof Voderholzer reagiert und gesagt“ habe, „der würde jedes Mal ihre Priesterweihen verbieten, diesmal wäre es nur öffentlich geworden“. Dabei ging es wohl um die Ende Juli stattgefundenen „Pius“-Priesterweihen in Zaitzkofen, Nähe Regensburg. Dort läuft offensichtlich alljährlich dasselbe Spielchen ab: Die „Piusbrüder“ fragen „pro forma“ beim „Diözesanbischof“ an, ob sie ihre Weihen durchführen dürfen, der verbietet es, und sie tun es trotzdem. „Warum geben die Piusbrüder so wenig auf ein bischöfliches Verbot?“ fragt verwundert das „Domradio“. Dr. Schmidinger weiß die Antwort: „Die Piusbrüder sind der Meinung, dass die römisch-katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Pfad der reinen Lehre verlassen hat.“ Gleichzeitig seien sie „strategisch darauf ausgerichtet, die existierende katholische Kirche von innen heraus in ihrem Sinne zu verändern“. Sie wollten sie gewissermaßen „unterwandern, um sie wieder zurück auf den rechten Pfad zu bringen“, da sie „der Meinung“ seien, „dass die gegenwärtige Führung der katholischen Kirche vom richtigen Weg abgekommen ist und das dies zu korrigieren wäre“. Damit hat er die Idee des Lefebvrismus ziemlich gut erfaßt.

Sorgsam weist Thomas Schmidinger sogleich darauf hin, daß die „Piusbrüder“ keine „sogenannte sedisvakantistische Gruppierung“ seien, „die den Papst nicht anerkennt“, und auch „keine sogenannte konklavistische Gruppierung, die einen Gegenpapst gewählt hätte“. Vielmehr habe „Erzbischof Marcel Lefebvre, der Gründer der Piusbruderschaft“, „solche Gruppierungen immer aus der Piusbruderschaft ausgeschlossen“. Auch da hat er leider recht; das macht die Sache allerdings nicht besser. „Innerhalb der Piusbruderschaft“ spreche man von „Recognize and Resist“. Das ist so nicht ganz richtig. Die prägnante Formel des „Recognize and Resist“ dürfte auf den US-amerikanischen, mittlerweile verstorbenen „Sedisvakantisten“ Father Anthony Cekada zurückgehen, der damit die „traditionalistische Haltung“ griffig eingefangen hat: „den Papst [theoretisch!] als Papst anerkennen und damit auch die Legitimität der katholischen Kirche anzuerkennen, aber gleichzeitig [in der Praxis!] nicht auf seine Anweisungen und die Anweisungen anderer Amtsträger innerhalb der katholischen Kirche zu achten“, wie Schmidinger korrekt zusammenfaßt.

Den „Traditionalisten“ selber gefällt diese Kurzformel nicht, da sie ja immer behaupten, sehr wohl dem Papst und den anderen kirchlichen Amtsträgern gehorsam zu sein, nur daß sie besser wissen als diese, was sie jeweils anordnen wollten und durften und was nicht. De facto läuft es genau auf das hinaus, was Schmidinger beschreibt: „Das heißt, die Piusbruderschaft macht ihr eigenes Ding. Das ist ihre Grundhaltung. Sie versuchen mit allen Mitteln innerhalb der katholischen Kirche zu bleiben, aber ignorieren diverse Anordnungen, die sie in ihrer Handlungsfreiheit einschränken.“ „Bleiben wie wir sind“, nennen die „Piusbrüder“ das gerne.

„Bedrohung“ durch die „Piusbrüder“?

Den „Piusbrüdern“ gehe es doch vor allem darum, „die Messe in vorkonziliare [sic!] Form zu feiern“, meint das „Domradio“, ob sie denn da „überhaupt eine Bedrohung“ seien. Dr. Schmidinger kann Entwarnung geben. „Noch“ seien die „Piusbrüder“ „keine Bedrohung für die Demokratie“. Das ist interessant, daß er sofort mit „Demokratie“ kommt, wo wir die Frage eher auf den kirchlichen Bereich bezogen hätten. Doch auch hier kann der Experte uns beruhigen: „Wahrscheinlich auch noch nicht für die real existierende katholische Kirche.“ Man beachte allerdings das „noch nicht“! Die „Bedrohung“ kommt also noch?

Schmidinger verweist darauf, daß die „Piusbruderschaft“ auf eine „langfristige Strategie“ setze. „Wenn man die aktuellen Trendlinien auf lange Sicht weiterzeichnet, ist es so, dass die Piusbrüder und andere traditionalistische Gruppierungen, die heute innerhalb der katholischen Kirche am Rand stehen, wachsen, während der katholische Mainstream schrumpft. Wenn die eher liberalen oder linksgerichteten Katholikinnen und Katholiken die Kirche verlassen, dann wird der relative Raum für diese Traditionalisten und Traditionalistinnen größer.“ Genau so hatte Erzbischof Lefebvre sich das vorgestellt. „Experiment der Tradition“ hatte er dieses Manöver getauft. Scheint seine Rechnung also aufzugehen? Die „Piusbruderschaft“, weiß Schmidinger, sei „stramm organisiert“ (naja, naja…) und verfolge „ein strukturelles Projekt mit dem Ziel, die katholische Kirche zurückerobern zu wollen“. Zwar seien sie im Moment „sicher noch eine Minderheit“, doch machten ihre Priesterweihen bereits „einen erklecklichen Anteil der neuen Weihen innerhalb der katholischen Kirche aus“. Naja, Kunststück bei dem traurigen Anblick der deutschen „Diözesen“!

Ein Traum wird wahr

Gezielt versuchten die „Piusbrüder“, „innerhalb der Hierarchie und dem Klerus der katholischen Kirche Fuß zu fassen“. Die „Idee dahinter“ sei, „dass irgendwann die aus Sicht der Piusbruderschaft laschen Christen, die Liberalen und Linken, alle aus der Kirche ‚hinausgegraust‘“ wären und sie dann selber „den ‚sturmreifen‘ Haufen übernehmen“ könnten. „Wenn wir auf die derzeitige Entwicklung blicken und diese langfristig anhält, ist das mittelfristig kein völlig unrealistisches Ziel“, muß Dr. Schmidinger einräumen, „da tatsächlich der liberale und progressive Teil der katholischen Kirche zunehmend schrumpft.“ Damit könnte wahr werden, was Erzbischof Lefebvre laut Aussage seines Adepten Father Paul Robinson an Ostern 1988 im „zweiten Teil“ seines „Traums von Dakar“ phantasiert hatte:

„In diesem zweiten Teil des Traumes sah der Gründer des FSSPX voraus, wie seine Priesterbruderschaft in die Lage versetzt werden würde, die Wiederherstellung der Tradition wirkungsvoll voranzubringen. Dank dieser Anerkennung erhält die FSSPX dann ein Büro in Rom. Irgendwann danach kommt eine Kirche der FSSPX in Rom, ausgewählt aus den vielen römischen Kirchen, die nicht genutzt werden. Dann gibt es in Rom ein Priesterseminar der Bruderschaft, das viele Berufungen aus aller Welt anzieht. Und da die Mehrheit der Bischöfe aus den Priestern gewählt wird, welche in den römischen Seminaren geformt wurden, würden viele der im römischen Seminar der FSSPX Geweihten Bischöfe werden und Diözesen auf der ganzen Welt besetzen. Und die Wiederherstellung der Tradition? Aufgrund des wachsenden Einflusses der Tradition, dank der Anwesenheit der FSSPX in Rom, des römischen Priesterseminars FSSPX und der römischen Priester und Bischöfe der FSSPX würde Rom irgendwann wieder seine eigene Tradition aufnehmen.“ „Das ist ein schöner Traum“, habe „Der Erzbischof“ hinzugefügt, „aber wer weiß?“

Die „rechte Gefahr“

Befragt, wo er „aktuell ein Risiko durch die Piusbruderschaft“ sehe, weist Schmidinger auf die „Gefahr für die Kinder und Jugendliche“ hin, „die in solchen Familien aufwachsen“. Mithilfe von „eigenen Internatsschulen“ und „Homeschooling“ versuche man, „diese Jugendlichen von der Gesellschaft und von anderen katholischen Strukturen fernzuhalten, um so eine Parallelgesellschaft aufzubauen“. Dem dienten auch eigene „Jugend- und Pfadfinderorganisationen“, in denen „Kinder und Jugendliche von klein auf indoktriniert und ihnen so Lebenschancen und Entscheidungsmöglichkeiten genommen“ würden, was er ausführlicher in seinem Buche dargestellt habe (ein bißchen Werbung muß schon sein). (Da gäbe es noch einige andere, weitaus schlimmere und erfolgreichere Organisationen zu nennen – allen voran die Medien –, in und von denen „Kinder und Jugendliche von klein auf indoktriniert und ihnen so Lebenschancen und Entscheidungsmöglichkeiten genommen“ werden.) Freilich, zum Glück, seien die „Piusbrüder“ noch „sehr weit“ davon entfernt, „dass sie die katholische Kirche übernehmen oder gar die Gesellschaftsordnung, die ihnen mit katholischer Staatsreligion und einem mehr oder weniger monarchistisch verfassten katholischen Europa vorschwebt, errichten könnten“.

Da sind wir wieder bei der „Gefahr“ für die „Demokratie“, wobei Schmidinger vor allem in Frankreich „eine enge Beziehung zwischen der extremen Rechten und dem katholischen Traditionalismus“ ausmacht, weil „die extreme Rechte“ dort „immer stark katholisch“ war. In Österreich hingegen sei „die extreme Rechte traditionellerweise deutschnational und antikatholisch“, weshalb hier die „Gefahr“ wohl geringer ist. Und in Deutschland sei es „noch komplizierter“, „weil Deutschland katholische und protestantische Regionen hat“ und sich „die Rechte und der Nationalsozialismus klassisch deutschnational und eher antikatholisch orientiert“ hätten. Bei uns also Gottseidank derzeit keine „rechte Gefahr“ durch die „Piusbrüder“, zumal sie ihren „Holocaustleugner“ Williamson rechtzeitig „ausgeworfen“ haben. Uff!

„Re-Integration“ impossible

Allerdings kann sich Dr. Schmidinger eine „Re-Integration der Piusbrüder in die gegenwärtige katholische Kirche“, wie sie immer wieder mal versucht worden ist, „aktuell nicht vorstellen“. Zu unterschiedlich, ja diametral entgegen, sei die „Sicht der Piusbrüder auf die Welt, die eigene Religion und auch auf andere Religionen“ im Vergleich zur „Sicht des gegenwärtigen Papstes auf Politik, Gesellschaft und Religion“. Vorsichtshalber weist das „Domradio“ auf den Unterschied zwischen „Pius“- und „Petrusbrüdern“ hin, damit keine Verwechslung sich einschleiche. „Traditionalisten“, so lesen wir im „Abspann“, seien „Anhänger der katholischen Kirche, die sich gegen die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) wenden“, wobei man unterscheiden müsse „zwischen Gruppierungen, die sich in kämpferischem Widerspruch zur nachkonziliaren Kirche sehen“ wie die „Piusbruderschaft“, und „denen, die zwar traditionalistisch denken, aber mit dem Papst verbunden bleiben wollen“ wie die „Petrusbruderschaft“.

Wir hätten das etwas anders dargestellt. In „kämpferischem Widerspruch zur nachkonziliaren Kirche“ sehen wir weder die „Pius“- noch die „Petrusbruderschaft“. Beide versuchen nur, sich „einzubringen“, wie man so schön sagt, wobei die „Piusbrüder“ jedoch offensiver auftreten und langfristig nicht mit einer Nische in der „nachkonziliaren Kirche“ zufrieden sind, sondern sie nach ihren Vorstellungen umkrempeln wollen, wie wir oben schon gesehen haben. Sie sind zu diesem Zweck auch besser aufgestellt, da sie sich „unabhängig“ gehalten haben und nach eigenem Gusto operieren können, weshalb sie vor Selbstbewußtsein nur so strotzen. Eine „Re-Integration“ ist daher nur vorstellbar, wenn die „nachkonziliare Kirche“ so geworden ist, wie die „Piusbrüder“ sich das wünschen, damit sie selber bleiben können „wie wir sind“. Nicht sie müssen sich ändern, sondern die „Kirche“ muß das tun, damit sie sich gnädig zu ihr herablassen.

„Traditionalisten-Aussteiger“

Ab 1. September hat „Domradio.de“ einen neuen Chefredakteur in Gestalt von Renardo Schlegelmilch, einem „Journalist mit Schwerpunkt Kirche und Gesellschaft“, der seit 2008 „in verschiedenen Funktionen bei DOMRADIO.DE“ arbeitet, wie er uns dort vorgestellt wird. Außerdem „betreut und moderiert“ er „unter anderem das Podcastformat ‚Himmelklar‘“, und dort hat er ein Gespräch mit einem „Traditionalisten-Aussteiger“ geführt, das am 6. März dieses Jahres in schriftlicher Form veröffentlicht wurde. Befragt wurde ein US-Amerikaner namens Mike Lewis, der bis „zur Wahl von Papst Franziskus“ zu den „überzeugten Traditionalisten“ gehört haben soll, welche „die Legitimität der Bischöfe und des Papstamtes anzweifeln“. „Heute betreibt er die Online-Plattform ‚Where Peter is‘ und leistet Aufklärung über Traditionalisten in der Kirche.“Where Peter is“, deutsch „Wo Petrus ist“, deutet auf den dem heiligen Ambrosius zugeschriebenen Sinnspruch „Ubi Petrus, ibi Ecclesia“, „Wo Petrus ist, da ist die Kirche“.

Schlegelmilch will von Lewis wissen, wie es zu seinem „Ausstieg“ aus der „Traditionalistenszene“ gekommen sei. Lewis berichtet zunächst, daß er als „eines von vier Kindern“ in „einer sehr traditionell katholischen Familie aufgewachsen“ sei. In seiner Jugend sei die ganze Familie „in eine ganz normale katholische Alltagsgemeinde gegangen“ und seien die einzigen gewesen, welche „die Mundkommunion statt Handkommunion empfangen“ hätten. Aha, deshalb wohl „Traditionalisten“, obwohl sie „in eine ganz normale katholische Alltagsgemeinde gegangen“ sind, und das heißt doch wohl, daß sie am „Novus Ordo“ teilgenommen und nicht die „Alte Messe“ besucht haben. Aber immerhin mit „Mundkommunion“, also ganz „traditionell“! In seiner „Teenagerzeit“ hat Lewis „sehr viel gelesen, über die Freimaurer, die die Kirche infiltrieren, über die Pläne der Kommunisten und der liberalen Katholiken, die Glaubenslehre auszuhöhlen“, was ihn noch mehr ins „traditionalistische“ Eck zu rücken scheint.

„Komplett neuer Horizont“

Doch schon in seinen „Zwanzigern“, als er „geheiratet und selbst Kinder bekommen hatte“, begann er „das zu hinterfragen“, zumal er „als Erwachsener andere Probleme“ hatte. Ihm fiel auf, daß sein „eigener Glaubensansatz“ ihm nie „Halt, Kraft oder Freude“ gegeben hatte und in seinem „traditionell katholischen Leben … diese Dinge nie eine Rolle gespielt“ hätten. 2010 begab er sich auf „Sinnsuche“, auf die „Suche nach mehr, nach der Wurzel meines katholischen Glaubens“. Und da war eine Sache, die er „damals verstanden“ hatte, nämlich: „Die Traditionalisten haben eine grundsätzliche Angst, einen Argwohn gegenüber dem Lehramt. Es ist eine Angst, dass der Papst gegen die wahren Ziele der Kirche arbeitet.“ Das hat er richtig erfaßt. Diese „grundsätzliche Angst“ vor dem „Papst“, dieser „Argwohn“, dieses Mißtrauen ist ein konstitutives Element des „Traditionalismus“. Der „Traditionalist“ muß vor seinem „Heiligen Vater“ stets auf der Hut sein, sich vor ihm in Acht nehmen und gegen ihn schützen. Es ehrt Mr. Lewis, daß ihm das sauer aufgestoßen ist, und man wundert sich, daß eine solche verkehrte und ganz unkatholische Haltung gegenüber dem, der immerhin der Stellvertreter Christi auf Erden sein soll, sonst keinen „Traditionalisten“ stört.

Einmal, so erzählt Lewis, habe er einen Priester gefragt: „Woher weiß man eigentlich, ob die Lehren des Papstes häretisch sind, oder nicht?“ Der habe ihn nur entgeistert angestarrt und gar nicht verstanden, was er damit meine. Lewis war damals im Zweifel über die Lehren des „II. Vatikanums“, und jener Priester war es, der ihm dann „so richtig erklärt“ habe, „welche Rolle der Papst und die Bischöfe für uns spielen und auf welche Weise wir das katholische Lehramt definieren“, wovon Mr. Lewis zum damaligen Zeitpunkt „überhaupt kein Konzept“ gehabt und was ihm „einen komplett neuen Horizont eröffnet“ habe. Wie sehr wünschte man sich, daß viele, ja alle „Traditionalisten“ dieselbe Gnade bekämen und ihr „Aha-Erlebnis“ hätten, das ihnen einen für sie „komplett neuen“, in Wahrheit uralt katholischen „Horizont“ eröffnen würde.

Ideologie und Politik

Doch leider sei es das Denken „der Reaktionären, Konservativen, Traditionalisten in der katholischen Kirche“, daß sie zuallererst Mißtrauen empfänden, besonders gegenüber den Bischöfen, fährt Lewis fort. „Wenn man dann einen anderen Bischof irgendwo entdeckt, der deine Ansichten vertritt, egal ob in einem anderen Bistum, emeritiert oder sogar in einem anderen Land, dann wird das zumindest in deiner Überzeugung automatisch dein Bischof. Dessen Lehren folgt man.“ Das ist gut beobachtet! Genau so halten es die „Traditionalisten“. Lehramt ist für sie nicht der amtlich bestellte kirchliche Vertreter, sondern derjenige, der ihre „Ansichten vertritt“. Darum folgten sie schon in den 1970er Jahren lieber einem Erzbischof Lefebvre als ihrem „Papst“.

Nach seiner „persönlichen Bekehrung“ war Lewis zunehmend auf soziale Fragen gestoßen, welche für die „Traditionalisten“ so gut wie keine Rolle spielten, außer um sich „darüber lustig“ zu machen. „Wenn Papst Franziskus über die Bewahrung der Schöpfung redet, ist das für sie ein Signal, dass er nicht der wahren kirchlichen Lehre folgt und kein vertrauenswürdiges Oberhaupt ist.“ Lewis aber gewann „in dieser Zeit ein größeres, ganzheitliches Bild der Würde des menschlichen Lebens“ und war fasziniert, wie der 2013 gewählte „Papst Franziskus“ „selbst absolut radikal nach diesen Ideen und Prinzipien“ lebte. Gleichzeitig gewahrte er in seiner Umgebung „auch mehr und mehr Widerstand gegen Franziskus“ und war „schockiert“. Er sah jedoch ein, daß diese Haltung „viel mehr mit Ideologie und Politik zu tun hat, als mit persönlichem Glauben“, nach dem Motto: „Ich weiß, wie die Kirche aussehen soll, und wenn der Papst das anders sieht, dann ist er ein Häretiker“. Wohl eher zufällig hat Lewis auch hier ins Schwarze getroffen. Die „Resist-the-pope“-Bewegung hat „mehr mit Ideologie und Politik zu tun“ als „mit persönlichem Glauben“.

Schisma

Bei den „Traditionalisten“, glaubt Lewis erkannt zu haben, stünden „eher soziologische Argumentationen im Vordergrund“ und nicht so sehr „die Worte Jesu“. In den USA speziell habe man versucht, „Johannes Paul II.“ und „Benedikt XVI.“ für konservative politische Positionen zu vereinnahmen. Dies betreffe, wirft der Interviewer ein, doch wohl „den konservativen Mainstream der US-Katholiken, wozu man ja auch die Bischofskonferenz zählen kann“, nicht aber „die traditionalistischen Kreise, die das Konzil ablehnen, Franziskus als Häretiker betrachten und sich nun an polarisierende Figuren wie Bischof Strickland, Erzbischof Vigano oder Kardinal Burke hängen“. Lewis ist der Ansicht, „Papst Franziskus“ habe „da unfreiwillig zu einer weiteren Spaltung der konservativen Kreise beigetragen“. Denn viele „konservative Katholiken, die das Zweite Vatikanische Konzil akzeptiert haben, aber immer schon in Richtung rechts geschielt haben“, hätten sich durch „Franziskus“ brüskiert gefühlt, „vor allem, wenn sie eine Affinität für die Rituale, die Liturgie, den traditionelleren Ansatz von Papst Benedikt hatten“. Besonders in den Fragen der Geschlechtsmoral habe der Ansatz Bergoglios sie irritiert. Das dürfte einigermaßen das Phänomen beschreiben, wie aus so vielen ehemals „papsttreuen Konservativen“ auf einmal „Neo-Trads“ und „Papsthasser“ geworden sind.

Zu „jedem Reformpunkt in der Kirche“, wirft der Interviewer ein, habe es Gruppen gegeben, „die sich abgespalten haben und das nicht mittragen konnten“, wie etwa beim „Ersten Vatikanischen Konzil“ die „Altkatholiken“ oder „beim Zweiten die Piusbrüder“. Sehr schön stellt er hier die „Piusbrüder“ in die Reihe ihrer Ahnen, der „Altkatholiken“. Und ja, wer am „II. Vatikanum“ so laute Kritik übt wie die „Piusbrüder“, obwohl er es für ein ökumenisches Konzil der katholischen Kirche hält, ist kein Deut besser als jene, die damals gegen das „I. Vatikanum“ in Opposition gingen. Doch müsse, so die nächste Frage, man nun folgern, daß wir erneut an einem Punkt seien, „wo die Traditionalisten im Schisma landen“? Fürwahr, Schisma ist bei den „Neo-Trads“ der neue „Trend“. Auch Lewis hat die Beobachtung gemacht: „Im ganz praktischen Sinne befinden sich einige Kreise der katholischen Kirche jetzt schon im Schisma. Ich denke, das würden sie auch selber so bestätigen.“ Das „Kirchenrecht“ definiere „Schisma als Ablehnung der Lehrautorität des Papstes“. Das ist so nicht ganz richtig. Laut can. 751 des „neuen Kirchenrechts“ (das hier nichts anderes sagt als das „alte“) ist Schisma „die Verweigerung der Unterordnung unter den Papst oder der Gemeinschaft mit den diesem untergebenen Gliedern der Kirche“. Das ist ein wenig weiter gefaßt als nur die „Ablehnung der Lehrautorität des Papstes“. Das nur nebenbei. Zutreffend ist, daß sich die modernen „Traditionalisten“ im Schisma befinden, und zwar in jeder Hinsicht. Sie befinden sich im Schisma im Hinblick auf die wahre Kirche, weil sie sich der falschen „Konzilskirche“ zuordnen, und sie befinden sich im Schisma mit dieser, weil sie deren Autoritäten nicht folgen wollen, weil sie die „Unterordnung unter den Papst“ derselben und die „Gemeinschaft mit den diesem untergebenen Gliedern der Kirche“ (den „Progressisten“) verweigern.

Die „große Frage“

„Leute wie Strickland oder Burke“ freilich würden „sagen, der Papst selber ist Schismatiker und sie sind diejenigen, die die wahre Lehre vertreten“, weiß Lewis. Auch sehe man „mehr und mehr prominente Figuren, die sich in Richtung Sedisvakantismus bewegen, also einer Überzeugung, dass es im Moment keinen legitimen Papst gibt“ – was immerhin logischer ist als zu sagen, der „Papst“ sei „Schismatiker“. Das betreffe auch „Magazine und Webseiten, die mal der Lehre nach treu und ernst zu nehmen waren“, nun aber offen dazu aufriefen, „offizielle Lehrschreiben aus dem Vatikan zu ignorieren“, oder „ganz offen“ behaupteten, „dass der Papst den katholischen Glauben untergräbt“. Das sind aber doch wohl eher „Neo-Trads“ als „Sedisvakantisten“. Zum Glück aber, beruhigt uns Lewis, seien dies „eher die Kreise am Rand“ und „nicht die Amtskirche in den USA“, wo es seit der Entfernung von Strickland „keinen amtierenden Bischof“ mehr gebe, „der das Lehramt des Papstes infrage stellt“. Vielmehr versuche „die Amtskirche in den USA“, das „Schisma zu vermeiden“.

Die „große Frage“ sei, „wie das in der Zukunft aussieht“, ob etwa „Strickland und seine Gefolgsleute zu einer neuen Piusbruderschaft“ würden, ob sich „eine Diözese aus der Gemeinschaft mit dem Papst lösen“ werde, „weil ihr Bischof das Lehramt nicht akzeptiert“. Davon sei man zwar „noch ein ganzes Stück entfernt“, zumal der „große Teil des Widerstandes gegen den Papst“ aus „dem Internet und den Sozialen Medien“ komme. Doch wer sich „allgemein am ehesten durch Internet-Propaganda radikalisieren“ lasse, seien „alleinstehende junge Männer“, und zu diesen gehörten – leider – „Seminaristen und junge Priester“. Lewis hat daher die „große Angst“, „dass diese Generation junger Priester irgendwann wichtige Funktionen in der Hierarchie als Bischöfe oder Prälaten übernimmt“. „Katholiken, die ihren Glauben ernst nehmen, die die kirchliche Lehre hochhalten, werden von dieser Bewegung sicher mitgerissen“, fürchtet Mr. Lewis. Schon traut er sich unter US-Katholiken kaum mehr den Mund aufzumachen, seien diese doch „zum großen Teil sehr anti-Franziskus“, wozu auch die „Pandemie und die Debatte um die Impfstoffe beigetragen“ hätten, denn „Impfskepsis“ war nach seiner Erfahrung „der absolute Mainstream oder die Meinung der überzeugten Laien in den USA“, weshalb viele von ihnen zu Strickland halten. Auch „einige Bischöfe“ seien wohl „auf der gleichen Linie“, munkelt Lewis, und „all das sollte dem Vatikan wirklich Sorgen bereiten“. Ähnlich wie oben Dr. Schmidinger sieht also auch Mr. Lewis offensichtlich eine „Gefahr“ oder „Bedrohung“ durch die „Traditionalisten“. Diese könnten mehr und mehr die „katholische Kirche“ an sich reißen – genau wie ein Erzbischof Lefebvre sich das einst erträumt hatte: die „Bekehrung Roms“ durch das „Experiment der Tradition“.

Fortsetzung folgt