Die Vorsehung Gottes ist überaus wunderbar und zudem für uns Menschen sehr schwer verständlich, was man am Leben der Heiligen oder heiligmäßig lebender Menschen besonders erkennen kann. Manche Heilige führen ein ganz einfaches und behütetes Leben, andere hingegen werden in wilde Abenteuer gestürzt, so daß einem der Atem stockt. Die einen werden schon von ihren Zeitgenossen als Heilige verehrt, andere stehen bis zu ihrem Lebensende in dem Verdacht, bloße Betrüger zu sein. Zu den wohl umstrittensten Frauen zählt Marie des Vallées. Den einen gilt sie als Besessene, den anderen als eine Heilige mit einem ganz und gar außerordentlichen Sühneleiden betraut.
Marie des Vallées, die in einer Bauernfamilie in der Normandie aufwuchs, verlor ihren Vater schon im Alter von 12 Jahren. Als die Mutter wieder heiratete, zeigte sich, daß der Stiefvater gewalttätig und unberechenbar war, weshalb Marie das Elternhaus verließ und ein Wanderleben begann. Ihr Leben war ein Geheimnis und stellt für uns moderne Menschen eine Herausforderung ganz besonderer Art dar. Hinter diesem befremdlich wirkenden Leben einer besonders Begnadeten, zeigt sich eine außer-gewöhnliche Heiligkeit, die vor allem durch den hl. Johannes Eudes, dessen vertraute Ratgeberin sie war, bezeugt wurde. Aber auch andere legten Zeugnis für sie ab. Noch zu ihren Lebzeiten wurde etwa einer heiligmäßigen Karmelitin, Maria vom hl. Sakrament, die Offenbarung zuteil, daß ein armes, verborgenes, verachtetes Mädchen, das als Hexe und Verrückte angesehen werde, den Strom des göttlichen Zornes aufhält, der nahe daran sei, die Erde zu überfluten. Dieses Mädchen diene dem Zorn Gottes als Damm und würde die Machenschaften seiner Feinde zunichtemachen. Es wohne in Coutances (Normandie). Die Karmelitin von Pontoise hatte noch niemals etwas über Marie des Vallées gehört und kannte sie dennoch so gut! Außerdem erschien Marie des Vallées nach ihrem Tod mehrere Male der Dienerin Gottes Katharina von St. Augustin, die im Jahr 1648 die Andacht zu den heiligsten Herzen Jesu und Mariä nach Kanada übertragen hatte. Bei der Einweihung der Kathedrale von Québec z. B. schaute diese bedeutende Ordensfrau den Herrn umgeben von einigen großen Heiligen, darunter Marie des Vallées, „die nicht die Letzte unter ihnen war“.
Die Vollkommenheit der göttlichen Liebe
Marie war von Gott in ganz besonderer Weise auserwählt worden, Sühne zu leisten für die vielen und großen Beleidigungen des göttlichen Herzens in der anbrechenden Neuzeit. Darum gab ihr Gott einen großen Haß gegen die Sünde ein. Sie nannte sich selbst einen vergifteten Pfeil zu deren Vernichtung. „Wenn ich wüßte, daß ich eine Sünde begangen hätte“, erklärte sie, die davor eine außergewöhnliche Furcht hatte, „würde ich sie unter Trommelschlag öffentlich auf den Straßen bekennen, damit meine Beschämung größer wäre und ich so die schuldige Buße und Genugtuung leistete.“
Täglich betete sie ein Gebet von P. Coton SJ, den sie in der Folge (1625) persönlich kennenlernte und dessen „Verdienste, Geist, Gelehrsamkeit, Frömmigkeit, Klugheit und Erfahrung“, nach den Worten des hl. Johann Eudes, in ganz Frankreich genugsam bekannt waren. In diesem Gebet heißt es u. a.: „Ich entsage dem Recht meines freien Willens in dem Maße und sooft, als ich der Versuchung ausgesetzt bin und in Gefahr Dich zu beleidigen. Höre also nicht auf, mich zum Guten zu zwingen, ohne Rücksicht auf meine Freiheit… Wenn Du sie berücksichtigen willst, erwäge, daß es mein Wille ist, das Böse nicht zu wollen. Mein freier Wille soll von Dir als unfrei behandelt werden, denn er entsagt mit Deiner Gnade unbedingt auf sein natürliches Recht; die Freiheit, das Böse zu tun, ist ja keine Vollkommenheit. Wie Du, mein Vorbild, Deiner Natur nach nicht sündigen kannst, soll auch ich durch die Gnade nicht mehr sündigen können… so wie die Seligen, die Dich lieben müssen, ohne ihren freien Willen zu verlieren. Denn wahrlich, Deine Werke zerstören sich nicht gegenseitig und Gnade und Herrlichkeit verderben die Natur nicht, sondern vervollkommnen sie.“
Im Grunde weiß jeder Katholik, daß der Wille Gottes über allem steht und immer anzubeten ist. Dennoch fällt es uns so schwer, uns diesem göttlichen Willen rückhaltlos anzuvertrauen. In seinem Büchlein „Der Wille Gottes“ schreibt der hl. Alfons Maria von Liguori:
„Unsere ganze Vollkommenheit besteht darin, unseren über alles liebenswerten Gott zu lieben: Die Liebe ‚ist das Band der Vollkommenheit‘ (Kol 3, 14). Nun, unseren Willen mit dem allheiligen Willen Gottes zu vereinigen: Das ist die ganze Vollkommenheit der göttlichen Liebe. Die hauptsächliche Wirkung der Liebe, so lehrt der hl. Dionysius, ist genau dies: Die Vereinigung der Willen, so daß bei denen, die sich lieben, nur mehr ein Wille bleibt. Je mehr also eine Seele dem göttlichen Willen geeint ist, um so größer wird ihre Liebe sein.“
Der erbsündlich belastete Mensch hat eine seltsame Scheu, ja zuweilen sogar einen Widerwillen, sich ganz dem Willen Gottes anzuvertrauen. Es treibt ihn die freilich ganz und gar unbegründete Furcht um, Gott könnte etwas allzu Scheres und Leidvolles verlangen. Deswegen ziehen die allermeisten Menschen ihren eigenen Willen dem Willen Gottes vor und bilden sich dabei tatsächlich ein, daß dies das Bessere ist. Es fällt uns Menschen außerordentlich schwer, diesen so schwerwiegenden Irrtum zu überwinden. Der hl. Alfons erklärt:
„Ohne Zweifel sind Gott die Abtötungen, die Betrachtungen, die hl. Kommunionen, die Werke der Nächstenliebe wohlgefällig; aber unter welcher Bedingung sind sie es? Nur dann, wenn sie Seinen heiligen Willen als Richtschnur haben. Wenn dagegen bei all diesen Werken Sein heiliger Wille abwesend ist, so sagt man noch zu wenig, wenn man sagt: Er nimmt sie nicht an. Vielmehr sind sie Ihm ein Abscheu und Er bestraft sie. Stellen wir uns zwei Diener vor: Der eine ist den ganzen Tag in Bewegung, ohne einen Augenblick zu ruhen; aber er will nur nach seinem Kopf handeln. Der andere macht sich weniger Mühe, aber er gehorcht in allem. Wer von den beiden wird seinem Meister gefallen? Sicherlich der zweite und nicht der erste.“
Der Weg zur wahren Freiheit
Das beharrliche Bemühen, immer den Willen Gottes zu erfüllen, ist der Weg zur wahren Freiheit des Menschen: … die Freiheit, das Böse zu tun, ist ja keine Vollkommenheit. Wie Du, mein Vorbild, Deiner Natur nach nicht sündigen kannst, soll auch ich durch die Gnade nicht mehr sündigen können …
Zwei Jahre lang hat Marie des Vallées Gott inbrünstig angefleht und Ihn unablässig bestürmt, ihr doch die Möglichkeit einer Sündenschuld zu nehmen, wenn sie auch hundertfach die sie begleitende Sündenstrafe dulden müßte. Da offenbarte sich ihr eines Tages der göttliche Wille in einer rein geistigen Schau. Diese war so klar, daß es ihr unmöglich schien, daran zu zweifeln. Was wir mit unseren leiblichen Augen schauen, erschien ihr dagegen wie ein Schatten. Gottes Wille erklärte ihr also wie „eine gegenwärtige Wahrheit“, um zu einem so hohen Grad der Vollkommenheit zu kommen, sei ein gänzlicher Austausch ihres Willens mit dem heiligsten Willen nötig. „Du verlangst“, so wurde ihr gesagt, „daß Gott dir deine Freiheit nimmt… und daß er dir die Seine gibt… Im Übrigen möchtest du oft kommunizieren. Wenn man dir aber deinen Willen nimmt und ihn durch den göttlichen ersetzt, wirst du nicht mehr das tun, was du tun möchtest. Ich könnte dir sogar die hl. Kommunion vollständig nehmen. Darum überdenke wohl, was du verlangst. Der königliche Weg, den alle Heiligen gingen, ist die hl. Kommunion. Der Weg, den du gehen möchtest, ist sehr schwierig und mühsam. Bedenke also, was du tun willst.“
Dem Eigenwillen entsagen
Gottes Allwissenheit übersteigt unsere Vorstellungen und Wünsche unendlich. Wer sich ganz dem Willen Gottes anheimgibt, muß ganz auf seinen eigenen Willen, auf die eigenen Wünsche und Vorstellungen verzichten. Mag es sich um noch so heilige Dinge handeln wie etwa die hl. Kommunion. Dafür gibt es viele Beispiel in den Leben der Heiligen.
„Der heiligste Wille ist Gott“, überlegte Marie, „die heilige Kommunion ist Gott. Wenn ich jeden Tag kommuniziere, kann ich noch sündigen. Wenn mein Eigenwille vernichtet ist und Gottes Wille ihn ersetzt, werde ich Gott nicht mehr beleidigen, denn nur mein Eigenwille kann sündigen. Deshalb entsage ich von ganzem Herzen meinem Eigenwillen und übergebe mich dem anbetungswürdigsten Willen meines Gottes, damit Er mich so vollkommen in Besitz nehme, daß ich Ihn niemals mehr beleidigen könne.“
Hierauf bereitete sich Marie ein weiteres Jahr darauf vor, ihren Willen durch den Willen Gottes ganz ersetzen zu lassen. Schließlich sagte ihr der göttliche Wille in der Kathedrale von Coutances feierlich: „Die Stunde ist da, das auszuführen, was du so sehr verlangt hast, nämlich, daß dir dein Wille genommen und dir Gottes Wille dafür gegeben wird.“
Nochmals wurde sie auf die Größe des Opfers aufmerksam gemacht und es wurde ihr zu wissen gegeben, Gott könne ihr die hl. Kommunion nehmen, ja, sie sogar zu den Teufeln in die Hölle schicken. „Ich sah so viele Dornen“, sagte Marie, „so viel Kummer und Schmerz und Angst, so viele und schreckliche Qualen, die ich leiden müßte auf dem von mir erwählten Weg, daß ich am ganzen Leib zitterte, in ganz ungewöhnlicher Weise. Trotzdem gab ich zur Antwort: ‚Ich hasse die Sünde so sehr, daß ich bereit bin, so viele Höllen zu leiden, als Gott erschaffen kann, damit sie keinen Teil an mir habe. Deshalb und da nur mein Wille sie hervorbringen kann, entsage ich ihm mit allen meinen Kräften, was immer auch geschehen mag. Ich schenke mich dem göttlichen Willen, damit Er in mir Sein Reich so vollkommen aufrichte, daß die Sünde ewig ausgeschlossen bleibe. Ich behalte mir nur eines vor: So gut es mir möglich ist, in allem der Kirche zu gehorchen.‘“
Objektiver Halt
Auch ein Heiliger, der im Willen Gottes gnadenhaft gefestigt ist, braucht einen äußeren, einen objektiven Halt, nämlich den Gehorsam der hl. Kirche gegenüber. Ganz in diesem Sinne hatte sich Marie, die zu grenzenlosem Leid Bereite, weil die Sünde grenzenlos Hassende, dem Willen Gottes rückhaltlos übergeben. Diese Hingabe zeigte sich in der Folge in allen Bereichen ihres Lebens. „Sie kann nicht beten, wenn sie will“, schrieb der hl. Johann Eudes, „noch für wen sie will (den Gesunden durfte sie weniger helfen als den Kranken: ,Ihre Krankheit spricht und betet für sie‘, erklärte Marie), noch solange sie will, oder die Gebete sagen, die sie möchte. Das gleiche ist es beim Essen und Trinken (meistens darf sie nur Wasser und Brot zu sich nehmen; auch muß sie ein Büßerhemd tragen), beim Aufstehen, Zubettgehen, bei jeglichem Kommen und Gehen. Der göttliche Wille bestimmt all dies und sie ist nicht imstande, den Fuß, die Hand oder die Zunge zu rühren um anderes zu tun, als Er anordnet… Aber was das Innere betrifft, ist das noch wunderbarer, denn sie ist derart der Freiheit beraubt, ihre Seelenkräfte zu gebrauchen, daß sie sich nicht an das erinnern kann, woran sie sich nach dem Willen der Sinne erinnern möchte; noch kann sie denken, was sie möchte, oder irgendetwas wenn auch noch so Gutes und Heiliges wollen, wenn nicht der göttliche Wille es will und sie dazu befähigt.“
Außergewöhnliche Bindung an den Willen Gottes
Normalerweise ist die Bindung an den Willen Gottes nicht derart, daß jede Eigentätigkeit unmöglich wird. Doch wird uns durch diese außergewöhnliche Wirkung der Gnade bei Marie des Vallées das Ziel der Vereinigung unseres Willens mit dem Willen Gottes deutlich gemacht. Der hl. Alfons von Liguori lehrt nichts anderes:
„Die Heiligen haben niemals ein anderes Ziel vor Augen gehabt, als den Willen Gottes zu erfüllen: Sie verstanden sehr gut, daß die Vollkommenheit einer Seele nicht anderswo liegt.
‚Gott‘, sagte der sel. Heinrich Seuse, ‚verlangt nicht, daß wir große Erleuchtungen haben sollen; was Er will, das ist eine totale Unterwerfung unter Seinen Willen.‘
Die hl. Theresia von Avila sagt: ‚Die einzige Absicht dessen, der sich dem Gebet hingibt, muß die sein, mutig daran zu arbeiten, seinen Willen dem Willen Gottes gleichförmig zu machen. Seien wir überzeugt, daß darin die höchste Vollkommenheit besteht, die man im geistlichen Leben erreichen kann. Wer sich in dieser Übung mehr hervortut, wird von Gott größere Gunsterweise empfangen und wird in seinem inneren Leben schneller vorwärts kommen.‘
Die sel. Stephanie von Sozino, eine Dominikanerin, wurde eines Tages im Geist in den Himmel entrückt. Sie traf dort, im Chor der Seraphim, mehrere Personen, die sie gekannt hatte, und es wurde ihr gesagt, daß diese Seelen jenes Obermaß an Glorie verdient hätten wegen der vollkommenen Vereinigung ihres Willens mit dem Willen Gottes, den sie schon auf Erden gehabt hatten.
Der schon erwähnte sel. Heinrich Seuse sagte selbst von sich: ‚Ich möchte lieber das kleinste Würmchen sein durch den Willen Gottes als ein Seraph durch meinen eigenen Willen.‘“
Wir sollten niemals vergessen, daß unser Herr Jesus Christus hierin unser ganz großes Vorbild ist. Am Jakobsbrunnen sagte Er zu den Jüngern: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt.“ Worauf sich die Jünger wie so oft ganz verständnislos fragen: „Hat ihm denn jemand zu essen gebracht?“ Jesus erklärte ihnen: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und Sein Werk zu vollenden“ (vgl. Joh. 4, 32-34). Die Seelenspeise Jesu ist es also, den Willen des Vaters zu tun!
Drei Herzen
Diesen wunderbaren, ja göttlichen Gehorsam erklärte unser Herr Marie des Vallées in eindrücklicher Weise. ER offenbarte ihr, daß er drei Herzen habe: Das erste sei die Liebe, die ihn vom Himmel herabzog – „Das schönste Wort“, erklärte ihr der Herr, „das aus meinem Munde kam, war das Verbum caro factum est, denn Ich sagte es durch die Tat, nicht mit der Zunge“ –, das zweite, das aus dem ersten käme, sei sein Leiden und das dritte, das aus dem zweiten hervorgehe, sei das hl. Sakrament. Diese drei Herzen bildeten nur eines und ER gäbe den einen das erste, das Liebe, den anderen das zweite, das Leid, und wieder anderen das dritte, das Tröstungen sei. Schöner kann man die Reichtümer der Gnade, die uns durch das göttliche Erlöserherz zuteil wurden, wohl kaum noch erklären.
Tröstungen hatten im Leben von Marie des Vallées wenig Platz. Ihrem Geist am verwandtesten fand Marie den der hl. Katharina von Genua, die ohne Tröstungen einzig Gott und Seinem Willen lebte, Marie empfand „keine spürbare Liebe“. Daß die hl. Gertrud und die hl. Theresia manchmal nach Tröstungen verlangten, daß die hl. Angela von Foligno sich beklagte, wenn sie keine Ekstasen hatte, das war ihr unbegreiflich. Und Jesus offenbarte ihr, daß eine Seele, die den Weg der hl. Gertrud gehe, der ein Weg der Tröstungen war, Braut seiner glorreichen Menschheit ist, daß aber eine Braut seiner Gottheit mit Geißel und Strenge geführt wird.
„Wer tief liebt, tut Großes mühelos“
Oft wiederholte ihr der Herr die Worte: „Wer tief liebt, tut Großes mühelos.“ Dem ganz entsprechend bekennt auch der hl. Paulus: „Alles vermag ich in dem, der mich stärkt!“ (Phil 4, 13). Letztlich ist das das Geheimnis der Heiligen, das Geheimnis ihrer alles überwindenden Kraft.
Auch wenn Gott viel von Seinen Freunden erwartet und fordert, so läßt ER sich doch niemals von diesen an Großmut übertreffen. So offenbarte unser Herr Marie des Vallées: „Denen, die mir ihr Herz zur Wohnung geben, werde Ich das Paradies zur Wohnung geben. Denen, die sich Mir schenken, schenke Ich Mich. Die Mir ihren Willen geben, denen gebe Ich den Meinen. Aber nur sehr wenige geben ihn Mir.“
Letzteres ist eine Erfahrungstatsache, die heutzutage noch viel mehr gilt als früher. Der moderne Mensch neigt zu wohl dosierten Opfern. Er ist von einer gewissen Opferscheu geprägt. Deswegen nimmt er gegenüber Gott instinktiv eine Abwehrhaltung ein, denn Gott fordert das Opfer. Gott darf ihm daher nicht zu nahe kommen. Marie des Vallées wurde gesagt, die meisten gutwilligen würden ihren Willen um der Verdienste wegen lassen, die Vollkommensten jedoch, damit derselbe vernichtet werde. Zwei Opfer gäbe es: Die einen opferten den Isaak ihrer irdischen Freuden, die anderen hingegen sich selbst. Dieses letztere war zweifellos Maries innigster Wunsch, so wie es letztlich auch der Wunsch aller Heiligen war, wie der hl. Alfons anzumerken weiß:
„Denken wir an Gott, bemühen wir uns, Seinen heiligen Willen zu erfüllen, und Er wird sich für uns bemühen und wird unsere Interessen nicht vernachlässigen. Der Herr sagte eines Tages zu Katharina von Siena: ‚Meine Tochter, denke an Mich, und Ich werde immer an dich denken.‘ Haben wir auf unseren Lippen das Wort der heiligen Braut: ‚Mein Vielgeliebter ist mein und ich bin Sein.‘ — ‚Derjenige, den ich liebe, möge an das denken, was ich brauche. Ich will mich mit nichts anderem beschäftigen, als Ihn zufriedenzustellen und mich mit Ihm in all Seinen heiligen Wünschen zu vereinigen‘ (Hld. 2, 16).“
Heiliger Herzenstausch
Das ist der heilige Herzenstausch, den Jesus so sehr wünscht. Wie wenige sind jedoch dazu bereit? Marie des Vallées war mehr als nur bereit. Ihr weiterer Weg als Ganzopfer der göttlichen Liebe wirkt auf uns wohl eher erschreckend. Unwillkürlich fragt man sich: Wie kann Gott einem Menschen solche Leiden zumuten? Die Erklärung dafür liegt im göttlichen Ernst der Sünde, der eine unendliche Sühne fordert. Nur wenn man die Schwere der Sünde recht bedenkt, wird man begreifen können, was mit Marie des Vallées geschah, die sich ausdrücklich und rückhaltlos Gott als Sühnopfer angeboten hat. Sie war inzwischen 25 Jahre alt. Da kam plötzlich über sie eine himmlische Feuerflamme, von der auch zwei vertrauenswürdige Augenzeugen berichten. Es war eine Flamme der Liebe, die in unvorstellbarem Maße ihr Verlangen nach höllischen Qualen als Sühne für die Sünden vermehrte. Besonders wollte sie für solche Sühne leisten, die sich mit schwarzer Magie befaßten, Menschen, durch die sie selber viel zu leiden hatte.
Der Zorn Gottes
Um das Folgende besser verstehen zu können, muß man sich zunächst einmal Gedanken über den Zorn Gottes machen. Gott ist nicht zornig wie der Mensch. Der hl. Paulus schreibt über den menschlichen Zorn: „Wenn ihr zürnt, so sündigt nicht! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen“ (Eph 4, 26). Und: „Ich will, daß die Männer frei von Zorn und liebloser Gesinnung überall reine Hände zum Gebet erheben“ (1 Tim. 2, 8). Der hl. Jakobus stellt sogar ganz allgemein fest: „Wißt, meine lieben Brüder: Jeder Mensch sei schnell bereit zum Hören, bedächtig im Reden und langsam zum Zorn. Denn im Zorn tut der Mensch nicht, was vor Gott recht ist“ (Jak. 1, 19 f.). Allein daraus ergibt sich schon mit Notwendigkeit, daß der Zorn Gottes etwas anderes sein muß als der Zorn des Menschen. Beim Menschen entspringt der Zorn aus den Leidenschaften, er streitet deswegen gegen die Vernunft. Wenn der Mensch den Zorn nicht bekämpft, dann wird er ihn zu Ungerechtigkeiten hinreißen. Jeder hat es wohl schon einmal erlebt, was der hl. Jakobus feststellt: …im Zorn tut der Mensch nicht, was vor Gott recht ist. Im Zorn handelt der Mensch vorschnell und darum zumeist ungerecht. Der Zorn macht den Menschen blind für die Wirklichkeit und die Wahrheit.
Bei Gott entspringt Sein Zorn Seiner unendlichen Heiligkeit. Aus dieser folgt die absolute Zurückweisung der Sünde. Gott überschüttet Sein Geschöpf mit Wohltaten, dieses aber wendet sich von IHM ab. Diese Ungerechtigkeit fordert den Zorn Gottes heraus. Der Sünder kümmert sich nicht um Gottes Ordnung und Gerechtigkeit. Er erhebt sich über Gott und unterliegt der Urversuchung: „… und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (1. Mos. 3,5).
Viele neigen dazu, Stellen aus der Heiligen Schrift auszuklammern, in denen vom Gottes Zorn gesprochen wird. Das paßt nicht in ihr Bild, das sie sich selbst von Gott gemacht haben. Das gilt besonders auch von den Modernisten. Ihr „Gott der Liebe“ kennt keinen Zorn. Dieser erscheint den Modernisten als ein Relikt aus dem Alten Testament, in dem angeblich der Zorn Gottes im Vordergrund stand, wohingegen die Liebe Gottes noch unbekannt war. Im Neuen Bund erst habe Jesus die Liebe Gottes offenbart. Dieser Gott der Liebe kenne keinen Zorn. Mit dieser Auffassung geht die völlige Verharmlosung der Sünde einher - und die Irrlehre der Allerlösung, d.h. der Leugnung der Hölle. Letztlich kommen doch alle in den Himmel, falls es einen Himmel geben sollte, so der modernistische Irrwahn.
Wir hingegen wissen, wer sich gegen „Gottes Zorn“ wendet, wendet sich in Wirklichkeit gegen Gott, denn er reduziert Gott auf das Maß eines gewöhnlichen weltlichen Wesens. Letztlich wollen die Modernisten nicht wahrhaben, daß es jemanden gibt, der tatsächlich souverän über diese Welt herrscht, jemand, der sich nicht einfach in ein irdisches Bild einfangen läßt. Sie wollen nicht einen Gott anerkennen, der Eigenschaften hat, die wir Menschen uns nicht aneignen und nicht verstehen können. Diese Menschen übersehen, daß Gottes Zorn genau das Gegenteil von dem ist, was wir als Zorn kennen. Das gilt es zu bedenken, wenn wir die folgende Erlebnisse betrachten. An dem Tag, als die Flamme der Liebe Marie des Vallées erfaßte, stieg ihre Seele – gleich der der hl. Magdalena von Pazzi – stellvertretend für die schweren Sünder in die Hölle hinab. Dort erlitt sie zuerst den Zorn Gottes, erschauderte vor der Häßlichkeit der Sünden und spürte die Verzweiflung der Verdammten.
Dem vollkommen entgegengesetzt erklärte Marie, der Zorn Gottes gehe auch auf die Geschöpfe über; und zwar auf jedes gemäß dem Grad der Herrlichkeit und Gnade, die in ihm ist. Ja selbst die leblose Natur bat den göttlichen Richter, Marie vernichten zu dürfen. Nach Maries Worten ist der Zorn Gottes zehntausendmal schrecklicher als alles andere, also die weitaus größte Qual der Verdammten: „Je mehr sie verdammt sind, desto mehr fühlen sie Gott, oder vielmehr, seinen gegen sie so schrecklich entzündeten Zorn. Sie möchten ihn gern nicht fühlen, ja, wenn sie könnten, vernichteten sie ihn. Zu wissen, daß Gott immer Gott sein wird und daß sie ihn immer gleicherweise erzürnt erleben werden, das ist es, woran sie so furchtbar verzweifeln. Die Heiligen sehen Gott und sind in Ihm wie in einer Feuerflut der Liebe, deren Seligkeit sie durchdringt und belebt und berauscht. Die Verdammten fühlen Gott und sind in Ihm wie in einem Feuer des Zorns, das sie durchdringt und belebt und berauscht mit unvorstellbaren Qualen. Die Heiligen sehen in Gott wie in einem Spiegel alle Geschöpfe, die zu ihrer Seligkeit beitragen; die Unglücklichen, alle Geschöpfe in Wut gegen sie. Der Zorn Gottes belebt die Verdammten: einen gegen den andern, mit unversöhnlichem Haß, der die einen zu Henkern der anderen macht und sie anstachelt, sich gegenseitig zu verwünschen und zu zerreißen. Dieser gleiche Zorn belebt sie gegen sich selbst, belebt die Sinne gegen den Geist. Gottes Zorn ist die Seele der Verdammten und belebt sie so sehr, daß, wenn sie zerstückelt würden, jeder Teil so lebendig wäre wie das Ganze.“
Im Himmel beherrscht die Liebe Gottes alles. Die Heiligen sind eingegangen in die Freude des Herrn, sie sehen Gott und sind in Ihm wie in einer Feuerflut der Liebe, deren Seligkeit sie durchdringt und belebt und berauscht. Auch in der Hölle herrscht die Liebe Gottes, aber in der Form des Zornes. Denn die Liebe Gottes findet bei den Verdammten nichts liebenswertes. Durch die Sünde haben sie ihre Gottesebenbildlichkeit verloren. Wie furchtbar ist es, wenn der Bräutigam zu den törichten Jungfrauen spricht: „Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht!“ (Mt. 25, 12). Die Verdammten fühlen Gott und sind in Ihm wie in einem Feuer des Zorns, das sie durchdringt und belebt und berauscht mit unvorstellbaren Qualen.
Die Verzweiflung der Verdammten
Es fällt uns außerordentlich schwer, die Hölle zu begreifen, denn so leichtweg begeht der Mensch die Sünde, allen voran der moderne Mensch, für den jede Sünde eine bloße Lappalie ist. Gott aber haßt die Sünde ewig! Und insofern der Sünder die Sünde vor seinem Tod nicht bereut, macht sie ihn in den Augen Gottes hassenswert, eine ganze Ewigkeit hassenswert. Je mehr sie verdammt sind, desto mehr fühlen sie Gott, oder vielmehr, seinen gegen sie so schrecklich entzündeten Zorn. Die Verdammten erkennen zudem ganz klar und erschütternd tief, daß sie selbst für diesen Zorn verantwortlich sind, weil sie sich freiwillig gegen Gottes Gebote und für die Sünde entschieden haben. Zu wissen, daß Gott immer Gott sein wird und daß sie ihn immer gleicherweise erzürnt erleben werden, das ist es, woran sie so furchtbar verzweifeln. Über Marie kam ebenfalls diese Verzweiflung, „die Königin der Hölle, denn sie ist eine der größten Strafen und herrscht über alle Verdammten“. Da sie der Grund der Gotteslästerungen ist, die immerdar von Verdammten und Dämonen wie giftiger Odem ausgestoßen werden, und die folglich auch vom Mund der Besessenen zu hören sind, betete die „Heilige von Coutances“, daß keine Lästerung über ihre Lippen komme, die Gott beleidige, ja, daß ihr eher die Zunge ausgerissen würde.
Stellvertretendes Sühneleiden
Die Höllenstrafen des Geistes – auch die Sündenerkenntnis: Ihre Seele erschien ihr nun grauenhafter als der entsetzlichste Dämon – litt Marie des Vallées sechs Monate lang. Die Strafe der Sinne hingegen ertrug sie ungefähr drei Jahre, denn „der Geist ist leidensfähiger als der Leib“. Hitze, Kälte, Hunger, Durst, Foltern – dieses unschuldige Mädchen nahm ein schier unendliches Maß der Sinnenqualen willig auf sich, um fremde Schuld zu sühnen. Ein so großer Feuerherd schien sie geworden, daß sie sich erstaunt fragte: „Wie kommt es, daß ich nicht verbrenne? Wenn dieses Feuer verzehren könnte, es würde in einem Augenblick die höchsten Berge zu Asche wandeln.“ Das Feuer aber wechselte immerzu ab mit fauligem Wasser, so kalt, „daß alles Eis der Erde Feuer ist im Vergleich“. In Gestalt eines reißenden Löwen fiel der Hunger sie an: Ein ganzer Planet voll Brot hätte sie nicht mehr sättigen können. Ihren Durst begreift man, wenn man hört, daß sie während all dieser Jahre nur mehr täglich ein Stück Brot aß, das sie in Wasser tauchte, um es schlucken zu können, dann aber ausdrückte, damit nicht zu viel Flüssigkeit in ihm sei. Wenn Gottes Allmacht sie nicht erhalten hätte, wäre sie elend verdurstet. Dazu kamen die Qualen der Sinne: Sie fühlte sich wie mit eisernen Kämmen zerrissen. Und nur selten wußte sie, daß sie nicht wirklich verdammt war, sondern noch auf Erden lebte. Kam diese Wahrheit aber über sie, bot sie sich aufs neue heldenmütig als Opfer an. Niemals wird man auch nur den tausendsten Teil der wunderbaren Dinge berichten können, die der göttliche Wille in Marie des Vallées wirkte, schrieb ein Augenzeuge.
Braut Christi
Als die Jahre der höllischen Folter vorüber waren, trat eine dreijährige Schmerzenspause ein, an deren Ende ihr der ewige Vater erschien, ihr einen Kelch voll Feuer und Schwefel reichend, während sein göttlicher Sohn sie zu himmlischen Tröstungen einlud. Willfährig trank sie den Kelch und vernahm die Worte: „Meine Tochter, nimm den Kelch, den Ich meinem Sohne darbot und Ich werde ihn dir zum Gemahl geben.“
Diese ihre Leidensbereitschaft noch erhöhende Vision war der Auftakt einer zwölfjährigen Sühne, an deren Intensität gemessen die vordem erduldete Hölle nach Maries Worten „wie eine Kirsche verglichen zu einem Festmahl, wie ein Tag verglichen zu einem Jahr“ war. So sagte ihr auch der Herr: „Um deine erste Hölle zu beweinen, brauchte es ein Meer von Tränen; für diese aber brauchte es ein Meer von Blut.“
Die Last der Sünden der Welt
Gleich ihrem mystischen Bräutigam ließ sie sich mit der Schuld aller Sünden beladen, und erlitt sie früher den Zorn Gottes, so erlitt sie jetzt das Überströmen des göttlichen Zornes, wobei sie gleichfalls das Jeremiaswort erfüllte: „Er hat mich gekeltert in Seinem Zorn.“ Sieben Jahre lang weinte sie nun fast pausenlos, so daß sie ohne himmlische Hilfe erblindet wäre. Unsagbare seelische Schmerzen, Traurigkeit, Furcht, Schrecken, Grauen, verursacht durch die Last der Sünden der Welt, ließen Marie wie im Tode leben. Sie wußte oft nicht mehr, was sie war und wo sie war, wenn auch ihr Benehmen immer bescheiden und erbaulich blieb.
Der hl. Johann Eudes meint, um zu erfassen, was Marie in diesen zwölf Jahren litt, müßte man die Furchtbarkeit und Größe des Zornes Gottes verstehen können; ihre Leiden waren ja, wie der Herr ihr versicherte, eine Anteilnahme an den Seinen, eine Erneuerung dessen, was er zu leiden hatte, als er die Sünden der Welt trug und selbst, wie der hl. Paulus es ausdrückt, zur Sünde geworden war: „Er hat den, der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5, 21).
„Eine ganz neue Hölle“
„Es war eine ganz neue Hölle“, erklärte Marie in späteren Jahren, „die die göttliche Liebe für mich schuf und die in ihrer Härte, ihrer Stärke und in ihren Qualen die Hölle der Verdammten derart überstieg, daß, wenn ich (den Sinnen nach) die Wahl gehabt hätte, ich es vorgezogen haben würde, lieber ein Jahr die Qualen der letzteren zu leiden, als eine Stunde die Pein der ersteren. Die gewöhnliche Hölle war nur eine kleine Stärkung für meinen unersättlichen Leidenshunger, aber diese neue Hölle war ein ganzes Festmahl, das meinen Hunger vollständig sättigte. Unser Herr hat mir versichert, daß, wie ein kleiner Strohhalm nicht einen Augenblick in einem großen Feuer bleiben könne, ohne zu verbrennen, ich keinen Moment in dieser Hölle hätte bestehen können, wenn Er mich nicht durch ein großes Wunder erhalten hätte.“
Liebe und Leid
Während sie in ihrer ersten Hölle um Verstärkung der Schmerzen gebeten hatte, um deren Dauer zu kürzen, bat sie nun um Verlängerung der Pein, aber Verringerung ihrer Heftigkeit. „Ich habe die Hungrigen gespeist“, sagte ihr der Herr. „Ein geringerer Schmerz wäre nicht fähig gewesen, deinen Leidenshunger zu stillen. Doch nicht du bist es, die leidet, sondern Ich. Du tust nicht mehr als ein Kind, das ein Mostfaß mit einem Strohhalm rollt.“
Noch 19 Jahre darauf trug Marie Wundmale aus der ihr von der göttlichen Liebe bereiteten Hölle. „Die göttliche Liebe“, sagte Marie, „ist schrecklich und versteht es, uns mehr leiden zu lassen als die göttliche Gerechtigkeit. Alles, was ich in der Hölle durch die Gerechtigkeit litt, ist nichts im Vergleich zu dem, was mich die göttliche Liebe erdulden ließ in diesen zwölf Jahren. Ich liebe die göttliche Gerechtigkeit und finde sie wunderbar schön, sanft und angenehm, aber die Liebe ist streng und schrecklich. Sie lacht stets, doch sie schlägt hart zu. Ich zittere, wenn ich sie sehe. Wenn man sich bei ihr beklagt, lacht sie nur. Man weiß nicht, wohin sie geht, noch wohin sie führt und sie läßt einem blindlings folgen.“
Diese Beschreibung der göttlichen Liebe übersteigt unsere Fassungskraft unendlich weit. Nur derjenige, der versucht, die göttliche Liebe in Gott zu verstehen, wird das menschliche Zerrbild korrigieren: … die Liebe ist streng und schrecklich. Sie lacht stets, doch sie schlägt hart zu.
Unser Vorbild für die wahre Gottesliebe ist der menschgewordene Gottessohn, Jesus Christus, in Seinem unermeßlichen Leid. Allein durch wiederholtes Betrachten dieser Wahrheit werden wir von der allzu sentimentalen, sinnlichen Liebe befreit, um einzusehen und zu begreifen, daß es ganz wahr ist: Die göttliche Liebe ist schrecklich und versteht es, uns mehr leiden zu lassen als die göttliche Gerechtigkeit.
„Es war die Liebe“, sagte Jesus zu Marie des Vallées, „die mich geißelte, mit Dornen krönte, mich kreuzigte und sterben ließ. Es war sie, die meine Henker antrieb.“ Ein anderes Mal meinte Marie: -„Die Liebe geht in ihrem Handeln über die Vernunft hinweg, während die Barmherzigkeit willfähriger ist und besser mit der Vernunft auskommt. Die Liebe läßt uns teilhaben an der Schönheit Gottes, die Barmherzigkeit an seinen Reichtümern.“_
Liebe und Barmherzigkeit
Das sind große, wohl zu bedenkende Wahrheiten. Mit unserer menschlichen Vernunft können wir die Liebe Gottes nicht begreifen. Die Barmherzigkeit ist uns dagegen verständlicher, mehr unserm Empfinden entgegenkommend, was die Modernisten allenthalben ausnützen, um die Menschen in die Irre zu führen. Aber die göttliche Barmherzigkeit hebt die göttliche Gerechtigkeit nicht auf, beide gehören unlösbar zueinander. In Gott gibt es keine Widersprüche! Marie des Vallées außergewöhnliche Zuneigung zur göttlichen Gerechtigkeit ist uns schwer nachvollziehbar. Einem ihrer Seelenführer erklärte sie: „Wenn Ihnen Gott so wie mir die Schönheit der göttlichen Gerechtigkeit fühlen ließe, würden Sie wissen, wie herrlich es ist, sie zu betrachten, ja, Sie würden nur mehr über sie und gegen die Sünde predigen und alle anderen Predigten vergessen.“
Die Schönheit der göttlichen Gerechtigkeit
Es war besonders während der drei Jahre einer verhältnismäßigen Leidenspause, die ihrer „Hölle“ folgten, daß Marie ganz von der göttlichen Gerechtigkeit in Besitz genommen und belebt war. Wer sie in jener Zeit reden hörte, war überzeugt, daß die Gerechtigkeit Gottes selbst aus ihrem Munde sprach, so flammend waren ihre Worte gegen die Ungeheuerlichkeit der Sünde. Die göttliche Gerechtigkeit sagte ihr damals auch vieles über das zwölfjährige Sühneleiden voraus und gab ihr den innigen Wunsch ein, dieses Leiden, das Marie „das Übel der Übel“ nannte, um der Sünder willen durchzustehen. Einst sagte sie zu Marie: „Es ist etwas Seltenes, mich einmalig und furchtlos zu lieben. Die Guten fürchten und die Bösen hassen mich … Erhebe dich wie ein herrliches Morgenrot, das die Sonne ruft!“ Und Marie kündete in Ekstase: „Wenn auch alle Menschen mich daran hindern wollten, die göttliche Gerechtigkeit schön zu finden, wegen ihrer Strenge, sie könnten es nicht. Wenn möglich würde ich so oft den Tod erleiden, als Blutstropfen in mir sind, um meine Liebe zu ihr und meinen Haß gegen die Sünde zu bekräftigen. Das ist eine nicht aus mir kommende Bereitschaft.“
Zwei Gleichnisse
Der hl. Johann Eudes erzählt uns ein von Marie geschautes Gleichnis: „Die göttliche Gerechtigkeit stieg vom Himmel herab, ihre Pächter zu besuchen und deren Schulden einzutreiben. Sie war umtost vom Strom des göttlichen Zornes, der die sündige Welt ertränken sollte, und gerüstet mit Pfeilen, Schwert und Blitzstrahl. Da sah Marie, wie ihr die Barmherzigkeit Gottes zuvorkam, sie zu einer Stärkung einlud und sie mit ihrem Wein berauschte. Als die Gerechtigkeit eingeschlafen war, schloß die Barmherzigkeit den Strom des Zornes ein, damit er die Welt nicht überflute. Auch nahm sie der Gerechtigkeit Schwert und Pfeile weg und tauchte diese in unschuldiges Blut, sie in Maries Herz stoßend. Den Blitzstrahl aber gab sie der Liebe, die ihn zur Fackel erkor, zum Siegeszeichen, das sie ewig in Händen tragen wolle. Als nun Gottes Gerechtigkeit erwachte, war sie gar nicht böse, sich entwaffnet zu finden, sondern dankte der göttlichen Barmherzigkeit für ihre Stärkung und sagte ihr, sie sei so froh, daß sie ihr all ihre Pachthöfe und Pächter schenke: ,Tu mit ihnen, was du willst, sie gehören dir. Ich kehre zum Himmel zurück, um auch dir ein Fest zu bereiten.‘“
Folgendes treffliches Gleichnis wurde ebenfalls von Marie geschaut: „Drei Damen gehen mit ihren drei Kindern in einem Garten spazieren. Alle drei Kinder fallen in einen Tümpel und beschmutzen ihre Kleider. Die erste Dame sagt entschuldigend: ,Es ist eben ein Kind, man muß das Kleid trocknen lassen, dann kann man es wieder sauber bekommen.‘ Die zweite Dame nimmt ein anderes Kleid, das sie ihrem Kind über dem stark verschmutzten anstreift. Die dritte zieht ihr Kind aus, wäscht das Kleid so weiß wie zuvor und verabreicht dazu eine tüchtige Tracht Prügel… Die erste, die Fehler verhehlende, ist die Barmherzigkeit, die zweite, die Fehler verdeckende, ist die Liebe (Menschenliebe), die dritte aber ist die Gerechtigkeit, die die Sünde durch Züchtigung tilgt.“
Eine weitere Schau
In einer weiteren Schau wird Marie des Vallées nochmals ihre besondere Aufgabe, für andere zu leiden, verständlich gemacht. „Eines Tages“, erzählte sie, „sah ich mich ganz nah bei Jesus an einer wunderbaren Festtafel sitzen, zusammen mit einer großen Zahl schöner Prinzessinnen und Königinnen, auch ich wie eine Königin gekleidet. Da sah ich Jesus ins Antlitz und bemerkte, daß er nachdenklich war, als wünschte Er etwas. Sein Blick ging auf die Königinnen und auf ein Kleid, das in einer Saalecke lag, von Würmern, Schmiere und Schmutz bedeckt. Und Sein Antlitz besagte, daß es Ihm lieb gewesen wäre, wenn eine der Geladenen ihr schönes Kleid ausgezogen und aus Liebe zu Ihm die alten Lumpen angelegt hätte. Ich stand sofort auf, fürchtend, daß mir jemand zuvorkäme, und tauschte mein Kleid gegen das verschmutzte um. Dann blieb ich in der Ecke kauern, den Kopf auf den Knien. Plötzlich trat der Hausherr, Amor Dei (die göttliche Liebe) ein, sah mich an und sagte: Wie bist du hier eingetreten, ohne ein Hochzeitskleid? Ich antwortete nichts. Geh hinaus! rief der Hausherr, ziehe diese alten Lumpen aus und nimm dein Hochzeitskleid! - Nein, ich ziehe mich nicht um, ich werde das nicht tun! Da befahl er, daß man mich faßte und an Händen und Füßen gebunden in die äußerste Finsternis würfe, was auch geschah. (Das alte Kleid, legte Maria aus, war Schuld und Pein anderer, die ich auf mich nahm. Die Würmer, die alle Verdammten quälenden Gewissensbisse. Die äußerste Finsternis, die Hölle, in die ich geworfen wurde.) Jesus aber hatte die Augen immer auf mich gewandt und er sagte mir: ‚Glaubst du, daß Ich dich verlassen kann, da du doch alles aus Liebe zu mir getan hast? Nein, Ich werde den Blick stets auf dich heften und bei dir sein, wo immer du auch seist, sogar in der Hölle. Wahrlich, Ich bin bei dir in der Drangsal, Ich werde dich befreien und verherrlichen. Und das ist (für Marie) die Erklärung des Gleichnisses, das in meinem Evangelium steht.‘“
Zwölf Jahre schoß die „Flut des göttlichen Zornes“ über Marie hinweg. Niemals verlor sie in dem unvorstellbaren Leid den Mut. Sie war 43 Jahre alt, als diese bittere Sühnezeit zu Ende ging. Doch auch nachher trank Marie immer von neuem und auf verschiedene Weise von der „Wasserflut am Wege“, d. h. vom Strom des göttlichen Zornes. Der um Gnade Flehenden antwortete Jesus, daß Sein Vater, der ihn viel mehr liebe, als er Marie lieben könne, kein Mitleid mit ihm hatte, als er am Kreuze hing, sondern ihn – aus Liebe – härter behandelte, als Marie behandelt wurde.
Marie des Vallées und die Schmerzensmutter
In ihren vielen und großen Leiden wandte sich Marie der Schmerzens-mutter zu. Bevor ein besonders schweres Leiden über sie kam, sah sie gewöhnlich die Gottesmutter in Tränen. Im Jahr 1654 z. B. war es ihr Herz, das in vierfacher Weise gepeinigt wurde: jedoch nicht ihr Herz aus Fleisch und Blut, sondern das Herz ihrer Seele. Dieses geistige Herz blieb zerrissen von den Sünden anderer, den Pfeilen der Gerechtigkeit, dem Blitzstrahl des Zornes Gottes, dem Schwert der Allerseligsten Jungfrau. Schon vor Jahren hatte ihr die Gottesmutter gesagt, sie senke ihr das Schwert ins Herz, das eine Erneuerung der Schmerzen sei, die sie selbst während der Passion Jesu erlitt und das das größte ihr zugedachte Geschenk des Heiligen Geistes war. Dann werde sie es in die menschliche Natur (des mystischen Leibes Christi) senken, dessen Herz die Priester sind.
Es gibt keine Erlösung ohne Opfer, ohne Kreuz. Diese Grundwahrheit gilt es heutzutage neu zu entdecken. Je mehr die Menschenwelt sich von Gott lossagt, desto mehr wird sie in der Sünde gefangen. Dabei können diese Ketten Satans nur durch eine entsprechende Sühne gelöst werden. Das zeigt uns das Leiden von Marie des Vallées.
In der Fastenzeit 1654 sah Marie die Gottesmutter sechs Wochen lang über die „menschliche Natur“, die Braut Ihres Sohnes, weinen. Marie erkannte, daß diese aufgrund der unzähligen Sünden vernichtet wird, wenn die göttliche Allmacht sie nicht beschützt.
Welche Tränen wird wohl die Schmerzensmutter heute weinen, wo doch die Braut des Sohnes noch viel mehr gedemütigt ist als damals? Wie viele Katholiken, wie viele Heilige gab es damals noch, die Tag für Tag Sühne leisteten und somit den Zorn Gottes besänftigten?! In unseren Tagen scheint die Sünde immer noch mehr überhand zu nehmen, während die Gnadenquellen immer mehr versiegen.
Marie des Vallées erlebte an Ostern 1654 ein letztes Mal den Kampf „zwischen Tod und Leben“. Es war nach ihren Worten der Kampf zwischen dem Zorn und der Allmacht Gottes. Marie wußte, nur durch eine Vernichtung der Sünde kann die Allmacht das Werk Ihrer Hände retten. Früher hatte das noch jeder Katholik gewußt: Der entscheidende Kampf in unserer Menschenwelt ist der Kampf gegen die Sünde.
Der hl. Alfons von Ligouri zieht als Schußfolgerung aus all seinen Erwägungen:
„Sorgen wir uns darum, immer und einzig nur zu wollen, was Gott will. Durch dieses Mittel wird Er uns ganz eng an Sein Herz gedrückt halten. … Geliebt und gelobt sei auf immer der göttliche Wille sowie die selige Jungfrau Maria, die Immaculata. Amen.“
„Ich will nach Hause gehen“
„Ich will nach Hause gehen“, wiederholte Marie oft in ihrer letzten Lebenszeit, „dort ist Herrlichkeit und Freude.“
Marie des Vallées starb am 25. Februar 1656 im Alter von 66 Jahren in der betenden Obhut des hl. Johannes Eudes den Tod einer Heiligen.
(Hauptgedanken aus: Marie des Vallées, Sühnopfer für die Zeit der großen Bekehrung, von Irmgard Hausmann, Verlag Siegfried Hacker Gröbenzell)