Im Volksmund heißt es: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.“ Und in der Tat hat jeder von uns seine Gewohnheiten, die er nur sehr ungern aufgibt, weil sie ihm lieb geworden sind. Helfen doch diese Gewohnheiten, den täglichen Pflichten nachkommen zu können und sich so im Alltag leichter zurechtzufinden. Die Gewohnheit festigt letztlich unser Leben, und sie ist vor allem deshalb überaus wertvoll, weil sie uns den notwendigen Halt verleiht, um im Guten beharrlich zu bleiben. Eine solchermaßen gefestigte und über Generationen hinweg bewährte Gewohnheit nennt man Sitte. Ludwig Thoma schreibt in seinem Roman „Andreas Vöst“: „Denn die Sitte ist älter als die Menschen. Und sie ist stärker. Weil sie das nüchterne Leben segnet, ist sie ehrwürdig, und weil sie ehrwürdig ist, kann sie keiner ohne Schaden verletzen.“
Je älter man wird, desto mehr schätzt man die zur Sitte gewordenen Gewohnheiten, weil man ihren segensreichen Einfluß vielmals erfahren hat. Darum neigt auch der ältere Mensch wesensgemäß mehr zur Erhaltung der Sitte, wohingegen der jüngere Mensch zur Neuerung drängt. Der ältere Mensch ist in seinem Urteil gewöhnlich ausgewogener als ein junger Mensch, weil ihn die Lebenserfahrung weise gemacht hat. Solange man diese Erfahrung sich nicht zueigen gemacht hat, übt das Neue einen größeren Reiz aus als das Altbewährte. Sagt doch ein anderes Sprichwort: „Variatio delectat“ – „Abwechslung erfreut“ – das sich übrigens schon beim griechischen Dramatiker Euripides (um 480 bis 406 v. Chr.) in dessen Tragödie „Orest“ findet. Die Jugend, die nach Abwechslung verlangt, drängt voran, wohingegen das Alter bei jeglicher Neuerung zur Vorsicht mahnt. Jedenfalls war es einmal so, heutzutage gilt das alles nur noch sehr bedingt, denn die Leute werden zwar noch älter, aber im Allgemeinen nicht mehr weiser.
Anti-Gewohnheiten
Den über Jahrhunderte gewachsenen Gewohnheiten wurden nämlich systematisch Anti-Gewohnheiten entgegengestellt. Anti-Gewohnheiten sind gegen die Gewohnheit gerichtete Haltungen, die sich verallgemeinert haben. Dabei sind diese Anti-Gewohnheiten durchaus nicht erst neueren Ursprungs, wie man zunächst vermuten könnte, sondern haben z.T. ebenfalls schon eine Jahrhunderte alte Tradition. Man muß schon bis zur Renaissance zurückgehen, will man den Ursprung dieser recht seltsamen, „neuen“ Geisteshaltung aufspüren. Allein weil der heutige Mensch geistig faul und zudem geschichtslos ist, kann man ihm jede Anti-Gewohnheit als neuesten Schrei verkaufen. Da wir Katholiken allzeit geistig rege und zudem geschichtskundig sein sollten, wenden wir uns dem geschichtlichen Ursprung des modernen Denkens in diesen Anti-Gewohnheiten zu, die inzwischen jegliche Sitte untergraben haben.
Christliche Kultur
Die Renaissance war eine geistige Kehrtwendung, d.h. eigentlich eine Rückwärtsbesinnung, die im Grunde recht überraschend ist, insofern man nur profangeschichtlich und nicht geistesgeschichtlich oder gar heilsgeschichtlich denkt.
Damals konnte man immerhin auf fast 1500 Jahre Christentum und etwa 1200 Jahre christliche Kultur zurückschauen. Der christliche Glaube hatte die ehemals heidnische Welt verändert, er hatte das christliche Abendland mit seiner christlichen Kultur geschaffen. Es ist schwer, in Kürze zu beschreiben, welch gewaltige Veränderungen dieser Umformungsprozeß mit sich gebracht hatte. Es entstand schließlich im ganzen ehemals römischen Weltreich eine internationale Gemeinschaft von Staaten, die alle eines gemeinsam hatten: den katholischen Glauben.
Denken wir etwa an die Kulturvierung der Kelten und Germanen vornehmlich durch das Mönchstum! Damit ging einher der Bau von Städten, die alle einem christlichen Bauplan folgten, sowohl was die Gebäude als auch was die Gesetze betrifft. Viele von diesen grandiosen Leistungen sind einfach in Vergessenheit geraten oder fielen der Neuschreibung der Geschichte zum Opfer. Es durfte nämlich nicht sein, was nicht sein sollte. Wie viel gäbe es da auf dem Friedhof der modernen Ideologien wieder auszugraben!
Die Gotik
Wenden wir uns ein wenig der Baukunst zu. Der Gipfel der abendländischen christlichen Kunst war die Gotik. Durch und aus dem katholischen Glauben wurde eine ganz und gar neue Kunstform geschaffen. In der Gotik befreite sich der katholische Geist von allen antiken Vorbildern und altbewährten bautechnischen Vorgaben und schuf einen ganz eigenständigen Baustil, einen Baustil, der ein steingewordener Ausdruck des katholischen Geistes ist. Während die romanischen Kirchen noch viel eher einer Burg glichen, waren die gotischen Kirchen lichtdurchflutete Himmelsräume. Der Glaube hatte inzwischen über einige Jahrhunderte die Menschenherzen durchformt und ganz und gar befreit, so daß er in einer eigenständigen Architektur zum Ausdruck gebracht werden konnte. Anders als man das heute meist darstellt, war der katholische Glaube damals gerade nicht in Verteidigungshaltung, sondern er formte souverän und selbstverständlich das ganze Leben. Die ganze Gesellschaft war katholisch, Kirche und Staat bildeten gewöhnlich eine harmonische Einheit, da beide dem einen Ziel des Menschen dienten, nämlich durch den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus und Seine eine, heilige, katholische und apostolische Kirche den Himmel zu gewinnen. Es ist schon bezeichnend, daß ein Kaiser den Anlaß gab, daß das Glaubensbekenntnis Einlaß fand in den Ritus des hl. Meßopfers.
Das geistige Fundament der gotischen Baukunst
Der katholische Glaube war das geistige Fundament, auf dem die gotische Baukunst aufruhte. Das Mauerwerk wurde durchbrochen von übergroßen Fenstern und damit der Erdenschwere enthoben, soweit es irgend möglich war. Der durch das aufs Minimum reduzierte Mauerwerk umschlossene Raum gestaltete sich als geheimnisvoller Lichtraum, wobei das Licht der Sonne durch die Fenster sozusagen geheiligt wurde. Waren diese doch voll heiliger Symbolik und machten deswegen dem Beter das Unsichtbare sichtbar. Dabei darf niemals vergessen werden, daß dieser schwebende Lichtraum letztlich ein Abbild des himmlischen Jerusalem sein sollte, mit dem geschlachteten Lamm in der Mitte. Jede katholische Kirche ist letztlich um den Opferaltar des neuen Bundes herumgebaut, nimmt doch die streitende Kirche mit der leidenden und triumphierenden Kirche Teil an der einen göttlichen Liturgie. Aus diesem Opfer des göttlichen Erlösers fließt allen Menschen das ewige Heil zu – jedem Menschen guten Willens, wie es die Engel in der hochheiligen Weihnacht gesungen haben. Ein gotischer Dom verweist den Betrachter auf die durch die Erlösungsgnade wieder geheiligte Welt. Diese Welt gilt es jedoch Tag für Tag neu im eigenen Herzen zu erbauen, denn die Gnade wird in zerbrechliche Gefäße eingegossen. Dabei sind unsere großen Vorbilder die Heiligen, die durch die Gnade Gottes das geworden sind, was sie sind. Auch ein gotischer Dom wirkt irgendwie zerbrechlich und erweist sich dennoch als unerwartet standhaft, ja gewaltig erhebt er sich in die Himmelshöhe – womit die außerordentliche Lebenskraft des damaligen Glaubens dargestellt wird.
Geburt und Wiedergeburt
In seinem Buch über den hl. Thomas von Aquin „Der stumme Ochse“ beschreibt C.K. Chesterton die gewaltige Arbeit des Heiligen bei der Verchristlichung der Philosophie des Aristoteles:
„Dem Thomisten stand es frei, ein Aristoteliker zu werden, anstatt der augustinischen Lehre verpflichtet zu bleiben. Aber er wurde dadurch nur noch mehr Theologe, im orthodoxen und dogmatischen Sinne, da er durch Aristoteles hindurch das kühnste aller Dogmen wiedereroberte, die Vermählung Gottes mit dem Menschen und darum mit der Materie. Niemand kann die Größe des 13. Jahrhunderts verstehen, der nicht erfaßt, daß es ein großes Wachstum neuer Dinge war, die durch ein Lebendiges hervorgerufen worden sind. In diesem Sinne war es wahrhaft kühner und freier als das, was wir Renaissance nennen, die ein Wiederaufleben alter Dinge war, die an einem toten Ding entdeckt wurden. In diesem Sinne war das Mittelalter keine Wiedergeburt, sondern vielmehr eine Geburt schlechthin. Es bildete seine Kirchen nicht alten Grabstätten nach, noch beschwor es tote Götter aus dem Hades. Es schuf eine Baukunst, die so neu war wie der moderne Maschinenbau, und die in der Tat immer noch die modernste Architektur ist. Daß nach ihr noch eine andere Bauweise kam, die der Renaissance, ist dagegen kein Einwand, denn diese ist in Wahrheit eine altertümliche Bauweise. Auch in diesem Sinne könnte man die Renaissance einen Rückfall nennen. Was man auch immer über die Gotik und das Evangelium nach der Auslegung des hl. Thomas denken mag, ein Rückfall waren sie nicht. Es war ein neuer Vorstoß, kühn wie jener titanische Vorstoß der gotischen Baukunst, und seine Kraft lag in einem Gott, der alle Dinge erneuert.“
(G.K. Chesterton, Der stumme Ochse, Herder Druck Freiburg im Breisgau 1960, S. 26 f.)
Die Wahrheit macht frei
Mit der Renaissance beginnt eine andere Zeit. Das Mittelalter war die katholische Hoch-Zeit – kühn wie jener titanische Vorstoß der gotischen Baukunst, und seine Kraft lag in einem Gott, der alle Dinge erneuert. Eine ganz vom übernatürlichen Glauben geprägte Welt hatte sich geformt und war in allen europäischen Ländern Wirklichkeit geworden. Gerade diese geistig-geistliche Einheit ist dem modernen Menschen unheimlich, weil er, so geistlos wie er ist, sie allein durch Zwang erklären kann. Er, der nichts mehr von der göttlichen Wahrheit weiß, kann deren Strahlkraft und Überzeugungskraft nicht mehr nachvollziehen. G.K. Chesterton beschreibt es folgendermaßen:
„Zwei Tatsachen dieser mittelalterlichen Bewegung müssen zunächst unterstrichen werden. Es sind natürlich keine sich widersprechenden Tatsachen, aber vielleicht Antworten auf entgegengesetzte Irrtümer. Erstens bedeutete die Bewegung trotz allem, was einst über Aberglauben, über das finstere Mittelalter und die Unfruchtbarkeit der Scholastik behauptet wurde, in jeder Beziehung eine Erweiterung des Gesichtskreises, immer größerem Licht und sogar größerer Freiheit entgegen. Zweitens wurde sie trotz allem, was man später über Fortschritt und über die Renaissance und die Vorläufer des modernen Denkens behauptet hat, fast ausschließlich von streng rechtgläubiger theologischer Begeisterung getragen und entfaltete sich von innen heraus. Sie war kein Kompromiß mit der Welt oder ein Sichausliefern an Heiden und Ketzer, oder ein bloßes Entlehnen äußerer Hilfsmittel, selbst wenn sie sich solcher bediente. Soweit sie ans Tageslicht drang, war sie wie das Wachsen einer Pflanze, die aus eigener Kraft ihre Blätter der Sonne entgegenstreckt, nicht wie die Geste eines Menschen, der bloß das Tageslicht in ein Gefängnis hineinläßt.“
(Ebd. S. 16)
Es war in der Tat so, erst das Eindringen in die Tiefen der göttlichen Wahrheit, die sich uns in Jesus Christus geoffenbart hat, führt den Menschen zur vollen Freiheit. Unser hl. Glaube ist letztlich eine Erweiterung des Gesichtskreises, immer größerem Licht und sogar größerer Freiheit entgegen. In einem Seiner Streitgespräche mit den Juden erklärt unser göttlicher Herr ihnen: „Wenn ihr in meiner Lehre verharrt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 31 f). Der moderne Mensch versteht das nicht mehr, weil für ihn Freiheit immer nur die Beliebigkeit des Irrtums bedeutet. Der Fortschritt des Mittelalters war gerade kein Kompromiß mit der Welt oder ein Sichausliefern an Heiden und Ketzer, oder ein bloßes Entlehnen äußerer Hilfsmittel, selbst wenn sie sich solcher bediente. Er war ein tieferes Eindringen in die Geheimnisse Gottes, ein Fortschritt im Erfassen der ganzen, der sichtbaren wie der unsichtbaren Wirklichkeit. Chesterton führt den Gedanken weiter:
Die Bedeutung des Begriffes „Entwicklung“
„Kurz, es war, was man fachmännisch eine Lehrentwicklung nennt. Aber es scheint eine ganz sonderbare Unwissenheit nicht nur über die fachmännische, sondern auch über die natürliche Bedeutung des Wortes Entwicklung zu herrschen. Die Kritiker der katholischen Theologie glauben anscheinend, es handle sich da nicht so sehr um eine Entfaltung als vielmehr um ein Ausweichen, bestenfalls um eine Anpassung. Sie bilden sich ein, daß diese ‚Entwicklung‘ letzten Endes auf eine Kapitulation hinauslaufe. Aber das ist nicht die wahre Bedeutung des Wortes Entwicklung. Wenn wir von einem Kinde sagen, es sei gut entwickelt, dann meinen wir, daß es aus eigener Kraft größer und stärker geworden, nicht daß es mit geborgten Kissen ausgepolstert ist und auf Stelzen geht, um größer auszusehen. Wenn wir sagen, ein junger Hund entwickelt sich zum ausgewachsenen Hund, dann meinen wir nicht, er entwickle sich allmählich zur Katze, sondern wir meinen, daß er mehr und nicht weniger Hund wird. Entwicklung ist die Entfaltung aller Möglichkeiten einer Lehre, all dessen, was sie in sich birgt, wenn es an der Zeit ist, diese Möglichkeiten zu unterscheiden und herauszustellen. Und in unserem Fall bedeutet die Erweiterung der mittelalterlichen Theologie einfach ihr volles Erfassen. Dabei ist es von größter Bedeutung, daß dies erstmalig in der Zeit des großen Dominikaners und des ersten Franziskaners geschah, weil ihre Lehre, mag sie auch in vieler Hinsicht humanistisch und naturalistisch gewesen sein, tatsächlich das helle Aufstrahlen des höchsten Glaubenssatzes bedeutete, der zugleich das Dogma aller Dogmen ist. Die volkstümliche Poesie des hl. Franziskus und die fast rationalistische Prosa des hl. Thomas klingen eindrucksvoll und lebendig als Teile der gleichen Bewegung zusammen. Sie sind beide eine Frucht der katholischen Entwicklung, die von äußeren Dingen nur insoweit abhängt, wie überhaupt alle lebendige und wachsende Fülle von äußeren Dingen abhängig ist, das heißt, die äußeren Dinge werden aufgenommen und von innen umgeformt, aber sie werden nicht nach ihrem eigenen Gesetze, sondern nach dem des Christentums weitergebildet. Ein Buddhist und ein Kommunist mögen von zwei Dingen träumen, die sich gegenseitig verschlingen und so die vollkommene Einswerdung zuwege bringen. Bei lebendigen Dingen aber geht das nicht. Der hl. Franziskus ließ sich gerne den Troubadour Gottes nennen, aber sein Gott war nicht der der Troubadoure. Der hl. Thomas versöhnt nicht Christus mit Aristoteles, sondern vielmehr Aristoteles mit Christus.“
(Ebd. S. 17)
Der Überdruß der Menschen an den Gaben Gottes
Letzteres erweist die himmelweite Überlegenheit des göttlichen Wissens über das menschliche. Der hl. Thomas kann sich aufgrund seines Genies souverän mit dem Heiden Aristoteles auseinandersetzen, weil er in der Gewißheit des göttlichen Glaubens alles recht zu beurteilen weiß, wie der hl. Paulus im ersten Korintherbrief schreibt: „Der vom Geist Erfüllte dagegen hat ein Urteil über alles. Er selbst aber kann von niemand richtig beurteilt werden“ (1 Kor 2, 15). Eine solche Haltung ist nur dann kein Hochmut, wenn sie Folge der Teilnahme am göttlichen Wissen durch den Offenbarungsglauben ist. Und der katholische Theologe steht deswegen seinerseits immer unter der Obhut des kirchlichen Lehramtes, ist doch dieses allein befähigt, den göttlichen Glauben unfehlbar auszulegen.
Wie kam es nun, daß man an dieser Hoch-Zeit allmählich keinen Gefallen mehr fand? Irgendwie ahnt man am ausgehenden Mittelalter, daß für immer mehr Menschen diese Hoch-Zeit nicht mehr verständlich und damit auch nicht mehr beglückend war. Es war wie bei den Israeliten in der Wüste, das vom Himmel fallende Manna wurde durch die Gewohnheit allmählich fade im Geschmack. „Als nun das zugelaufene Volk, das sich in ihrer Mitte befand, Gelüste nach anderen Speisen bekam, fingen auch die Israeliten wieder an zu jammern. Sie klagten: ‚Wer gibt uns Fleisch zu essen?‘ Wir denken an die Fische zurück, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekommen haben, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch. Jetzt aber sind wir am Verschmachten. Wir bekommen nichts zu sehen als Manna“ (Num. 11, 4-7).
Damals war es genauso. Das von Gott wiedergeschenkte ewige Heil beglückte nicht mehr die Mehrheit der Menschen. In der Renaissance wendete sich der Blick der Masse allmählich vom Jenseits ab und dem Diesseits zu. Damit entstand für immer mehr Menschen der Eindruck, als sollte die Hoch-Zeit doch erst in der Ewigkeit stattfinden, als vertröste unser hl. Glaube uns auf den ewigen Lohn im Himmel, wohingegen er in dieser Welt den Menschen nicht zufriedenstellen könne. Somit erschien das irdische Leben plötzlich anders – und die Welt zerbrach wieder in zwei Teile, den unsichtbaren, fernen, schwer erreichbaren Himmel und diese irdische Welt, in der man es sich gut gehen lassen wollte.
Der Rückfall ins Heidentum in pseudochristlichem Gewande
Es zeigte sich nur allzu deutlich, das menschliche Leben ist immer vom Verfall bedroht. Eine geistige Hoch-Zeit erfordert dauernde geistige und sittliche Anstrengung, die der Mensch gewöhnlich scheut, sobald er sich nicht mehr genügend auf die Gnadenhilfe Gottes stützt und deswegen seine hl. Begeisterung verliert. Die Liebe zur Wahrheit erkaltet. Es war wie bei den Israeliten in der Wüste. Diese sehnten sich wieder zurück nach der Knechtschaft in Ägypten – nach den Fleischtöpfen der Ägypter. So fade schmeckte ihnen die Himmelsspeise und so wenig war ihnen die von Gott wiedergeschenkte Freiheit wert.
Was ist aber, was geschieht, wenn eine solch christkatholische Hoch-Zeit zerfällt? Dann erwacht ein neuer – alter – Gedanke: das Heidentum! Im Grunde bedeutet schon dieses Erwachen des Heidnischen einen Abfall vom christkatholischen Denken, der jedoch nicht sofort zu erkennen war, weil er in einem pseudochristlichen Gewande daherkam.
Dieser Abfall beginnt mit der Renaissance, also mit dem 15. Jahrhundert. Der Rückfall ins Heidentum bzw. Neuheidentum setzte damals ein. Man muß übrigens ausdrücklich vom Neuheidentum sprechen, weil diese Heiden abgefallene Katholiken sind. Das unterscheidet sie wesentlich von den Heiden der Antike und prägt vorneweg ihr Denken. Während das alte Heidentum nicht seinem Wesen nach antichristlich war, ist es das Neuheidentum durchaus, wenn auch, wie schon angemerkt, zunächst noch verdeckt.
Die Abwendung vom katholischen Glauben in der Renaissance
Die Renaissance ist somit der Beginn der antichristlichen Zeit im eigentlichen Sinne des Wortes, weil sie eine ausdrückliche und willentliche Abwendung vom katholischen Glauben vollzieht und jene Bewegung in Gang gesetzt hat, die bis heute nachwirkt und direkt auf den Antichristen hinzielt.
Das neuheidnische Denken der Renaissance führte zur Aufklärung und schließlich zur Revolution – es war auf einmal „ois anders“! So kann man diese Geistesbewegung wohl am kürzesten und treffendsten beschreiben. Wir wollen nicht mehr Christen sein, nein, wir wollen wieder Heiden werden. Darum muß jetzt alles anders werden. Wir haben das himmlische Manna satt, wir wollen zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens!
Es ist durchaus bemerkenswert, die Aufklärer konnten nach immerhin fast 1700 Jahren Christentum ein neues Zeitalter des Lichts verkünden, ohne sich damit bei ihren weitgehend noch christlichen Zeitgenossen vollkommen zu blamieren und lächerlich zu machen. Für jeden Christen war selbstverständlich Jesus Christus das Licht der Welt. Er war in unsere Welt gekommen, um vom göttlichen Licht Zeugnis abzulegen. Da kommt nun jemand und verkündet ein Zeitalter des Lichts – ohne Jesus Christus! Er stellt das Funzellicht seiner Taschenlampe gegen das Licht der Sonne! Was für ein Unding, was für ein bodenloser Unsinn! Irgendwie kann man es nicht fassen, wie blind müssen viele Menschen damals schon gewesen sein, daß sie auf einen solch primitiven Schwindel hereinfielen!
Reformation und Aufklärung
Aber wir haben einen Sprung gemacht, wir haben die diesem Unsinn zugrundeliegende Revolution übergangen. Die Aufklärung versteht man nur auf der Grundlage der sog. Reformation. Die der Aufklärung vorausgehende Reformation war die Zerstörung des übernatürlichen Glaubens. Die Reformatoren zerstörten nämlich die göttliche Autorität, auf der der übernatürliche Glaube – in der unfehlbaren Autorität des kirchlichen Lehramtes – vollkommen ruht. Daraus folgend war sie die Zerstörung des übernatürlichen sakramentalen Lebens und damit verbunden natürlich auch der Kirche als übernatürlicher Institution.
Die Entwurzelung des christlichen Glaubens
Der christliche Glaube wurde durch die sog. Reformatoren vom unfehlbaren Lehramt der Kirche losgelöst und wenigstens theoretisch der Willkür des Einzelnen preisgegeben. Damit war dieser Glaube entwurzelt und grundsätzlich offen für das aufkommende Neuheidentum. Es bestand nämlich kein wesentlicher Gegensatz mehr zwischen beiden, also zwischen dem protestantischen Christentum und dem Heidentum, beides waren nur menschliche Meinungen. Es wäre sicher äußerst interessant, unter diesem Gesichtspunkt einmal das Leben der sog. Reformatoren zu durchleuchten. Wie neuheidnisch waren diese schon angehaucht? Alle sog. Reformatoren waren jedenfalls Kinder der Renaissance.
Der Aufklärungswahn wurzelt ganz und gar im Protestantismus, ist jedoch zugleich eine Gegenbewegung. Er richtete sich gegen die Verdammung der menschlichen Vernunft durch die Reformatoren. Vor allem Luther hatte der menschlichen Vernunft das Zeugnis ausgestellt, daß sie ganz und gar verdorben war. Der Glaube allein sollte genügen! Damit geriet der Glaube in die ständige Gefahr, wider-vernünftig zu werden – wo er doch seinem Wesen nach über-vernünftig ist.
Zudem hatte der Glaube im protestantischen Lager inzwischen genügend Widersprüchliches, Unsinniges, Fanatisches und damit genügend Potential an Zweifel jeglicher Art erstehen lassen, daß man den Zeitgenossen im Gegensatz dazu die Finsternis der neuheidnischen Gottlosigkeit als Licht anpreisen konnte. Nunmehr war ois anders! Was früher wahr und richtig war, das galt nun als Aberglaube. Und die Gottlosigkeit der Aufklärer wurde plötzlich als der neue Vernunftglaube lauthals gepriesen. Aufgrund dieses geistigen Erdrutsches gewöhnten sich die Menschen daran, daß sich die Dinge ständig änderten. Alles war jederzeit im Fluß, es gab keine bleibenden Wahrheiten mehr – außer die Irrlehren der Aufklärer, die sich zäh hielten und selbst heute noch unsere moderne Gesellschaft begründen. Damals wurde die Wesensphilosophie durch eine bloße Phänomenologie ersetzt. Wenn man nicht mehr weiß, was die Dinge ihrem Wesen nach sind, dann kann man sie auch beliebig ändern. Es gibt keinen Halt mehr und auch keinen Grund mehr, das Altbewährte zu bewahren. Der Reiz des Neuen wird immer größer und reißt die Masse mit sich.
Die beginnende Vorbereitung auf die Weltherrschaft des Antichristen Rückblickend ist es recht befremdend, feststellen zu müssen, daß dieses neuheidnische Gedankengut überhaupt irgendeinen Einfluß auf einen Katholiken gewinnen konnte. Für einen Katholiken sollte es doch leicht durchschaubar sein, daß dieses Neue, Andere einfach nur das alte Heidentum in einem neuen Gewand war, also im vollkommenen Widerspruch zum katholischen Glauben stand. Wenn ich an Jesus Christus als den Sohn Gottes glaube, der Gott von Gott und Licht von Licht ist, wie kann mir dann irgendjemand etwas vorschwafeln von einem neuen Zeitalter des Lichts? Wenn mich als Katholik solch unsinniges Geschwafel beeindruckt, dann zeigt das allein schon die geistige Fäulnis, in der ich mich befinde. Im Grunde ist das Urteil des Katholiken über diese Männer ganz einfach: Lauter gottlose Schwätzer, die letztlich – ob wissentlich oder unwissentlich, das ist gleichgültig – an der Weltherrschaft des Antichristen arbeiten.
Fortschritt mit Aussetzern?
Wie kam es zu einer derartigen geistigen Erosion? Die Aufklärer verkündeten nicht nur das Zeitalter des Lichts, sondern auch des Fortschritts. Man kann von einem direkten Fortschrittswahn dieser Leute sprechen. Wobei, das sei extra hervorgehoben, sie freilich nicht ganz konsequent waren bzw. sein konnten in ihrem Fortschrittswahn: Sie mußen nämlich das Mittelalter von diesem Fortschritt ausnehmen – was doch recht seltsam ist. Denn immerhin, wenn schon Fortschritt, dann müßte doch das Mittelalter um 1000 Jahre fortschrittlicher gewesen sein als die Antike – also das alte Heidentum – und zudem hatte dieses etwa 500 Jahre gedauert. Warum ist denn bei einem ständigen Fortschritt der Menschheit das Mittelalter plötzlich das dunkle Zeitalter für alle Aufklärer? Hat denn der Fortschritt mit einem Mal einen Aussetzer gehabt? Warum gilt der Fortschritt nicht auch für diese Jahrhunderte der geistigen Hoch-Zeit? Weil diese Zeit ganz und gar vom katholischen Glauben geprägt war – und dieser zählt für diese Männer nicht zum Fortschritt, dieser ist ein abscheulicher, über alles verhaßter Aberglaube. Die katholische Kirche ist das Übel schlechthin! Fortschritt gibt es nur innerhalb des Unglaubens und der Gottlosigkeit, das ist der absolut feststehende Rahmen dieser neuen Zeit, das ist das Grunddogma der Aufklärer und aller diesen folgenden Leuten.
Die „Alta Vendita“
„Die Ständige Anweisung der Alta Vendita“ ist ein im 19. Jahrhundert geschriebenes Geheimdokument, das Papst Gregor XVI. in die Hände fiel. Darin heißt es mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit: „Unser letztes Ziel ist jenes von Voltaire und der Französischen Revolution: Die vollkommene Vernichtung des Katholizismus und selbst der christlichen Idee. Der Papst, welcher es auch sei, wird nie zu den Geheimgesellschaften kommen; es ist Sache der Geheimgesellschaften, den ersten Schritt auf die Kirche hin zu tun mit dem Ziel, sie beide zu besiegen.“
Kants Gott, ein bloßes Postulat
Das ist freilich nicht der einzige Widerspruch, der sich bei den Aufklärern findet. Die damaligen Männer mußten großteils noch Rücksicht auf die Fürsten nehmen, in deren Gunst sie standen und die sich meist noch als Christen fühlten und ihre Staaten als christliche Staaten sahen. Deswegen mußten die Aufklärer noch den Christen mimen. So konnte etwa Immanuel Kant Gott nicht direkt leugnen, er mußte es indirekt tun, indem er seinem „Gott“ noch zubillige, oberster Zuchtmeister der staatlichen Ordnung zu sein. Das jedoch wiederum nur als Postulat und nicht mehr als Wirklichkeit. Mit diesem „Gott“ waren die protestantischen Fürsten damals durchaus zufrieden, was den Aufklärern und ihrer Gottlosigkeit sehr entgegenkam. Die aufgeklärten Fürsten fühlten sich wohl recht gebauchpinselt, als ihnen Kant zuraunte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Es war ja inzwischen das Zeitalter des Absolutismus angebrochen, die staatliche Willkür nimmt allmählich Fahrt auf.
Das Gespenst des Fortschritts
Die Aufklärungspropaganda hatte jedenfalls das Gespenst des Fortschritts erfolgreich in den Köpfen vieler Menschen zum Spuken gebracht. Fortan waren immer mehr immer fester davon überzeugt: Ois anders! Und waren zunächst wenigstens darüber überaus begeistert. Es galt nunmehr als das Grundgesetz der Geschichte: Die Welt wird dank des allgemeinen Fortschritts immer besser – womit selbstverständlich eine ständige Änderung einhergeht. Nichts kann fernerhin auf Dauer einfach so bleiben wie es war. Was heute wahr ist, das kann, ja muß sich morgen schon wieder als bloße Eintagsfliege erwiesen haben. So wird die Wahrheit systematisch durch die Tagesmeinung ersetzt. Und die allermeisten Zeitgenossen nehmen diese Tagesmeinung jeweils als der Weisheit letzten Schluß an, was doch auf einen noch denkfähigen Menschen recht komisch wirkt.
Allmählich hatte sich ein Wort in den Köpfen der Vielen festgesetzt, das nunmehr all ihr Denken normte und immer noch normt: Modern. Der Mensch muß modern sein! Mag er so frei sein, wie er will, er muß modern sein. Es ist für einen vernünftigen Menschen schon sehr erschütternd, immer wieder erleben zu müssen, wie selbst gebildete Leute mit der größten Selbstverständlichkeit sagen: Heute ist das anders! Das hat man heute nicht mehr so! Das ist nicht mehr modern!
Vom Fortschrittsglauben zum kollektiven Wahnsinn
Die Meinungsmacher haben es geschafft, den Begriff „modern“ mit einer solchen Überlast an Gutheit zu beladen, daß man mit Gründen nichts mehr dagegen ausrichten kann. Modern zu sein bedeutet automatisch und notwendig gut zu sein! Vernichtend dagegen ist das gegenteilige Urteil: Du bist unmodern, altbacken, zurückgeblieben.
Wenn man das Ganze nüchtern und in aller Ruhe betrachtet: Kein wirklich gebildeter Mensch kann so sprechen. Denn dieser würde sofort einwenden: Was ist eigentlich Sache? Warum ist es anders? Und schließlich: Ist dieses Andere tatsächlich gut, geschweige denn besser? Jeder weiß gewöhnlich aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, etwas besser zu machen. Und da soll täglich und ständig alles immer besser werden, gleich einem Naturgesetz? Dazu wäre schon ein ständiges Wunder nötig. Der Fortschrittswahn der Aufklärer ist somit ein vollkommen unvernünftiger Wunderglaube.
Seit über drei Jahrhunderten verkünden die Meinungsmacher den Leuten, daß alles besser wird. Was aber ist tatsächlich in dieser Zeit alles geschehen? Dennoch glauben die allermeisten Menschen diesen Wahnsinn: Ois anders – und meinen dabei unausgesprochen: Alles ist heute besser als früher, wir sind die Krone der Menschheitsgeschichte.
Unbemerkt ist dieser Fortschrittsglaube zum kollektiven Wahnsinn geworden. Die Masse der Menschen scheint inzwischen vollkommen unfähig geworden zu sein, die Wirklichkeit noch als solche wahrzunehmen, sie ist gefangen in einer Science-Fiction-Welt. Und gerade diese Massenmenschen – die täglich stundenlang auf einen kleinen Bildschirm starren oder darauf herumfummeln! – werfen den Menschen des Mittelalters vor, diese seien naiv und leichtgläubig gewesen, denn sie hätten einfach blind den Dogmen der Kirche geglaubt! Dabei nehmen sie in keiner Weise mehr wahr, wie viele unumstößliche Dogmen es in unserer modernen Welt gibt, Dogmen, die die Masse selbstverständlich glaubt. Wenn man nur ein wenig genauer hinschaut, wird man feststellen: Von wegen Meinungsfreiheit! Wie jeder gebildete Europäer wissen sollte, war die Meinungsfreiheit der französischen Revolution die Guillotine.
Gesamtschau der Wirklichkeit statt Ideologie
Eines ist jedenfalls unumstößliche Tatsache: Der Katholik denkt vollkommen anders als der moderne Mensch, weil er durch und durch Realist ist. Durch seinen gottschenkten übernatürlichen Glauben ist er nämlich befähigt, nicht nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern die Gesamtwirklichkeit zu erfassen. Der Katholik läßt sich nicht vom Schein blenden, er ist gewohnt, die bloß sinnfälligen Phänomene zu hinterfragen: Was steht hinter dem Schein? Was verbirgt sich hinter der Phrase? Was ist eigentlich Sache? Was ist das Wesen der Dinge? Der wahre Katholik hatte immer schon den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, aber zugleich auch die Demut eines Sokrates, der sich eingestand: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Beides zusammen erst macht den Menschen zum Realisten und fähig, die modernen Ideologien zu durchschauen.
Ein Buch aus der Zeit des Kulturkampfes
Wir sind während unseres Studiums auf ein Buch gestoßen, das unsere Gedanken erstaunlich gut ergänzt. Zwar ist dieses Buch von einem Lutheraner geschrieben, der vom Irrtum Luthers vollkommen überzeugt ist, dennoch können wir von seinen Gedanken einiges lernen. Die Protestanten haben nämlich das, was wir durch die Irrlehre des Modernismus erlebt haben, schon mindestens 100 Jahre vorher erlebt. Das Buch ist 1873, also zur Zeit des Kulturkampfes geschrieben worden. Bismarck wollte dem neuen Kaiserreich auch ein neues, einheitliches religiöses Bekenntnis zugrunde legen und eine deutsche Nationalkirche einrichten, womit er auf heftigen Widerstand vor allem bei den Katholiken, aber auch bei manchen Protestanten stieß. Wobei aber die Mehrheit der Protestanten sehr schnell einknickte, weil die Lutherische Landeskirche zum Feind überlief. Unser Autor – Freiherr von Hodenberg – ein wackerer Lutheraner, sah darin einen Verrat am lutherischen Glauben, ja am Christentum überhaupt, weswegen er „Das Gastmahl des Sokrates, ein Gemälde von Feuerbach, als Spiegelbild für die Theologie der Rhetorik in der kirchlichen Bewegung unserer Zeit“ schrieb. (Alle folgende Texte sind genommen aus: Freiherr von Hodenberg, Das Gastmahl des Socrates, ein Gemälde von Feuerbach, als Spiegelbild für die Theologie der Rhetorik in der kirchlichen Bewegung unserer Zeit, Verlag von Dr. Edgar Bauer, Altona 1873; die Sprache wurde angeglichen.) Blättern wir sein Werk ein wenig durch…
Fortsetzung folgt