Im Jahr 1873 schrieb Freiherr von Hodenberg „Das Gastmahl des Socrates, ein Gemälde von Feuerbach, als Spiegelbild für die Theologie der Rhetorik in der kirchlichen Bewegung unserer Zeit“. Blättern wir sein Werk ein wenig durch…
Der Vorstoß Bismarcks
Eine kirchliche Bewegung, mächtiger und aufregender als seit Jahrhunderten, geht durch die deutsche Christenheit; die erschütternden politischen Ereignisse haben, wie die liberalen Organe jubelnd verkünden, in diesem Kampfe ihren eigentlichen Grund und ihr endliches Ziel. Jedermann ahnt, und die Gegner verkünden es laut, daß dieser Streit erst in seinem Beginnen ist, daß er noch furchtbarere Wirkungen haben muß. Es ist ein neuer, in der ganzen Geschichte der Kirche Christi unerhörter Kampf, zu dem wir die Analogien nur in der Geschichte Israels finden.
Unser Autor sieht den Vorstoß Bismarcks in einem weiteren geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Bismarck kann dabei nämlich auf die lange Wühlarbeit der sog. liberalen Protestanten zurückgreifen, von denen der christliche Glaube schon lange untergraben wurde. Diese liberalen Protestanten waren die geistigen Kinder der Aufklärer. Freiherr von Hodenberg ist überzeugt: Es ist ein neuer in der ganzen Geschichte der Kirche Christi unerhörter Kampf, zu dem wir die Analogien nur in der Geschichte Israels finden.
Unser Lutheraner spricht mehrmals in seinem Buch von der Kirche Christi, wobei sich in seinen weiteren Ausführungen zeigt, daß dieser Begriff bei ihm nicht eindeutig ist. Diese Kirche Christi ist nicht einfach eine protestantische Geistkirche, aber natürlich auch keine kirchliche Institution im katholischen Sinne. So ganz kann klar wird es in dem Buch nicht, was er damit letztlich meint.
Verstand wider Tugend?
Auf den ersten Blick freilich erkennt man eine Ähnlichkeit der heutigen Lage der Kirche mit derjenigen, da sie zuerst in das erschöpfte Heidentum eintrat und die Predigt des göttlichen Gesetzes und Evangeliums gegenüberstellte einerseits dem Römischen Cäsarismus, vor dessen bürokratisch militärischer Peitsche die demoralisierten Völker in Italien und Griechenland, nach dem Verluste ihrer sittlichen Zucht und Freiheit, die Willkürgewalt vergötternd, niederknieten, und andererseits der Wissenschaft seiner Rhetoriker, welche durch ihre schönen Theorien über Tugend, Gerechtigkeit und Staatsweisheit, den eigenen Verstand vergötternd, den Verlust des Glaubens, der Sittlichkeit und Freiheit ihrer Väter vergessen machen wollten. Als im raschen Wechsel diese philosophischen Systeme sich einander abgelöst und aufgezehrt hatten, fand Paulus auf dem Aeropag nur noch die Stoiker und Epikureer, welche sich über die Phrase zankten, womit jene wie diese die Ohnmacht des natürlichen Menschen feierten; jene mit der hohlen Deklamation des Entsagens, des Nichtsbewunderns und Nichtsfürchtens, diese mit dem Prinzip der feigen Charakterlosigkeit und des Lebensgenusses. Die Predigt des Apostels duldete nicht und duldet noch heute nicht, daß wir dem Unrecht und der Sünde dieser Welt in der servilen Gemütsruhe der Epikureer entfliehen oder ihr bloß den selbstgerechten Unwillen und die kühle Gleichgültigkeit der Stoiker entgegensetzen; sie fordert Schrecken, Angst und Abscheu vor der Sünde um Gotteswillen, Lossagung und Buße im kämpfenden Glauben an die Gnade des Heilandes; sie schied und scheidet noch heute die Gläubigen von der Sünde und ihren Lügen.
Aber gegenwärtig tritt die Kirche nicht als neues Licht mit der frohen Botschaft siegesgewiß unter ermattete, entsittlichte Heiden; flüchtig, glaubensmatt wird sie gehetzt mitten in der Schar ihrer Jünger. Mit christlichen Formeln und Bibelsprüchen schmückt sich heute der epikurische Servilismus der Charakterlosigkeit und die stoische Gleichgültigkeit des Selbstgerechten; mit Bettagen und kirchlichen Dankfeiern, Christus im Munde, zieht der jetzige Cäsarismus gegen die Kirche zu Felde und fordert von jedem, bei Gott und Seinem Heiligen Worte ihn sich verpflichtend, daß er „das Kommando des Rittmeisters höher achte, als das Wort des Beichtvaters.“ Wie zur Zeit der Makkabäer steht der Greuel der Verwüstung auf dem heiligen Altar und die Alkimusse [Alkimus: Name des damaligen Hohepriesters] im hohenpriesterlichem Kleide gehen mit trügerischen Friedensworten umher, gebieten die Mauern des inneren Tempel-Vorhofes einzureißen und verklagen die, welche nicht bekennen wollen, daß Unrecht Recht sei.
(S. 1 f.)
Freiherr von Hodenberg erkennt, daß die damalige Entwicklung sich nicht mehr im Rahmen des Christlichen vollzog, sondern ein Sieg des Neuheidentums war. Dieses Neuheidentum tarnte sich freilich noch unter christlichen Formeln und Bibelsprüchen und zog mit Bettagen und kirchlichen Dankfeiern, Christus im Munde gegen die Kirche zu Felde. Fortan sollte gelten, daß der Christ das Kommando des Rittmeisters höher achte, als das Wort des Beichtvaters und er sollte Unrecht Recht und Recht Unrecht nennen, insofern es die Allmacht des Staates forderte.
Eine neue Freiheit?
Daß die Lehre der heutigen Gegner der Kirche eine neue Lehre ist, behaupten auch triumphierend ihre eigenen Propheten; jubelnd verkünden die liberalen Organe eine neue Freiheit, ein neues Heil, ein neues Ostern, eine neue Ära für die Menschheit. Wie nennen sie selbst, wie bezeichnen sie ihre Lehre? Es wäre wiederum nur begriffsverwirrend, wollten wir sie unter dem Namen Liberalismus zusammenfassen. Allerdings bilden die Politisch-Liberalen die Masse der Partei und ist dieselbe aus der modernen Aufklärungs-Wissenschaft herausgewachsen, welche Gottes Gesetz und die kirchliche Lehre von der Sünde verleugnend, sich auf dem politischen Gebiete als Liberalismus, als Revolution von oben und von unten gestaltete. Aber wir wollen hier den kirchlichen und nicht den politischen Gegensatz betrachten; auch stehen diejenigen falschen Doktrinen, welche sich auf dem politischen Gebiete als Gegensätze zum Liberalismus unter dem Namen Konservative, Monarchisten, usw. aufgestellt hatten, auf der Seite der neuen Irrlehre; daher genügt die Bezeichnung „Liberalismus“ nicht.
(S. 3)
Theologische Scheingefechte
Diese Feststellung erinnert einen an die kirchliche Situation nach dem sog. Konzil. Damals sprach man kaum vom Modernismus, obwohl alles vom Modernismus schon verseucht war. Die Progressisten zerstörten im Namen dieses Konzils alles, was noch irgendwie katholisch war, die Konservativen hielten diesen im Namen desselben Konzils entgegen, daß das nicht erlaubt sei. In allen Köpfen spukte ein Geist des Konzils umher und keiner wußte so recht, was das nun genau sei. Es gab keine klare Unterscheidung mehr zwischen modernistisch und anti-modernistisch, wie es damals keine klare Unterscheidung mehr zwischen liberal und anti-liberal mehr gab. Der Modernismus trat wie der Liberalismus in verschiedenen Formen und Farben auf, so daß er von vielen noch als katholisch angesehen wurde, sobald er etwas konservativer daherkam. Das eigentliche Unterscheidungskriterium war nämlich inzwischen verloren gegangen. Die theologischen Scheingefechte waren ein bloßes Spiel mit Worten. Es ging also genauso wie zur Zeit Freiherr von Hodenbergs um alles oder nichts, was aber fast niemand erkannte.
Die neue Lehre, welche wir die Lehre vom Staat nannten, verkündet als neues völkerbeglückendes Dogma, daß das Unrecht zum Nutzen des öffentlichen Lebens der sündigen Menschen Recht werde und daß die vollendete Übertretung des göttlichen Rechtes durch das Interesse der nationalen Selbstsucht gerechtfertigt sei. Damit wird das Evangelium von der Rechtfertigung der Sünder durch Christi Blut eine inhaltslose Phrase. Denn wo das Unrecht unter irgend einem Vorwande für Recht erklärt wird, bedarf es keiner Rechtfertigung mehr. Aber diese Irrlehre tritt nicht als bloße Heilslehre auf – als solche existierte sie längst, ohne daß wir es merkten, in der liberalen Wissenschaft und der falschen Theologie – sondern sie ist zu gewaltsamen Angriffen auf die sichtbare Kirche Christi vorgeschritten. Darin haben wir Gottes barmherziges und väterliches Kirchenregiment zu erkennen, daß Er solche Angriffe zuläßt, welche die einzelnen Christen in allen Kirchen zwingt und nötigt, Antwort zu geben und zu bekennen auf die Frage: Was hältst du von der Sünde?
Situationsethik und Rechtspositivismus
Im Hintergrund der Feststellung des neuen Dogmas – daß das Unrecht zum Nutzen des öffentlichen Lebens der sündigen Menschen Recht werde und daß die vollendete Übertretung des göttlichen Rechtes durch das Interesse der nationalen Selbstsucht gerechtfertigt sei – steht die neue Philosophie, durch welche die Möglichkeit der Erkenntnis des Wesens der Dinge geleugnet wird. Wenn aber das Wesen der Dinge nicht erkannt werden kann, dann kann es auch auf Dauer kein Gutes geben. Das Gute ändert sich vielmehr wie die Phänomene, bzw. die Umstände. Man spricht daher von Situationsethik. Je nach den Umständen kann etwas gut oder schlecht sein. D.h. in unserem Zusammenhang: Wenn das Interesse des Staates es erfordert, dann wird Unrecht zu Recht und Recht zu Unrecht. Im modernen Sprachgebrauch heißt das Rechtspositivismus.
Sinn der Zulassungen Gottes
Angewandt auf die Religion – wie von den Aufklärungs-„Philosophen“ selbstverständlich gefordert – heißt das, daß es überhaupt keine wahre Religion gibt. Jeder kann und darf und soll sich seinen eigenen Aberglauben zusammenphantasieren. Die „Erlösung“ kommt nicht aus der Religion, sondern aus der Einsicht, daß es gar keine Sünde gibt.
Die abschließende Bemerkung erinnert wiederum an die Zeit des sog. Konzils. Damals hätten die Katholiken gleichfalls erkennen sollen, daß Gott solche Prüfungen zuläßt, um uns wieder an die Grundlagen unseres hl. Glaubens zu erinnern und zur unverbrüchlichen Treue aufzufordern. Aber genauso wie die allermeisten Protestanten zur Zeit des Kulturkampfes versagt haben, hat der Großteil der Katholiken während und nach dem sog. Konzil versagt. Und selbst wenn die angeführte Frage typisch lutherisch ist – Was hältst du von der Sünde? – so wurde diese jedem Katholiken gleichfalls mit dem sog. Konzil gestellt und zwar so: Was hältst du von der Sünde der Häresie? Wurde doch kurzerhand nach dem sog. Konzil der Unglaube zum Glauben und der Glaube zum Unglauben erklärt. Die Häretiker waren plötzlich die neuen Kirchenlehrer und die Glaubenstreuen wurden als mittelalterliche Fundamentalisten diffamiert.
Was macht die Kirche ihren Gegnern lästig?
Welche Gründe machen die Anhänger der neuen Lehre geltend bei ihren Angriffen auf die Kirche? Wessen beschuldigen die Liberalen und die Vertreter des Staates die Kirche? Warum wollen sie, daß das Kommando des Rittmeisters und die moderne Wissenschaft mehr gelten sollen als das Wort des Beichtvaters? Die albernen Deklamationen über Scheiterhaufen und Inquisitionsgerichte, welche vor dreihundert Jahren dem kirchlichen Fanatismus dienten, kann man sowenig ernst nehmen, wie die Verdächtigungen, daß die Kirche die Menschen verdummen wolle. Jedermann weiß, daß der gläubige Christ den Fortschritt alles geistigen und materiell Guten nicht nur befördert, sondern daß auch gerade die eigentlichen Führer der geistigen und sonstigen Entwicklung gottesfürchtige und gläubige Männer waren. Ebenso widerspricht sich der vernünftig sein wollende Eifer gegen die biblischen Wundergeschichten durch seinen Enthusiasmus für das Darwinische Wunder, welches den Affen durch Selbstzucht vernünftiger Mensch und sprechen lernen läßt, und nicht minder steht die Anschuldigung, daß die Kirche den sittlichen Fortschritt der Völker hemme, in wunderlichem Widerspruch zu der heutigen Lehre, daß Wortbruch und Raub, Revolution und Usurpation notwendig und nützlich seien für solchen Fortschritt. Prüfen wir, von diesen Scheingründen absehend, was die Kirche ihren Gegnern lästig macht. Übt sie einen widerwärtigen Zwang aus? Legt sie besondere Pflichten und Lasten auf? Hindert sie das materielle und geistige Wohlergehen? Fordert sie überhaupt Unerschwingliches und drängt sie sich und ihre Forderungen den Menschen auf? O nein, die Kirche fordert nicht, sondern gibt; sie zwingt nicht und drängt nicht auf, sondern bietet an zur freien Annahme; sie ist keine Zwangs- und auch nicht einmal – wie ihre falschen Lehrer lehren – eine Lehranstalt, sondern eine Heils- und Gnadenanstalt; sie bietet zum Heil der Menschen Wort und Sakrament; sie verkündet zur freien Annahme, was keine menschliche Anstalt bieten kann, das Heil des Gesetzes und das Heil des Evangeliums; ihr Gesetz ist nicht eine lästige Pflichten-, Tugend-, Sittenlehre, wie die heidnische und philosophische Moral, sondern gibt die heilsame Erkenntnis der Krankheit und des Verderbens (der Sünde), und ihr Evangelium fordert nicht Opfer zum Heil vom Verderben, sondern bietet mit dem vollzogenen Opfer das vollständige Heil an.
(S. 9-11)
Das sind in der Tat überaus bedenkenswerte Sätze. Unsere heilige katholische Kirche ist die göttliche Heilsanstalt. Dazu wurde sie von Gott gestiftet, daß die Menschen das ewige Heil wieder erlangen können, das ihnen unser Herr Jesus Christus durch Seinen Sühnetod am Kreuz wiederverdient und wiedergeschenkt hat. Das aber ist das Größte, Beglückendste, Schönste, was sich überhaupt ausdenken läßt. Freilich fordert diese Einsicht eine entsprechende Entscheidung von jedem Einzelnen. Jeder muß im Glauben hinzutreten zu den Quellen des Heils und muß sodann daraus schöpfen und trinken.
Aufklärerische „Theologie“
Wie steht es damit heute? Die katholische Kirche muß das Gesetz verteidigen gegen die dasselbe leugnenden und lästernden Angriffe, und die Lutherische Kirche hat keine rechte Antwort, sie verhält sich widerstandslos, glaubensschwach und zerfahren, während ihre Theologie teils direkt an der offenbaren Verleugnung Teil nimmt… mit anderen Worten, indem sie dem natürlichen, unbußfertigen und beharrlichen Sünder das Heil, ohne Gottesfurcht, ohne Abscheu und Schrecken vor der Sünde, ohne Umkehr und Buße, geben zu können meint. Wie alt dieser Schaden ist, beweist der Umstand, daß der moderne Aufklärungsliberalismus, der auf der Verleugnung des Gesetzes und der Sünde beruht, von seinem Beginne bis zu seinem gegenwärtigen Triumphe, niemals in dieser Grundwurzel seines Irrtums seitens der Lutherischen Theologie angegriffen ist.
(S. 14 f.)
Im Gegensatz zur katholischen Kirche war die Lutherische „Kirche“ schon damals vom Liberalismus, also vom Unglauben der Aufklärer so geschwächt, daß sie gegen Bismarck keinen Widerstand mehr zu leisten vermochte. Ihre Theologen hatten meist keinen wahrhaft christlichen Glauben mehr und nahmen deswegen teils direkt an der offenbaren Verleugnung Teil. Ihre Theologie war ein aufklärerisches Geschwätz wie bei unseren Theologen heute auch.
Wenn unser Autor feststellt: Wie alt dieser Schaden ist, beweist der Umstand, daß der moderne Aufklärungsliberalismus, der auf der Verleugnung des Gesetzes und der Sünde beruht, von seinem Beginne bis zu seinem gegenwärtigen Triumphe, niemals in dieser Grundwurzel seines Irrtums seitens der Lutherischen Theologie angegriffen ist, so kommt einem das ebenfalls recht bekannt vor. Nach dem sog. Konzil erlebten wir Katholiken dasselbe. Es zeigte sich, daß bei der Aufarbeitung des Modernismus niemals die Grundwurzel dieses Irrtums angegriffen wurde. Nur eine kleine Minderheit hatte die große Sorge des hl. Pius X. geteilt, als er den Modernismus als das Sammelbecken aller Häresien und vollkommenen Glaubensabfall enttarnte. Am Ende, so sagte er voraus, steht die Gottlosigkeit des neuen Heidentums – und seine Vorhersage hat sich erfüllt. Die neuheidnische Kirche des Herrn Bergoglio zeigt es jedem, der noch Augen hat zu sehen. Wie war es damals in der Lutherischen Kirche zugegangen?
Erlösung durch Fortschritt?
Die Lutherische Kirche und Theologie waren nicht mehr im Stande, die rechte Antwort zu geben; Spener und Paul Gerhard u.a. wurden zu Märtyrern und der Pietismus flüchtete sich, um Buße und Sündenvergebung zu retten, vor der Welt ins Kämmerlein und gab die rechte Lehre vom geistlichen Amte und die Kirche als solche Preis. Unter den Händen des Rationalismus wurde das Göttliche Gesetz wieder zu einer langweiligen, heidnisch-philosophischen Tugend-, Sitten- und Pflichten-Moral, welche, statt den Menschen in der Erkenntnis seiner Sünden-Ohnmacht zum Heilsbedürfnis hinabzudemütigen, ihn zur Selbstgerechtigkeit ermutigt und erhöht, so daß statt der überflüssig gewordenen Erlösung durch die Göttliche Gnade, das Heil gegen die Mängel des menschlichen Lebens in dem rüstigen Fortschritte auf der Tugend- und Weisheitsbahn gesucht wurde, zu jenen lockenden Zielen hin – Humanität, Freiheit, Zivilisation, Einheit u.s.w. – welche eine immer närrischer werdende Wissenschaft in der Gestalt der aus dem versinkenden Heidentum entlehnten philosophischen und politischen Phrasen zu Markte brachte. So wurde unsere ganze Wissenschaft und höhere Bildung wieder heidnisch. Denn weil das Gesetz der unentbehrliche Maßstab ist, an dem wir alle menschlichen Verhältnisse der Vergangenheit und Gegenwart des öffentlichen und sozialen Lebens messen sollen, nicht um darin Tugend, Gerechtigkeit und Weisheit zu erkennen, die auch der natürliche Mensch, der Heide, mit seiner blinden Vernunft und Eitelkeit überall sieht, sondern um den Verlust der Tugend, Vernunft, Gerechtigkeit und Weisheit zu erkennen, den der natürliche, blinde und eitle Mensch ohne die Offenbarung des Göttlichen Gesetzes nicht sieht; um die Sünde, Unvernunft, Ungerechtigkeit und Torheit als verderbliche Folge des Abfalls von Gott zu begreifen; wurde die Wissenschaft, die diesen Maßstab außer Acht ließ, zur leeren Spekulation. Sie sah die Tatsachen der Vergangenheit und der Gegenwart nicht; sie feierte das klassische Altertum als goldene Ära, und hatte kein Auge für dessen Entartung und entsetzliches Ende. …
Ausleerende Gedankenspielereien
In dieser Verleugnung der wirklichen menschlichen Natur, hochmütig die Lutherische Ethik verachtend, baut die spekulative Philosophie von Spinoza bis Hegel, mit solchen Gedankenpuppen ihre Systeme auf, bis zu den jedes gesunde Denken ausleerenden Gedankenspielereien: „Sein gleich Nichtsein; Unrecht gleich Recht, und alles, was da ist, ist vernünftig.“ Aber diese Gedankenspielereien wurden geglaubt und zur furchtbaren Wirklichkeit gemacht. Der Grundirrtum des Sokratischen Heidentums, daß der Mensch nur aus Irrtum fehle und das Gute tue, sobald man es ihn lehre, eine Lüge, die jeder Katechismus-Unterricht und jede Seite der Völkergeschichte widerlegt, gab den neuen Propheten und Erlösern der Menschheit und den politischen und sozialen Parteien, die ihnen folgten, die wirksame Kraft ihres zerstörerischen Fanatismus. …
Non scholae, sed vitae discimus (nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir)
Der Grundirrtum der Moderne ist die Leugnung der Erbsünde. Auch wenn unser Lutheraner diese im Sinne Luthers als vollkommene Verderbnis unserer menschlichen Natur mißdeutet, erkennt er dennoch das Wesentliche dieser Entwicklung richtig – und viel klarer als die meisten sich katholisch nennenden Zeitgenossen! Der erbsündlich geschwächte Mensch kann nicht allein durch Unterricht wieder gut werden. Nur durch die Gnadenhilfe Gottes kann er sich aus seinem Sündenzustand befreien. Wer dies leugnet, muß eine der Wirklichkeit widersprechende Erziehung erfinden, d.h. er macht die Schule zur reinen Lehranstalt. Sein Wissen bleibt ohne Gott und ohne Tugend unfruchtbar fürs Leben. Es ist schon beeindruckend, wie unser Autor dieses Übel in einem einzigen Satz beschreibt: Unter den Händen des Rationalismus wurde das Göttliche Gesetz wieder zu einer langweiligen, heidnisch-philosophischen Tugend-, Sitten- und Pflichten-Moral, welche, statt den Menschen in der Erkenntnis seiner Sünden-Ohnmacht zum Heilsbedürfnis hinabzudemütigen, ihn zur Selbstgerechtigkeit ermutigt und erhöht, so daß statt der überflüssig gewordenen Erlösung durch die Göttliche Gnade, das Heil gegen die Mängel des menschlichen Lebens in dem rüstigen Fortschritte auf der Tugend- und Weisheitsbahn gesucht wurde, zu jenen lockenden Zielen hin – Humanität, Freiheit, Zivilisation, Einheit u.s.w. – welche eine immer närrischer werdende Wissenschaft in der Gestalt der aus dem versinkenden Heidentum entlehnten philosophischen und politischen Phrasen zu Markte brachte.
Auch ist es eine längere Betrachtung wert, wenn er feststellt: So wurde unsere ganze Wissenschaft und höhere Bildung wieder heidnisch. Wie lange haben auch wir Katholiken uns über diese Tatsache hinweggetäuscht? So lange, bis es zu spät war!
Die Loslösung des Wissens von der Verantwortung
All diese schönen Systeme und Theorien, all dieser Fanatismus und dies Pochen auf Wissenschaft und Schulbildung zerfließen in ihr Nichts vor dem einfachen: „Du sollst nicht“ des Göttlichen Gesetzes, welches das Gewissen des sündigen Menschen zum Zeugnisse seiner Ohnmacht weckend, ihn in die Wirklichkeit zurückführt. Denn, weil der Mensch auch die schönste Lehre nicht befolgt, wenn er nicht durch Gottes Wort die Kraft erlangt, dem Sündenwillen zu entsagen, so können jene Theorien nur mit Gewalt, Unrecht und Lüge realisiert werden. Aber die Lutherische Kirche hatte das Gesetz zu predigen verlernt und vergessen; sie horchte selbst auf die neuen Propheten; Schelling und Hegel waren Söhne frommer orthodoxer Pastoren, welche, als die französische Revolution zuerst die furchtbare Gesetzeslästerung: „das Unrecht wird durch die vollendete Tatsache zum Recht“ proklamierte, davon allen Ernstes ebenso ein Fortschritt der Menschheit erwartete, wie von den das Evangelium verleugnenden Spekulationen der jungen Philosophen. Die ganze Bildung und Anschauung in den höheren Schichten der Lutherischen Christenheit (einschließlich der Geistlichkeit und Theologie) war damals schon heidnisch geworden, und wenn auch ein einzelner christlicher Philosoph, wie Hamann, sich dieser ungläubigen Strömung widersetzte, wenn auch gesunde, in der Zucht des Gesetzes und des Maßes stehende Geister, wie Göthe in seinem Faust, das Sündenverderben des natürlichen Menschen noch wirksam bezeugten, wenn auch die Befreiungskriege eine christliche Erweckung im deutschen Volke veranlaßten, - die ganze Kirche bedarf doch des beständigen Gesetzeszeugnisses zu sehr, als daß diese Zuchtlosigkeit der Geistesbildung nicht immer weiter um sich greifen mußte.
Als der moderne Staat endlich die Kirche aufforderte, zum Zwecke der Einheit, des Friedens, der Toleranz, des Fortschritts, der Humanität ihre Bekenntnisse aufzugeben, da hatte sie sie schon längst vergessen, und tauschte für diese unnütze Antiquität ebenso gleichgültig die Königliche Union, das Kommando des Rittmeisters ein, wie die Griechen und Römer zusahen, wenn ihre Gewalthaber einem neuen Gotte Tempel und Altäre errichteten.
(S. 15 ff.)
Kapitulation der Lutheraner
Der Mensch erkennt anhand des göttlichen „Du sollst nicht!“ seine eigene Schwachheit, ja Ohnmacht. Er bedarf notwendig der Gnadenhilfe Gottes, wenn er nicht ewig zugrunde gehen möchte. Aber die Vielen waren schon zu sehr verblendet und hatten nicht mehr die Demut, sich das einzugestehen. Zudem hatte die Lutherische Kirche … das Gesetz zu predigen verlernt und vergessen; sie horchte selbst auf die neuen Propheten; Schelling und Hegel waren Söhne frommer orthodoxer Pastoren, welche, als die französische Revolution zuerst die furchtbare Gesetzeslästerung: „das Unrecht wird durch die vollendete Tatsache zum Recht“ proklamierte, davon allen Ernstes ebenso ein Fortschritt der Menschheit erwartete, wie von den das Evangelium verleugnenden Spekulationen der jungen Philosophen.
Allein die katholische Kirche war noch nicht vom modernen Geist infiziert und leistete weiterhin Widerstand. Sie beugte sich im Kulturkampf nicht der Diktatur Bismarcks, der die Kirche aufforderte, zum Zwecke der Einheit, des Friedens, der Toleranz, des Fortschritts, der Humanität ihre Bekenntnisse aufzugeben. Erst 100 Jahre später geschah das auf dem sog. Konzil in der Erklärung über die Religionsfreiheit. In der dort institutionalisierten Menschenmachwerkskirche gibt es keinen göttlichen Glauben, sondern es gilt gleichfalls wie überall in den modernen Gesellschaften die Diktatur der Beliebigkeit. Man tauschte diese unnütze Antiquität ebenso gleichgültig gegen den Ökumenismus und das Kommando des Rittmeisters ein, wie die Griechen und Römer zusahen, wenn ihre Gewalthaber einem neuen Gotte Tempel und Altäre errichteten. Ja, inzwischen hatte man selbst, wie die heidnischen Griechen und Römer, heidnische Götter in den eigenen Kirchen verehrt. Das ist, wie unser Autor erklärt:
Das moderne Heidentum
Dieses erneuerte Heidentum der modernen Wissenschaft ist jetzt unsere Schulbildung; wir sind alle auf den Gymnasien und Universitäten in ihr aufgewachsen und werden täglich durch Zeitungen, Bücher und Gespräche von ihr genährt. Und dies Heidentum, das haben wir wohl zu beachten, ist nicht das der alten, in Sitte , Einfalt und Keuschheit noch frischen homerischen Zeit, sondern der entnervten, entsittlichten, klassischen Periode des Altertums, wo Hellas schon der Glaube und die Sitte der Väter geschwunden, das Gesetz, der Gehorsam, die Zucht und die Freiheit gebrochen waren; jene Zeit des Sokrates, in der, wie heute, die hochmütige Wissenschaft blühte, und durch ihre rhetorischen Künste, durch immer neue, die ein an Geist und Witz immer die andere überbietende Lehre von Tugend, Sittlichkeit und Staatsweisheit das charakterlose Volk belehren und damit die Menschheit beglücken wollte. …
Fortsetzung folgt