Wir setzen unseren Beitrag von voriger Woche fort mit einer Ehrenrettung Kardinal Newmans gegen seine Vereinnahmung durch Modernisten und Traditionalisten.
Das Wesen der praktischen Vernunft
Hinter den meisten modernen Verirrungen steht letztlich ein falscher Begriff der Freiheit. Dieser wird wiederum durch seine Gottlosigkeit bestimmt. Hinter dem „tue, was du willst“, verbirgt sich letztlich das: „Ihr werdet sein wie Gott!“
Anders als der moderne Mensch meint, ist er nicht frei, sein letztes Lebensziel selbst zu wählen. Dieses ist ihm vielmehr von Gott durch den Schöpfungsakt vorgegeben. Das Geschöpf ist dazu angehalten, dieses von Gott vorgegebene Ziel mit allen Kräften der Seele anzustreben und es dadurch zu erreichen. Dieses letzte und oberste Ziel muß jeder Mensch zunächst erkennen und zum Richtmaß all seiner Handlungen machen, soll sein Leben vernünftig sein. Denn das Gesetz menschlichen Handelns ist seine Vernunft. Das ewige Gesetz Gottes, Sein heiliger Wille ist dem Menschen nicht entzogen und verborgen, er kann sie erkennend erfassen und willentlich verwirklichen. Damit das Gute vernünftigerweise anzustreben ist, muß es als Gutes aus sich selbst erkennbar sein. Es wird nicht erst dadurch gut, daß Gott es dem Menschen befiehlt, das wäre reine Willkür. Mit großem Nachdruck betont Thomas: „Wer die bösen Taten unterläßt, nicht weil sie böse sind, sondern weil Gott dies geboten hat, handelt nicht frei“ (Super II ad Corinthios, q. 3, a. 2).
Das Gute kann der Mensch nicht blind erstreben, sondern immer nur wissend. Gott erwartet und schenkt uns eine genügende Einsicht in das Gute. Die Freiheit folgt aus der Erkenntnis der Wahrheit und nicht umgekehrt, wie es die moderne „Freiheit“ suggeriert. Das Wesen der praktischen Vernunft besteht nun darin, den Menschen durch die Teilhabe am ewigen Gesetz Gottes auf sein letztes, ewiges Ziel hinzuordnen – die praktische Vernunft ist somit wesentlich Handlungsvernunft.
Was ist jedoch das letzte Ziel des Menschen genau? Das natürliche und letzte Ziel, der finis ultimus des Menschen, ist das Glück, die beatitudo, die ewige Glückseligkeit! Gott hat es in das Menschenherz hineingeschrieben, glücklich sein zu wollen. Auch wenn es etwas ungewöhnlich klingen mag, ist es dennoch wahr: Wir sind von Gott geschaffen worden, um ewig glücklich zu sein. Das ist so wahr, daß der Mensch dieses letzte Ziel nicht nicht wollen kann. Bedenken wir das einmal in aller Ruhe: Ich kann nicht wollen, nicht glücklich zu sein (vgl. De potentia, q. 2, a. 3.).
Unser Lebensziel
Wie wenig ahnt der moderne Mensch noch von diesem gottgeschenkten Glück. Sobald der Mensch Gott leugnet, tappt er im Dunkeln, sein wahres und ewiges Lebensziel und der Lebenssinn entschwindet seinem Blick. Infolgedessen verirrt sich sein Glücksstreben in unzähligen Variationen des Scheinglücks und findet niemals zur Ruhe. Im Gegenteil, eine Enttäuschung folgt der anderen, denn alles Glück der Welt ist vergänglich. Gerade der moderne Mensch müßte viel darüber nachdenken, daß es hinsichtlich dieses höchsten und letzten Gutes keine Wahl für ihn gibt (vgl. STh II/II, q. 82, a. 1.). Unsere Art, ewig glücklich zu sein, ist von Gott vorgegeben, vorbestimmt, wie nennen sie Himmel.
Das Naturgesetz
Der hl. Thomas spricht deswegen auch von der „lex naturalis“, dem „Naturgesetz“ immer nur in der Einzahl. Dieses ist nicht einfach nur als eine positiv formulierte Norm oder Normensammlung gemeint, sondern es stellt eine Wesensdisposition und somit eine Metanorm dar, d.h. eine alle Normen übergreifende und vereinheitlichende Norm. Thomas schreibt, das Naturgesetz ist „nichts anderes als das uns von Gott eingestiftete Licht des Verstandes, durch das wir erkennen, was zu tun und was zu meiden ist“ (Opusculum in duo praecepta caritatis et in decem praecepta legis).
Diese Definition des Naturgesetzes zeigt uns, wie viel der heilige Thomas dem Menschen aufgrund der gottgegebenen Fähigkeiten an wahrheitsgemäßer Erkenntnis zutraut. Durch das von Gott eingestiftete Licht des Verstandes ist es dem Menschen möglich, alle eigenen Handlungen gemäß den göttlichen Geboten zu beurteilen, welche alle der Vernunft gemäß sind. Daraus folgt notwendigerweise: Gott kann nichts Unvernünftiges von uns fordern. Somit tappt der Mensch nicht im Dunkeln, wenn er sich fragt: Was soll ich tun, was muß ich meiden? Nein, die richtige Antwort ist nicht: Tue, was du willst, sondern, tue, was der Vernunft entspricht. Der hl. Thomas erklärt: „Die Gebote des Naturgesetzes verhalten sich zu der auf das Tun gerichteten Vernunft, wie die Grundsätze der strengen Beweise sich zu der auf die Schau gerichteten Vernunft verhalten: Beide sind nämlich aus sich einleuchtende Grundsätze: principia per se nota“ (STh I/II, q. 94, a. 2.).
Gut ist, was der Vernunft entspricht.
Während für die theoretische Vernunft die Bedeutung von sein (ens) und damit eingeschlossen das Kontradiktionsprinzip das schlechthin Ersterfaßte ist, so ist gut (bonum) das, was die praktische Vernunft als erstes erfaßt. Alles nämlich, was handelt, handelt wegen eines Zieles, das in sich die ratio boni, die Bewandtnis des Guten hat. Es ist schlechthin gut, die ewige Glückseligkeit anzustreben und zu erlangen! Wie könnte es auch anders sein, wenn Gott selbst, der unendlich Gute, uns dieses Lebensziel durch den Schöpfungsakt zugedacht hat. Alle anderen Handlungen des Menschen, ja sogar aller Geschöpfe, werden durch dieses eine Ziel beeinflußt, so daß man sagen kann: Das Gute ist das, wonach alle streben. Demgemäß lautet das erste Gebot des Naturgesetzes: Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse dagegen zu meiden. Aus diesem Spruch des Urgewissens sind alle weiteren Gebote der lex naturalis abzuleiten. Wie das lumen naturale als formales Apriori der theoretischen Vernunft eine Teilhabe an der ersten Wahrheit darstellt, so ist das gleiche lumen naturale als formales Apriori der praktischen Vernunft Teilhabe am ewigen Gesetz. Der Mensch trägt tatsächlich einen Funken göttlichen Erkenntnislichts und göttlichen Sinns in sich. Dieses gottgeschenkte Licht befähigt den Menschen zur Wahrheitserkenntnis und damit zur Erfassung des höchsten Gutes als Ziel des Lebens. D.h. von diesem Verstandeslicht wird das Naturgesetz konstituiert: Die lex naturalis ist etwas durch den Verstand Konstituiertes (STh I/II, q. 94, a. 1.), vergleichbar einem Satz der theoretischen Vernunft. Alles Handeln des Menschen soll vernünftig sein, denn nur dann ist es gut. Denn nochmals: Gut ist das, was der Vernunft entspricht.
Die Teilnahme des Menschen an der göttlichen Vorsehung
Es ist durchaus bedenkenswert: Die Sonderstellung des Menschen im Ganzen der Schöpfung findet ihren eminenten Ausdruck in einer ausgezeichneteren Weise der Teilhabe am ewigen Gesetz Gottes. Als rationalis creatura, als vernunftbegabtes Geschöpf,wird der Mensch nicht passiv geregelt und gemessen wie etwa die Tiere, die durch Instinkte geleitet werden, nein, der Mensch nimmt aktiv an der göttlichen Vorsehung teil, indem er für sich und für alles andere vorsorgen und planen muß: fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens (STh I/II, q. 91, a. 2; De veritate q. 5, a. 5).
Irrtum vs. Wirklichkeit
Es ist bewundernswürdig, wie der hl. Thomas von Aquin das Geschöpfsein des Menschen vollkommen ernst nimmt. Aus dem Geschöpfsein ist auch allein der ontologische Rang der Subjektivität, des auf sich selbst Bezogenseins der menschlichen Person (reditito completa in seipsum) einzusehen. Der Mensch kann in seinem Eigensein, seiner wahren Würde nicht begriffen werden ohne den Schöpfer, ohne Gott. Deswegen müssen alle modernen, atheistischen Menschenbilder in die Irre gehen und den Menschen fehldeuten und fehlleiten.
Die entscheidende Einsicht ins Wesen des Menschen besagt: Der Mensch hat aufgrund seines Verstandes und freien Willens eine wahre Eigenverantwortlichkeit vor Gott. Gott hat ihn verantwortungsfähig geschaffen. D.h. der Mensch ist fähig, seine Subjektivität jederzeit zu objektivieren.
Die grundlegende Einsicht ist nun, wie wir schon gezeigt haben, die: Der Mensch kann und braucht seinen Lebensentwurf nicht frei erfinden, er muß vielmehr die göttlichen Vorgaben und Erwartungen anerkennen und sodann ins Leben umsetzten. Dabei ist der Mensch zwar irrtumsfähig, aber er ist zudem fähig, seinen Irrtum jederzeit einzusehen. Dies geschieht aufgrund der Konfrontation mit der Wirklichkeit. Jeder Irrtum erweist sich früher oder später als nicht wirklichkeitskonform.
Im Bereich des Ethischen hat die Subjektivität eine Entsprechung in der Lehre vom Gewissen als der letzten subjektiven Instanz sittlichen Handelns. Dieser Gedanke ergibt sich aus dem Verständnis des Naturgesetzes als eines Vernunftgesetzes – also eine auf subjektiver Erkenntnis gründenden Gesetzesverpflichtung – und erfährt in diesem Verpflichtungscharakter auch des subjektiv irrenden Gewissens seine konsequente und äußerste Aufgipfelung. Dabei besagt Wissen beim hl. Thomas nicht nur positives und faktisches Zur-Kenntnis-Nehmen, sondern Erfassen der Richtigkeit und inneren Einsichtigkeit des Gebotenen. Unter Wissen versteht Thomas das „causas rerum noscere“, das Wissen um die Gründe (STh I, q. l, a. 2).
Inwiefern auch ein irrendes Gewissen verpflichtet
In dieser Sicht des Menschen zeigt sich der beeindruckende Realtitätssinn des engelgleichen Lehrers. Der Mensch als endliches Wesen kann nicht nach einem absoluten, ihm zufällig oder grundsätzlich nicht faßbaren Maß gemessen werden. Mit anderen Worten: Gott erwartet vom Menschen keine Allwissenheit! Um seine Freiheit verantwortungsbewußt leben zu können, genügt es, wenn sich der Mensch auf sein erworbenes Wissen stützt. Die negative Folge davon ist es, daß der Mensch auch seinem irrenden Gewissen folgen muß, denn anders kann er gar nicht frei handeln.
In dieser Lehre vom irrenden Gewissen, dem der Mensch folgen muß, werden letztlich seine endliche Vernunft und sein endlicher Wille zueinander in Beziehung gesetzt. Die menschliche Sittlichkeit bemißt sich nach der Qualität dieser Relation: Der Wille muß der Einsicht folgen, selbst auf das Risiko hin, daß diese sich in einem Irrtum befindet.
Sobald man das Geschöpfsein, das Begrenztsein, das endliche Wesen des Menschen recht erwägt und ernst nimmt, sieht man ein, daß es dazu keine Alternative gibt, wenn die Würde des Personseins bewahrt werden soll. Jede andere Lösung würde den Menschen entmündigen, sie führt letztlich zu irgendeiner Beliebigkeit ohne überzeugendes Kriterium, warum so und nicht anders gehandelt werden muß.
Der Mensch ist an sein Gewissen gebunden.
Eine weitere Folge dieser Einsicht in die Tiefen des Menschenwesens ist: Es gibt keine Instanz, die den Menschen zwingen dürfte und könnte, auch Gott nicht, gegen seine Überzeugung zu handeln (vgl. De veritate, q. 22, a. 8 und 9). Wie ernst Thomas diesen Gedanken und damit die Würde des einzelnen nimmt, kann man daran erkennen, daß er es für metaphysisch unmöglich hält, daß Gott einem Sünder gegen dessen Wissen und ohne dessen persönliche Reue verzeihen könnte. (STh III, q. 86, a. 2: „Et ideo impossibile est quod peccatum alicui remittatur sine poenitentia secundum quod est virtus“ (vgl. auch De potentia, q. 1, a. 4.)). Der Mensch steht somit so hoch, daß ohne ihn oder gegen ihn nichts geschehen kann. Denn Gott hat den Menschen so geschaffen, daß er aufgrund göttlichen Gesetzes „vi praecepti divini“ an sein Gewissen gebunden ist. (De veritate, q. 17, a. 3: „Unde, cum conscientia nihil aliud sit quam applicatio notitiae ad actum, constat quod conscientia ligare dicitur vi praecepti divini.“) Wobei wir schon gesehen haben, daß bei einem irrenden Gewissen durchaus Grenzen existieren. Nicht jeder Irrtum entschuldigt den Menschen. Wobei im konkreten Fall die letzte, subjektive Schuldhaftigkeit einer Handlung oft nur Gott allein beurteilen kann, sind doch dem Menschen die inneren und letzten Beweggründe verborgen. Darum mahnt der hl. Paulus: „Darum richtet nicht vor der Zeit, ehe der Herr kommt. Er wird auch, was in der Finsternis verborgen ist, ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen. Dann wird jedem sein Lob zuteil werden“ (1 Kor 4, 5).
Kardinal Newmans Vertrauen in die Kirche
Wenden wir uns nach diesem kurzen Überblick über die katholische Lehre vom Gewissen wieder Kardinal Newman zu. Es ist vorneweg schon einmal auffallend, daß Newman ganz anders als die Modernisten (und man muß wohl auch sagen, nicht wenige Traditionalisten) der festen Überzeugung ist, daß das Christentum in jedem Fall kirchlich, d.h. hierarchisch verfaßt sein muß. In einer seiner Predigten sagt Newman etwa einmal, Religion ohne Kirche sei ebenso unnatürlich wie Leben ohne Nahrung und Kleidung. Dabei stellt für ihn ein bedeutendes Argument für die Stiftung der Kirche der mächtige Drang nach Halt in religiösen Dingen dar, was man in dieser papstlosen Zeit mehr als nur nachvollziehen kann. Wie sehr fehlt uns der Halt des kirchlichen Lehramtes! Newman spricht sogar von einer tiefen Sehnsucht nach einer sichtbaren Autorität in den Dingen des Glaubens. Diese Sehnsucht scheint bei unseren Traditionalisten ganz verloren gegangen zu sein.
Als Gerüchte auftauchten, Newman bereue seinen Eintritt in die katholische Kirche angesichts der vielen Enttäuschungen und gegen ihn erhobenen Beschuldigungen, sodaß er beabsichtige, wieder in die anglikanische Kirche zurückzukehren, stellt er richtig: „Seit ich in die katholische Gemeinschaft aufgenommen wurde, hat mein Vertrauen in die katholische Kirche nie auch nur für eines Augenblicks Dauer gewankt. Ich halte daran fest und habe immer festgehalten, daß der oberste Hirte der Mittelpunkt der Einheit und der Stellvertreter Christi ist; ich hatte und habe immer noch einen ungetrübten Glauben an das Glaubensbekenntnis der Kirche in allen seinen Artikeln, eine sehr hohe Befriedigung an ihrem Gottesdienst, ihrer Disziplin und Lehre, ein heißes Verlangen und eine Hoffnung wider alle Hoffnung, die vielen teueren Freunde, die ich im Protestantismus zurückgelassen habe, möchten an meinem Glücke teilhaben“ (Wilfrid Ward, The Life of John Henry Newman, Bd.I, London 1913, S. 580).
Seine Leiden in der Kirche und an den Schwächen manch kirchlicher Amtsträger haben ihn niemals dazu verführt, an der Kirche selbst zu zweifeln. Er wußte immer, zwischen der Kirche als geheimnisvollem Leib Jesu Christi und ihrer äußeren menschlichen Gestalt, also den Fehlern bei den Gliedern, zu unterscheiden. Die Schwächen der Glieder der Kirche ließen ihn nicht resignieren und konnten seinen Blick auf das gottgeschenkte Ideal nicht verstellen. Sein Vertrauen in die Kirche bleibt davon vollkommen unerschüttert:
„Es gibt Ärgerliches in der Kirche, Dinge, die ihr zum Vorwurf, zur Schmach gereichen. Kein Katholik wird es leugnen. Zu allen Zeiten wurde sie bekrittelt und geschmäht, sie sei die Mutter unwürdiger Kinder. Sie hat gute Kinder, sie hat noch viel mehr schlechte. So ist es der Wille Gottes, als solcher von Anfang an erklärt … Er hätte eine reine Kirche gründen können, aber er hat ausdrücklich vorausgesagt, das ‚Unkraut‘, welches ‚vom Feind gesät wurde‘, werde zugleich mit dem Weizen bis zur Ernte am Weltende bleiben … Wenn es einen Judas unter den Aposteln gab und einen Nikolaus unter den Diakonen … wie könnte es dann überraschen, wenn sich im Lauf von achtzehn Jahrhunderten offenkundige Beispiele von Grausamkeit und Treulosigkeit, von Heuchelei und Verworfenheit finden, und zwar nicht nur im katholischen Volke, sondern auch an hohen Stellen, in Königspalästen, im Hause von Bischöfen, ja auf dem Stuhl des heiligen Petrus selbst? Wie könnte es uns überraschen, wenn es in barbarischen Zeiten oder in Perioden der Genusssucht Bischöfe oder Äbte oder Priester gab, die sich selbst und ihren Gott vergaßen, der Welt oder dem Fleische dienten und in solch üblem Beginnen untergingen? Was für ein Triumph ist es, wenn in einer langen Reihe von zwei- bis dreihundert Päpsten unter Blutzeugen, Bekennern, Lehrern, weisen Gesetzgebern und liebevollen Vätern ihres Volkes auch einer oder deren zwei sich fanden, die der Beschreibung des Herrn von jenem ‚bösen Knecht‘ entsprachen, der ‚anfing, seine Mitknechte und Genossen zu schlagen und mit den Zechern zu essen und zu trinken.‘“
(John Henry Newman, Philosophie des Glaubens, München 1921, S. 390)
Newman wußte, all diese Fehler der Katholiken tasteten die Wesensstruktur der Kirche als wahrer und einziger Braut Jesu Christi nicht an. Die Kirche blieb in ihrem Lehramt allezeit die unfehlbare Hüterin des Glaubens und der Sitten und in ihren Sakramenten die himmlische Mutter, die ihren Kindern das übernatürliche Gnadenleben schenkte. An Frederick Baker schrieb Newman am 2. Juni 1890, also kurz vor Ende seines Lebens – John Henry Newman starb am 1. August des Jahres 1890, neunundachtzigjährig:
Die Unfehlbarkeit der Kirche …
„In Zeiten der Kontroverse dachten Sie, Sie könnten, anstatt der inspirierten Lehre der katholischen Kirche zu folgen, mit einem Glauben ohne sie auskommen. Und nun, als kluge Leute sich erhoben und Ihre religiösen Gefühle verletzten, sind Sie überrascht, feststellen zu müssen, daß der Glaube Sie im Stich gelassen hat und daß dies das Ergebnis Ihrer Abhängigkeit vom persönlichen Urteil ist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, wie ich stets anderen in solchen Tagen der Schwierigkeiten geraten habe, zur Offenbarung Gottes Zuflucht zu nehmen, was auch immer es sei, und da Ihren Frieden zu finden. Wenn Er einen Propheten in Seiner Kirche für Sein Volk ernannte, dürfen Sie keinen anderen gegen ihn aufstellen. Die Kirche ist unfehlbar, weil Gott sie unfehlbar gemacht hat. Sie fragen mich: ‚Stimmen Sie Mr. Gore zu?‘ Ich fühle mich nicht verpflichtet, diese Frage zu beantworten. Ich überlasse sie dem Hl. Stuhl zur Entscheidung, sei es jetzt oder zu einer anderen Zeit. Ich warte, bis die Kirche ihre Antwort gegeben hat, und bin nicht ungeduldig, wenn sie diese hinausschiebt.“
(The Letters and Diaries of John Henry Newman, Clarendon Press. Oxford, 196-1980, XXXI S. 293 – 294)
… und ihres sichtbaren Oberhauptes
Wie unterscheidet sich diese Haltung von der unseres amerikanischen Traditionalisten und seiner Gesinnungsgenossen. Anders als diese überwand Newman sein anfängliches Ressentiment gegen das Dogma von der Unfehlbarkeit und fand zu einem echten Vertrauen in die göttliche Führung der Kirche durch Petrus und seine Nachfolger zurück.
Am 15. Mai 1871, also ein Jahr nach dem Vatikanischen Konzil, hatte er noch geschrieben: „Seit Jahrhunderten hat sich der Hl. Stuhl nach diesem Dogma [der Unfehlbarkeit] gerichtet. Der einzige Unterschied besteht darin, daß es jetzt tatsächlich anerkannt worden ist. Ich weiß, es besteht ein Unterschied, denn auf den ersten Blick scheint es den Papst einzuladen, seine nun anerkannte Macht auszuüben. Aber wir müssen ein wenig Glauben haben“ (Ebd. XXV S. 330).
Aus diesen Zeilen spürt man noch die von den Liberalen und späteren Altkatholiken geschürte Angst vor der Unfehlbarkeit heraus. Diese sahen im unfehlbaren Papst einen unberechenbaren Willkürherrscher, vor dem man sich in Acht nehmen muß, denn er könnte jederzeit nach Lust und Laune seine nun anerkannte Macht ausüben, d.h. mißbrauchen. Diese Angst hat sich offenbar in den 19 Jahren, die zwischen beiden Schreiben liegen, gelegt. Die inzwischen gemachte Erfahrung lehrte Newman, der Papst hatte nicht wöchentlich oder monatlich die katholische Welt mit neuen Dogmen traktiert, sondern wie all die Jahrhunderte vorher einfach seine tägliche mühevolle Arbeit als ordentlicher Lehrer der Gesamtkirche gemacht und dadurch das Schifflein Petri durch die immer stärker werdenden Stürme dieser apokalyptischen Zeit gelenkt.
Naturgesetz und Gewissen
Obwohl Newman ursprünglich persönlich gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit war, war es vor allem er, der den ungeheuerlichen Angriffen des englischen Premierministers nach dem Vatikanischen Konzil gegen die Katholiken entgegentrat. In seinem Brief an den Herzog von Norfolk widerlegt er dessen Einwände, Katholiken könnten keine treuen Staatsbürger mehr sein, weil sie nunmehr dem Papst gehorchen müssen und skizziert seine Auffassung vom Gewissen folgendermaßen:
„Ich sage also, daß dem höchsten Wesen ein bestimmter Charakter zukommt, den wir, in menschlicher Sprache ausgedrückt, ethisch nennen. Es hat die Attribute der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Güte und Barmherzigkeit als ewige Charakteristika seiner Natur, geradezu als Gesetz seines Seins, das mit ihm selbst identisch ist. Später hat das höchste Wesen, als es Schöpfer wurde, dieses Gesetz, das es selbst ist, der Erkenntnis aller seiner vernunftbegabten Geschöpfe eingepflanzt. Das göttliche Gesetz ist also die Regel der sittlichen Wahrheit, das Maß für Recht und Unrecht, eine souveräne, unabänderliche, absolute Autorität im Angesichte der Menschen und Engel. ‚Das ewige Gesetz‘, sagt der heilige Augustinus, ‚ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der die Beobachtung der natürlichen Ordnung der Dinge gebietet und deren Verwirrung verbietet.‘ ‚Das Naturgesetz‘, sagt der heilige Thomas, ‚ist ein Einstrahlen des göttlichen Lichtes in uns, eine Teilhabe an dem ewigen Gesetz von Seiten der vernünftigen Kreatur‘. Dieses Gesetz wird ‚Gewissen‘ genannt, insofern es in die Seelen der einzelnen Menschen aufgenommen ist. Obgleich es beim Eintritt in das intellektuelle Medium eines jeden eine Brechung erleiden kann, wird es dadurch doch nicht so beeinträchtigt, daß es seinen Charakter als göttliches Gesetz verliert, sondern es hat als solches noch das Vorrecht, Gehorsam zu fordern. ‚Das göttliche Gesetz‘, sagt Kardinal Gousset, ‚ist die höchste Regel der Handlungen; unsere Gedanken, Wünsche, Worte und Taten, alles, was der Mensch ist, unterstehen der Herrschaft des göttlichen Gesetzes, und dies Gesetz ist die Regelung unseres Verhaltens vermittels unseres Gewissens. Deshalb ist es niemals erlaubt, gegen unser Gewissen zu handeln, wie das Vierte Lateran-Konzil sagt: ‚Quidquid fit contra conscientiam, aedificat ad gehennam‘ (Was gegen das Gewissen geschieht, auferbaut zur Hölle).‘
Diese Auffassung vom Gewissen ist, wie ich weiß, sehr verschieden von derjenigen, die in der heutigen Zeit in der Wissenschaft, in der Literatur und in der öffentlichen Meinung verbreitet ist. Sie gründet auf der Lehre, daß das Gewissen die Stimme Gottes ist; während es heute überall zum guten Ton gehört, es in irgendeiner Weise als eine Schöpfung des Menschen zu betrachten. …“
Der Angriff des Zeitgeistes gegen die inwendige Stimme Gottes
„Das Gewissen ist weder weitsichtige Selbstsucht noch das Verlangen, mit sich selbst in Einklang zu stehen; sondern es ist ein Bote von Ihm, der sowohl in der Natur als auch in der Gnade hinter einem Schleier zu uns spricht und uns durch seine Stellvertreter lehrt und regiert. Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi, ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und Bannflüchen. Selbst wenn das ewige Priestertum in der Kirche aufhören könnte zu existieren, würde im Gewissen das priesterliche Prinzip fortbestehen und seine Herrschaft ausüben.
Worte wie diese gelten heute in der großen Welt der Philosophie als eitles, leeres Geschwätz. Mein ganzes Leben hindurch gab es einen entschlossenen Krieg, fast hätte ich gesagt, eine Verschwörung gegen die Rechte des Gewissens, wie ich es dargestellt habe. Literatur und Wissenschaft haben sich in großen Institutionen zusammengetan, um es niederzuwerfen. Stolze Bauten sind als Festungen gegen jenen geistigen, unsichtbaren Einfluß aufgerichtet worden, der für die Naturwissenschaft zu subtil und für die Literatur zu tief ist. Lehrstühle an den Universitäten hat man zu Sitzen einer feindlichen Tradition gemacht. Zeitungsschreiber haben Tag um Tag den Geist unzähliger Leser mit Theorien angefüllt, die seine Rechtsansprüche umstoßen sollen. …“
Persönliches Gewissen und päpstliche Autorität
Das Gewissen ist kein Freibrief dafür, zu tun, was man will, wie der moderne Mensch es sich wirr zusammengereimt hat, sondern eine von Gott gegebene Stimme, die uns auffordert, unsere Handlung jederzeit an der Wahrheit, d.h. der Wirklichkeit auszurichten, wie wir schon ausführlich dargelegt haben. Das Gewissen ist die höchste subjektive Autorität des Menschen, der Mensch muß immer seinem Gewissen folgen.
Wie steht nun das persönliche Gewissen im Verhältnis zur päpstlichen Autorität? Newman widerspricht dem englischen Premier, der dem Papst schlechthin eine absolute Autorität über jeden Katholiken zuspricht:
„Denn was würde aus des Papstes ‚absoluter Autorität‘, wie Mr. Gladstone sie nennt, werden, wenn auch das Gewissen des einzelnen eine absolute Autorität besäße? Ich will diesen wichtigen Einwand genau beantworten.
1. Ich gebrauche das Wort ‚Gewissen‘ in dem erhabenen Sinn, in dem ich es schon gedeutet habe – nicht als eine Einbildung oder eine Meinung, sondern als pflichtschuldigen Gehorsam gegen das, was den Anspruch erhebt, eine in uns sprechende göttliche Stimme zu sein. Daß dies die rechtmäßige Auffassung ist, werde ich hier nicht zu beweisen versuchen, sondern es als Grundprinzip annehmen.
2. Ich bemerke, daß das Gewissen nicht ein Urteil über irgendeine spekulative Wahrheit, über eine abstrakte Lehre ist, sondern sich unmittelbar auf ein Verhalten bezieht, auf etwas, was getan werden muß oder nicht getan werden darf. ‚Das Gewissen‘, sagt der heilige Thomas, ‚ist das praktische Urteil oder der praktische Spruch der Vernunft, durch die wir urteilen, was hic et nunc [hier und jetzt] getan werden soll, weil es gut ist, oder zu unterlassen ist, weil es schlecht ist.‘ Infolgedessen kann das Gewissen nicht in eine direkte Kollision mit der Unfehlbarkeit der Kirche oder des Papstes kommen. Diese erstreckt sich nämlich nur auf allgemeine Sätze und auf die Verurteilung bestimmter einzelner und gegebener Irrtümer.“
Natur- und Offenbarungsreligion
Sobald man die Wirklichkeit genauer betrachtet, löst sich die Schwierigkeit auf. Das Gewissen ist letzte Instanz der Handlungen, also des praktischen Lebens. Dabei muß das Gewissen nach der Wahrheit gebildet werden. Die Gewissensurteile sind nicht deswegen richtig, weil sei Gewissensurteile sind – was die moderne Auffassung von Gewissen suggeriert – sondern weil sie sich an der Wahrheit und damit an der Wirklichkeit orientieren. Die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes betrifft nun nicht die Praxis, sondern die Theorie, nicht die einzelnen Handlungen des Menschen, sondern die Lehre über den Glauben und die Sitten. Diese sind die theoretische Grundlage für das menschliche Handeln.
Schon 1845 hatte Newman geschrieben:
„Da das Wesen aller Religion Autorität und Gehorsam ist, so liegt der Unterschied zwischen der Naturreligion und der geoffenbarten Religion darin, daß die eine eine subjektive Autorität besitzt, die andere hingegen eine objektive. Die Offenbarung besteht darin, daß die unsichtbare göttliche Macht sich kundgibt oder daß an die Stelle der Stimme des Gewissens die Stimme eines Gesetzgebers tritt. Die Oberhoheit des Gewissens ist das Wesen der Naturreligion; die Oberhoheit des Apostels, des Papstes, der Kirche oder des Bischofs ist das Wesen der Offenbarungsreligion; wenn eine solche äußere Autorität weggenommen wird, kommt der Geist notgedrungen auf jenen inneren Führer zurück, den er besaß, ehe die Offenbarung gewährt, wurde. Was also das Gewissen im System der Natur ist, das ist die Stimme der Hl. Schrift oder der Kirche oder des Heiligen Stuhles im System der Offenbarung. Freilich kann man einwenden, daß das Gewissen nicht unfehlbar sei; das ist wahr, dennoch muß man ihm immer gehorchen.“
(An Essay on the Development of Christian Doctrine, Christian Classics Inc., Westminster, Md., 1968, S. 86)
Die modernistische Forderung nach Religionsfreiheit aufgrund der Gewissensfreiheit, welche die vatikanische Räubersynode, welche man 2. Vatikanum nennt, gelehrt hat, beweist nach Newman, daß man damit aus der katholischen Religion eine reine Naturreligion gemacht hat. Denn nur diese gründet sich auf der subjektiven Autorität des Gewissens. Die katholische Religion als göttliche Offenbarungsreligion dagegen gründet sich auf die Oberhoheit des Apostels, des Papstes, der Kirche oder des Bischofs – also des unfehlbaren kirchlichen Lehramtes.
Die Leugnung des göttlichen Ursprungs der päpstlichen Unfehlbarkeit durch die Modernisten
Wenn somit Herr Kwasniewski seine Gewissensüberzeugung über die kirchliche Autorität stellt, dann leugnet er damit implizit deren göttlichen Ursprung und deren göttliche Führung durch das Charisma der Unfehlbarkeit. Weil er und seine Traditionalisten ihren Widerstand gegen die kirchliche Autorität als „respektvollen Ausdruck unserer auf objektiven Kriterien beruhenden Gewissensüberzeugung, daß der Papst in die Irre gegangen sei“ ,bezeichnen und dennoch gleichzeitig an der Rechtmäßigkeit dieser Autorität festhalten, entkleiden sie die kirchliche Autorität ihres übernatürlichen Charakters und machen sie zu ein „rein weltlich Ding“ – wie es Luther mit der Ehe gemacht hat. Newman wäre sicherlich über die Kirche des Herrn Kwasniewski und seiner Traditionalisten sehr verwundert gewesen, denn diese kann nun wirklich und ganz sicher nicht die katholische Kirche sein. Er gibt 1876 – also 6 Jahre nach dem Vatikanischen Konzil – zu bedenken:
„Nicht alle Dogmen sind für jeden von erstrangiger Bedeutung, wie z.B. das Dogma, daß das Buch Esther zum Kanon der Hl. Schrift gehört, weniger bedeutend ist für einen Menschen, der nicht lesen kann, als für einen andern. Doch es gibt ein Dogma, das allen anderen Dogmen zugrunde liegt und an dem jeder, der ein Kind der Kirche sein will, festhalten muß: nämlich, daß sie [die Kirche] die Lehrerin und Bewahrerin der Offenbarung ist und darum beim Lehren, Verkünden und Aufrechterhalten der Offenbarung nicht irren kann, gemäß den Worten des hl. Paulus: ‚Die Kirche, die Säule und Grundfeste der Wahrheit.‘“
(The Letters and Diaries of John Henry Newman XXVIII S. 129 (21.10.1876))
Die katholische Kirche hat ihr Fundament im göttlichen Glauben, sie ist die Mutter und unfehlbare Hüterin dieses von Gott anvertrauen Glaubensgutes. Das ist das Dogma, das allen anderen Dogmen zugrunde liegt und an dem jeder, der ein Kind der Kirche sein will, festhalten muß. Dieses Dogma leugnen Herrn Kwasniewski und seine Traditionalisten de facto, mit der Tat – bzw. mit unzähligen widerständlerischen Taten aufgrund ihres Katechismuswissens! Was für ein Unsinn, was für ein Wahn! Diese „Kirche“ ist keineswegs die Säule und Grundfeste der Wahrheit, sondern die Mutter aller traditionalistischen Glaubensirrtümer.
Nochmals zusammengefaßt: John Henry Newman beweist uns, der Glaube des Herrn Kwasniewski und seiner Traditionalisten ist eine reine, nur noch etwas christlich verbrämte Naturreligion, in der das eigene, subjektive Gewissen höchste Glaubensnorm ist. Diese Religion nennt man Modernismus. Die Autoritäten dieser „Kirche“ sind bloße Schaufensterpuppen, angezogen mit weißen, violetten oder schwarzen Gewändern, aber selbstverständlich haben Schaufensterpuppen nichts zu sagen, sie haben keinerlei Bedeutung fürs kirchliche Leben, eine Entscheidungskompetenz und -gewalt. Wenn doch diese Tradis endlich einmal so ehrlich wären zuzugeben, daß sie in ihrer Kirche gar keinen Papst und kein Lehramt brauchen, weil sie dieses schon lange durch ihren Gewissensentscheid ersetzt haben.
Es ist schon merkwürdig, aber auch wiederum bezeichnend für diese Art von Traditionalisten, wenn Mr. Kwasniewski meint, sich hierbei auf John Henry Newman und seine Lehre vom Gewissen berufen zu können. Nein, Newman weiß noch ganz anders als die Modernisten und diese Traditionalisten, „daß in Sachen der Lehre die ‚Hoheit des Gewissens‘ nicht der entsprechende Gerichtshof ist für das, was ich für eine gültige Aussage über den Gegenstand halten möchte“. Etwas anders formuliert: Ob jemand eine geoffenbarte und von der Kirche vorgelegte Lehre annimmt, ist zunächst nicht eine Frage der Gewissenhaftigkeit, sondern des Glaubens. Wer also meint, aus Gewissensgründen eine Entscheidung des authentischen oder unfehlbaren Lehramtes ablehnen zu müssen, kann sich nicht auf sein Gewissen berufen, sondern muß vielmehr seinen Unglauben eingestehen. Wir wollen das anhand einiger Lehramtstexte verdeutlichen, in denen jeweils eine Verurteilung wegen Häresie schon aufgrund rein innerlicher Akte ausgesprochen wird. Dadurch wird gezeigt, daß eine unfehlbare Lehrverkündigung selbstverständlich das Gewissen jedes Katholiken bindet.
Die Bindung des persönlichen Gewissens durch die unfehlbare Lehrverkündigung
Es gibt keine Berufung auf das Gewissen gegen die göttliche Wahrheit. Eine solche Berufung auf das Gewissen wäre ein sicheres Zeichen eines Glaubensabfalls.
Das (3. Ökumenische) Konzil von Ephesus, das unter Papst Caelestin stattfand, hat in seiner 6. Sitzung der Kyrillianer (am 22. Juli 431) folgenden Kanon erlassen: „Wenn welche – seien es Bischöfe, Kleriker oder Laien – überführt werden, daß sie das, was in der von dem Priester Charisius herbeigebrachten Darlegung über die Menschwerdung des einziggeborenen Sohnes Gottes enthalten ist, oder auch die frevlerischen und verkehrten Lehren des Nestorius … entweder denken oder lehren, so sollen sie dem Urteil dieses heiligen und ökumenischen Konzils unterliegen. …“ (DS 266)
In der 7. Sitzung der Kyrillianer auf demselben Konzil finden sich zwei weitere Kanones (DS 267-268), die selbst einen bloß nur inneren Akt des Unglaubens anathematisieren:
„1. Wenn der Metropolit einer Provinz vom heiligen und ökumenischen Konzil abgefallen ist … und die Gedanken des Caelestius gedacht hat oder denken wird, so kann dieser überhaupt nichts gegen die Bischöfe der Provinz durchsetzen, da er schon von jetzt an durch das Konzil von jeder kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und amtsenthoben ist. …
4. Wenn aber welche von den Klerikern abfallen und es wagen, entweder privat oder öffentlich die Gedanken des Nestorius oder die des Caelestius zu denken, so ist vom heiligen Konzil beschlossen, daß auch diese abgesetzt sind.“
Es sei zudem die Konstitution „Vineam Domini Sabaoth“ Papst Clemens‘ XI. vom 16. Juli 1705 gegen die Irrtümer der Jansenisten angeführt. Es ist das letzte Beispiel vor der Bulle Ineffabilis Deus Pius‘ IX., in dem schon der innere Akt des Irrglaubens als prinzipiell strafwürdig und strafbar und de facto mit Kirchenstrafen belegt wird, die eo ipso eintreten:
„Damit künftighin jedwede Gelegenheit zum Irrtum gänzlich abgeschnitten werde… beschließen, erklären, bestimmen und verfügen Wir kraft derselben Apostolischen Autorität durch diese Unsere Konstitution, die immerdar gelten wird, daß… der in den fünf vorher genannten Sätzen des Buches des Jansen verurteilte Sinn, den ihre Worte an den Tag legen, so wie er an den Tag gelegt wird, von allen Christgläubigen nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem Herzen als häretisch verworfen und verurteilt werden muß; und das oben genannte Formular mit keiner anderen Absicht, Gesinnung oder Überzeugung erlaubtermaßen unterschrieben werden kann; so daß ‚alle‘, die in bezug auf dies alles und jedes einzelne anders oder entgegengesetzt denken, festhalten, verkünden, mündlich oder schriftlich lehren oder behaupten, als Übertreter der vorher genannten Apostolischen Konstitutionen allen und ihren einzelnen Zensuren und Strafen völlig unterliegen“ (DS 2390).
Es sei abschließend noch die Bulle „Ineffabilis Deus“ vom 8. Dezember 1854 von Pius IX. erwähnt. Nach dem Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens folgt unmittelbar folgenden „Sanktion“: „Sollten daher, was Gott verhüte, sich welche herausnehmen, im Herzen anders zu sinnen, als von Uns definiert wurde, so sollen diese erkennen und fortan wissen, daß sie, durch eigenen Richtspruch verurteilt, Schiffbruch im Glauben erlitten haben und von der Einheit der Kirche abgefallen sind, und daß sie außerdem durch ihre Tat selbst den vom Recht festgelegten Strafen unterliegen, wenn sie es wagen sollten, das, was sie im Herzen sinnen, mündlich, schriftlich oder auf irgendeine andere äußerliche Weise zum Ausdruck zu bringen“ (DS 2804).
Es zeigt sich somit, wer meint gegen das unfehlbare Lehramt sich auf sein eigenes Gewissen berufen zu können, hat den katholischen Glauben verloren und einen rein natürlichen Glauben angenommen. Sein Glaube gründet nicht mehr im göttlichen Wissen, sondern in seiner eigenen, vermeintlichen Einsicht.
Das Gewissen des gläubigen Katholiken ist ein vom Glauben durchformtes und somit wesentlich ein kirchliches Gewissen. Jede lehramtliche Entscheidung bindet in einem gewissen Grad das katholische Gewissen – entweder als authentische oder als unfehlbare Lehrvorlage.
Der Antimodernisteneid
Fast jeder traditionalistische Priester hat während seiner Ausbildung noch den sog. Antimodernisteneid abgelegt. Man ist schon recht verwundert, daß alle Lefebvristen offenbar ein recht weites Gewissen haben müssen, wenn sie diesen Eid ablegen. Denn ihre Grundhaltung gegenüber dem kirchlichen Lehramt – erkenne und widerstehe! – widerspricht direkt dem geleisteten Eid.
Da heißt es etwa: „Ich unterwerfe mich auch mit der gebührenden Ehrfurcht und Pflicht von ganzem Herzen bei allen Verurteilungen, Erklärungen und Vorschriften, welche im Rundschreiben Pascendi und im Dekret Lamentabili enthalten sind, besonders in Bezug auf die sog. Dogmengeschichte.“
Da für diese Tradis weder die Enzyklika Pascendi, noch das Dekret Lamentabili unfehlbaren Charakter haben, unterwerfen sie sich diesen natürlich nicht mit dem notwendigen Glaubensgehorsam, sondern nur in der ihrer Lehre entsprechenden schulmeisterlichen Herablassung, mit der sie diese Texte als gut oder weniger gut beurteilen. Sie werden nicht durch das kirchliche Lehramt belehrt, sondern belehren dieses ihrerseits.
In dem Antimodernisteneid heißt es weiter:
„Ich … umfasse und nehme festiglich alles und jedes einzelne an, was vom irrtumslosen Lehramte der Kirche bestimmt, gelehrt und erklärt worden ist, besonders jene Lehrpunkte, welche unmittelbar den Irrtümern unserer Zeit entgegenstehen.“
In der Erklärung von Julius Beßmer S.J. in seinem Buch „Theologie und Philosophie des Modernismus“ heißt es: „Hier findet also eine Berufung auf Lehrentscheidungen der Konzilien und der Päpste statt, und da es sich hauptsächlich um Punkte handelt, welche den Irrtümern der Neuzeit entgegentreten, so sehen wir uns hauptsächlich auf die Entscheidungen Pius‘ IX. und auf die Definitionen des Vatikanischen Konzils hingewiesen“ (Julius Beßmer S.J., Philosophie und Theologie des Modernismus, Herdersche Verlagshandlung, Freiburg im Breisgau 1912, S. 521).
Müßten unsere Tradis dem Eidestext nicht widersprechen, denn wenn es darin heißt: „was vom irrtumslosen Lehramte der Kirche bestimmt, gelehrt und erklärt worden ist“ und: „besonders jene Lehrpunkte, welche unmittelbar den Irrtümern unserer Zeit entgegenstehen“, dann geht das doch bei weitem über ihre minimalistische Interpretation des unfehlbaren Lehramtes hinaus! Für diese Tradis gibt es während dieser Zeit doch höchstens zwei vom Lehramt verkündete Dogmen – und das ist für einen Tradi schon ausnehmend viel innerhalb von 15 Jahren! – nämlich das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis und von der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes. Nun spricht der Eidestext aber in der Mehrzahl und von den Irrtümern unserer Zeit, die doch zweifelsohne viel mehr sind als nur zwei. Wie kann es da heißen, „was vom irrtumslosen Lehramte der Kirche bestimmt, gelehrt und erklärt worden ist“ – was für eine maßlose Übertreibung! Man muß es sich immer wieder in Erinnerung rufen, der Papst der Tradis hat keine Schlüssel in der Hand, sondern eine Schultasche umhängen, er ist nicht dazu da zu belehren, sondern von den Tradis belehrt zu werden.
Ein neues „Grund-Dogma„: Erkenne und widerstehe!
Für John Henry Newman war es noch, wie wir gelesen haben, selbstverständlich, auf den hl. Stuhl zu vertrauen und seine Entscheidung abzuwarten, auch wenn es sich dabei nicht um unfehlbare Entscheidungen handeln sollte: „Sie fragen mich: ‚Stimmen Sie Mr. Gore zu?‘ Ich fühle mich nicht verpflichtet, diese Frage zu beantworten. Ich überlasse sie dem Hl. Stuhl zur Entscheidung, sei es jetzt oder zu einer anderen Zeit. Ich warte, bis die Kirche ihre Antwort gegeben hat, und bin nicht ungeduldig, wenn sie diese hinausschiebt.“
Kein Tradi verhält sich so, ja er würde sich höchstwahrscheinlich recht lächerlich vorkommen, wenn er plötzlich seinem Papst eine richtige Entscheidung zutrauen würde, hat er sich doch durch die geschichtlichen Tatsachen der letzten Jahrzehnte mit ihren allzeit irrenden „Päpsten“ in den Modernismus hineinziehen lassen. Mit anderen Worten: Er hat vor lauter Widerstand den eigentlichen übernatürlichen Sinn der kirchlichen Autorität aus den Augen verloren und deren Grenzen so verrückt, daß sie seinem Grunddogma – erkenne und widerstehe! – entsprechen.
Man muß mit großer Sorgfalt walten, ehe man sich auf das Gewissen beruft!
Sicherlich hat die Autorität der Kirche und des Papstes ihre Grenzen. Der Papst ist nicht immer und in jedem Fall unfehlbar. Selbst die Autorität der Kirche über die Lehre reicht immer nur so weit wie die Offenbarung reicht. Kardinal Newman betont in seinem Brief an den Herzog von Norfolk:
„3. Ich bemerke weiter: Da das Gewissen ein praktisches Diktat ist, ist eine Kollision zwischen ihm und dem Papste nur möglich, wenn der Papst Gesetze oder besondere Befehle und dergleichen gibt. Doch ein Papst ist nicht unfehlbar in seinen Gesetzen, ebensowenig in seinen Befehlen und politischen Aktionen, in seiner Verwaltung, in seiner öffentlichen Politik. Man gestatte die Bemerkung, daß das Vatikanische Konzil ihn hierin gerade so belassen hat, wie es ihn fand.“
Jeder gläubige Katholik weiß, daß der Papst in den hier genannten Entscheidungen (es sei denn es handle sich um allgemeine Gesetze für die ganze Kirche) nicht unfehlbar ist, dennoch wird er auch solche Entscheidungen und Aussagen im Geist des Gehorsams hören und sie annehmen, um die Einheit der Kirche nicht zu gefährden. In Einzelfällen kann zwar sein Gewissen in Fragen dieser Art zu einer Auffassung kommen, die nicht mit jener des Papstes übereinstimmt, dabei legt selbst hier Newman ungewöhnlich strenge Maßstäbe an: „4. Um nicht mißverstanden zu werden, muß ich wiederholen, daß ich, wenn ich vom Gewissen rede, selbstverständlich das meine, was man mit Recht Gewissen nennt. Wenn es das Recht hat, der höchsten, wenn auch nicht unfehlbaren Autorität des Papstes entgegenzutreten, dann muß es etwas mehr sein als jenes elende Zerrbild, das, wie ich oben erwähnt habe, jetzt seinen Namen führt. Wenn es in einem einzelnen Falle als ein heiliger, souveräner Mahner aufgefaßt werden soll, dann müssen seinem Diktat, das gegen die Stimme des Papstes Geltung haben soll, ernsthaftes Nachdenken, Gebet und Anwendung aller erdenklichen Mittel vorangehen, will man in der in Frage stehenden Angelegenheit zu einem richtigen Urteil kommen. Ferner ist der Gehorsam gegen den Papst das, was ‚in possessione‘ genannt wird; das heißt, das onus probandi [Beweislast] bei der Einleitung eines Verfahrens gegen ihn liegt, wie in allen außergewöhnlichen Fällen, auf Seiten des Gewissens. Wenn ein Mensch nicht imstande ist, zu sich selbst in der Gegenwart Gottes zu sagen, er solle und dürfe sich nicht erdreisten, nach der päpstlichen Anordnung zu handeln, dann ist er verpflichtet, ihr zu gehorchen, und er würde eine schwere Sünde begehen, wenn er es nicht täte. Prima facie ist es seine strenge Pflicht, schon aus einem Gefühl der Loyalität, zu glauben, der Papst sei im Recht und handle entsprechend. Er muß jenen niedrigen, unedlen, selbstsüchtigen, vulgären Geist seiner Natur überwinden, der schon bei der ersten Kunde von einem Befehl sich sofort dem Vorgesetzten gegenüber, der ihn gibt, in Opposition setzt und fragt, ob jener nicht sein Recht überschreite, und Freude daran hat, in einer moralischen und praktischen Angelegenheit mit Skeptizismus zu beginnen. Er darf nicht eigensinnig dazu entschlossen sein, ein Recht zu beanspruchen, zu denken, zu sagen und zu tun, was ihm gerade beliebt, und die Frage nach Wahrheit und Irrtum, nach Recht und Unrecht, die Pflicht, wenn möglich zu gehorchen, und die Neigung, zu sprechen, wie sein Oberhaupt spricht, und in allen Fällen auf der Seite seines Oberhauptes zu stehen, nicht einfach beiseite schieben.“
Welcher Traditionalist befolgt bei seinem Widerstand gegen die päpstliche Autorität die hier von Newman aufgestellten Regeln? Wohl kein einziger! Newman ist meilenweit davon entfernt, dem Papst etwa wie Mr. Kwasniewski entgegenzutreten – selbst nicht in den Fällen, in denen er keine Lehrautorität ausübt, sondern konkrete kirchenpolitische oder verwaltungstechnische Einzelmaßnahmen ergreift, fordert er höchste Sorgfalt und viel Weisheit. Er gibt darüber hinaus zu bedenken:
„Würde man diese notwendige Regel beobachten, so wären Konflikte zwischen päpstlicher Autorität und der Autorität des Gewissens sehr selten. Andrerseits haben wir in der Tatsache, daß in Ausnahmefällen schließlich das Gewissen eines jeden einzelnen frei ist, eine feste Bürgschaft dafür, falls eine solche Bürgschaft nötig wäre (dies ist eine recht grundlose Vermutung), daß kein Papst jemals, wie der Einwand es voraussetzt, ein falsches Gewissen zu seinen eigenen Zwecken schaffen kann.“
(Certain Difficulties, felt by Anglicans in Catholic Teaching; Vol. II, Letter to the Duke von Norfolk (27.12.1874); Christian Classics, Westminster, Md., 1969, S. 257 – 258)
Erkenne und ziehe die Konsequenz
Der letzte Satz macht einem recht nachdenklich – denn eigentlich spricht er gegen die Traditionalisten und für uns. Die letzte Konsequenz davon ist nämlich die: Ein Papst, der ein „falsches Gewissen“ schaffen würde – Scheeben spricht von einer absoluten Temerität, also von einem Papst, der unter den Bedingungen einer unfehlbaren Entscheidung des Lehramtes eine Häresie verkünden würde – zeigt damit, daß er keine wahre Autorität mehr besitzt, also nicht Papst der katholischen Kirche sein kann. Newman ist überzeugt, wir haben es oben schon zur Kenntnis genommen: „Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinne des Wortes, dann würde er Selbstmord begehen. Er würde sich den Boden unter den Füßen wegziehen.“
Nur wer diese von Newman angesprochene Konsequenz aus dem Lehrdesaster in der Menschenmachwerkskirche zieht, entgeht dem beißenden Selbstwiderspruch, der sich im Verhalten unserer Tradis und ihrem „erkenne und widerstehe“ findet. Denn der wahren Einsicht in diese beispiellose kirchliche Situation folgt nicht der Widerstand gegen den eigenen Papst – was in der Tat vollkommen widersinnig ist! – sondern die Erkenntnis der papstlosen Zeit. In der Tat haben sich Roncalli, Montini, Wojtyla, Ratzinger und Bergoglio durch ihre häretischen Lehren und apostatischen Taten den Boden unter den Füßen weggezogen.
Sentire cum Ecclesia
In einem Brief klagt Newman über die Probleme, die entstehen, „wenn eine Anzahl kleiner ‚Päpste’ aufsteht, oft Laien, die gegen Bischöfe und Priester predigen, ihre eigenen Ansichten zu Glaubenswahrheiten erheben, einfach gesinnten frommen Leuten Angst machen und fragende Menschen abstoßen“ (Charles Stephen Dessain, Thomas Gornall (eds.), The Letters and Diaries of John Henry Newman, Vol. XXIII, Clarendon Press, Oxford 1973, S. 272).
Ob der englische Kardinal, wenn er heute lebte, mit diesen Worten nicht auch die heutigen Tradis treffend bezeichnet sehen würde? Nein, Newman steht nicht auf der Seite der Traditionalisten und Modernisten, die ihn so gerne für sich vereinnahmen. Schon Ida Friederike Görres stellte klar: „Er ist wahrlich der letzte, auf den wir uns berufen dürfen, um uns in irgendeiner Sache, unser Privaturteil, unsern Vorteil, unsere Sympathie oder ganz einfach unsern Eigensinn und unsere Scheu vor empfindlicher Selbstüberwindung gegen ein ausdrückliches Gebot der Kirche im Namen des Gewissens zu behaupten.“
Dieses Urteil bestätigen sicherlich all unsere Ausführungen aufs Beste. Newman selbst bekennt bei seiner Rede während der Ernennung zum Kardinal am 12. Mai 1879: „In einer langen Reihe von Jahren habe ich viele Fehler begangen. Ich habe nichts von jener hohen Vollkommenheit, die den Schriften von Heiligen eignet, daß nämlich nichts Irriges in ihnen zu finden wäre. Aber eines, so glaube ich zuversichtlich, kann ich für alles, was ich geschrieben habe, in Anspruch nehmen: Eine ehrliche Absicht, frei von persönlichen Zwecken, eine Haltung des Gehorsams, eine Bereitschaft, mich korrigieren zu lassen, eine Furcht vor Irrtum, ein Verlangen, der heiligen Kirche zu dienen – und durch Gottes Güte ein schönes Maß von Erfolg“ (John Henry Newman, Summe christlichen Denkens. Auswahl und Einleitung von Walter Lipgens, Freiburg 1965, S. 169).
Wir jedenfalls sind ganz und gar davon überzeugt, daß sowohl die Modernisten als auch die Traditionalisten gegen Newman ein großes Unrecht begehen, wenn sie ihn vor ihren Karren spannen. Sein ganzes Leben lang hat er sich bemüht, das „sentire cum ecclesia“ zu üben, das Mitfühlen und Mitleiden mit der einzigen, wahren und makellosen Braut Jesu Christi, so daß er wohl, wenn er heute leben würde, das Lügengebäude der Menschenmachwerkskirche durchschauen würde. Denn um dieser anzugehören, bräuchte er sich gar nicht mehr vom Anglikanismus abwenden. Letztlich sind die Irrlehren dieselben.
Es ist beeindruckend zu lesen, wie sehr Kardinal Newman die Kirche Jesu Christi geliebt hat und welche Sorgfalt er aufwendete, diese Liebe durch die Gnadenhilfe Gottes zu bewahren:
„Laß mich nie auch nur für ein Augenblick vergessen, daß Du Dir auf Erden ein Königreich errichtet hast, daß die Kirche Dein Werk ist, Deine Gründung, Dein Instrument; daß wir unter Deiner Herrschaft, Deinen Gesetzen und Deinem Auge stehen – daß, wenn die Kirche spricht, Du es bist, der spricht. Laß nicht zu, daß ein allzu vertrauter Umgang mit dieser wunderbaren Wahrheit mich dazu führe, ihr gegenüber unempfindlich zu sein; laß nicht zu, daß die menschliche Schwachheit Deiner Repräsentanten mich dazu führe, zu vergessen, daß Du es bist, der durch sie spricht und wirkt.“
(Meditations und Devotions of the late Cardinal Newman, Christian Classics Inc., Westminster, Md, 1975, S. 378 – 379 (Hrsg. 1893))
„Aus Schatten und Bildern in die Wahrheit“
Gott hat dem englischen Konvertiten ein langes, leidvolles, aber überaus erfülltes Leben geschenkt. Er starb am 11. August 1890 im Kreis der Mitbrüder im Oratorium in Birmingham an einer Lungenentzündung. Am 19. August wurde sein Leichnam im Friedhof der Oratorianer in Rednal zur letzten Ruhe getragen. 15.000 Menschen säumten beim Begräbniszug die Straßen der Stadt und zeigten die große Wertschätzung, die er sich unter den englischen Katholiken erworben hatte. Die Worte, die er auf seinen Grabstein meißeln ließ, fassen sein ganzes Leben zusammen und sind ein treffender Ausdruck der Wirksamkeit und Führung der göttlichen Gnade: „Ex umbris et imaginibus in veritatem“ („Aus Schatten und Bildern in die Wahrheit“).
Ein Besuch bei John Henry Newman
Es sei hier noch abschließend auszugsweise ein Brief wiedergegeben, in dem Erzbischof Ullathorne über einen Besuch bei Newman geschrieben hat: „Wir führten ein langes und frohes Gespräch miteinander, aber als ich aufstand, um wegzugehen, brachte mich eine Handlung, die er setzte, in eine Lage, die ich wegen ihrer erhabenen Lehre für mich selbst niemals vergessen werde. Er sagte in leisem und demütigen Ton: ‚Mein treuer Herr, möchten Sie mir eine große Gunst erweisen?‘ ‚Was ist es?‘, fragte ich. Er glitt auf die Knie nieder, beugte sein ehrwürdiges Haupt und sagte: ‚Geben Sie mir Ihren Segen‘. Was konnte ich mit ihm in solcher Haltung vor mir tun? Ich konnte es nicht verweigern, ohne ihn in große Verlegenheit zu bringen. So legte ich meine Hand auf sein Haupt und sagte: ‚Mein treuer Lord Kardinal, trotz aller gegenteiligen Gesetze bitte ich Gott, Sie zu segnen, und möge Sein Heiliger Geist in Fülle in Ihrem Herzen wohnen‘. Als ich zur Tür schritt, begleitete er mich, wobei er sich weigerte, sein Birett auf das Haupt zu setzen; dabei sagte er: ‚Ich war mein ganzes Leben lang im Haus, während Sie für die Kirche draußen in der Welt gekämpft haben‘. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart vernichtet: in diesem Manne lebt ein Heiliger!“ (Mother Francis Raphael [Drane, A. T.] [Hrsg.]:Letters of Archbishop Ullathorne, London 1892, S. 511-512).
Hinter dem Spiegel und was Alice dort fand
Am Schluß unserer wunderlichen Reise begeben wir uns nochmals vom Tradiland ins Wunderland der Alice. Lewis Carroll schrieb auch das Buch, Alices Abenteuer im Wunderland – Hinter dem Spiegel und was Alice dort fand (Alice’s Adventures in Wonderland – Through the Looking-Glass and what Alice Found There), mit Illustrationen von John Tenniel, Deutsch von Jörg Karau. Am Ende dieser wunderbaren Traumreise ins Wunderland wird Alice, nachdem sie ihr letztes Abenteuer mit zwei ebenfalls recht abenteuerlichen Rittern bestanden hat, Königin. Nachdem sie dem einen Ritter zum Abschied nachgewunken hatte, um ihn etwas aufzumuntern, rannte sie den Hügel hinunter
„und jetzt über den letzten Bach, um eine Königin zu werden! Wie großartig das klingt.“ Wenige Schritte brachten sie an den Rand des Baches. „Endlich das Achte Feld!“ rief sie, als sie hinübersprang und sie warf sich zu Boden, um auf einem Rasen weich wie Moos und hier und dort mit kleinen Blumenflecken geschmückt auszuruhen. „Ach, wie froh bin ich, daß ich hierher gelangt bin! Und was ist das auf meinem Kopf?“ rief sie erschrocken, während sie mit den Händen etwas sehr Schweres befühlte, das fest auf ihrem Kopf saß.
„Wie kann es nur dorthin gekommen sein, ohne daß ich es gemerkt habe?“ sagte sie sich, als sie es abnahm und in den Schoß legte, um herauszufinden, was es sein könnte. Es war eine goldene Krone.
Man kann sich die Freude vorstellen, die Alice beim Anblick der Krone überkam:
„Nun, das ist großartig!“ sagte Alice. „Ich habe nie erwartet, so bald eine Königin zu sein – und ich sage Euch eins, Majestät,“ fuhr sie in ernstem Ton fort (sie schalt sich immer recht gern selbst), „es geht nicht an, daß Ihr Euch derart im Gras herumwälzt. Königinnen müssen nämlich würdevoll sein!“ So stand sie auf und ging weiter – zunächst recht steif, weil sie Angst hatte, daß die Krone herunterfallen könnte; aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß es niemanden gab, der sie sah, „und wenn ich wirklich eine Königin bin,“ sagte sie, während sie sich wieder hinsetzte, „werde ich bald ganz gut zurechtkommen.“
Leider war sie nicht die einzige Königin in ihrem Traumland, es gab dort noch eine Weiße und eine Schwarze Königin. Beide gönnten es Alice keineswegs, ebenfalls Königin zu sein und machten ihr deswegen das Leben recht schwer.
Nach mehreren Streitgesprächen kam sie schließlich an eine große Tafel, an der sie aber niemals zu essen bekam, weil die Speisen zu leben begannen und jedesmal, wenn sie einer Speise vorgestellt wurde, diese sofort wieder abgetragen wurde. Dieses Spiel erboste Alice immer mehr, so daß ihr der Kragen platzte:
„Und was Euch betrifft,“ fuhr Alice fort und wandte sich wütend an die Schwarze Königin, die sie für die Ursache des ganzen Unfugs hielt – aber die Königin war nicht mehr an ihrer Seite – sie war plötzlich auf die Größe einer kleinen Puppe geschrumpft und befand sich jetzt auf dem Tisch, wo sie fröhlich im Kreis ihrem Schal nachlief, der hinter ihr herschleifte.
Zu jeder anderen Zeit wäre Alice darüber verwundert gewesen, aber sie war viel zu aufgeregt, um sich jetzt über irgendetwas zu wundern. „Was dich betrifft,“ wiederholte sie und kriegte das kleine Geschöpf zu packen, als es gerade über eine Flasche sprang, die eben auf dem Tisch gelandet war, „ich schüttele dich, bis du ein Kätzchen bist!“
Zugegebenermaßen kein königliches Benehmen der kleinen Alice. Aber in der Traumwelt erschien es ihr doch als ein guter Einfall:
Sie nahm die Königin vom Tisch, während sie sprach, und schüttelte sie mit aller Kraft vor und zurück. Die Schwarze Königin leistete überhaupt keinen Widerstand; nur ihr Gesicht wurde sehr klein und ihre Augen wurden groß und grün; und als Alice sie weiter schüttelte, fuhr sie fort, kleiner zu werden – und fetter – und weicher – und runder – und –
KAPITEL XI
Erwachen
– und es war zu guter Letzt wirklich ein Kätzchen.
Nach dem vielen Ärger mit der Königin bedeutete diese Feststellung eine nicht geringe Erleichterung für Alice. Das Schütteln hatte sozusagen Erfolg, die Verwandlung war gelungen. Ein Kätzchen war nun wirklich angenehmer als eine derart widerliche Königin. Alice blickte erstaunt auf das kleine schwarze Ding in ihren Händen:
„Eure Schwarze Majestät sollte nicht so laut schnurren,“ sagte Alice und rieb sich die Augen, während sie mit dem Kätzchen sprach, respektvoll, doch mit einer gewissen Strenge. „Du hast mich aus einem ach! so schönen Traum geweckt! Und du bist bei mir gewesen, Miezchen – überall in der Spiegelwelt! Hast du das gewußt, Liebchen?“
Es ist eine sehr lästige Angewohnheit kleiner Katzen (wie Alice einmal bemerkt hat), daß sie, was man auch zu ihnen sagt, immer schnurren. „Wenn sie doch für ,ja´ schnurren und für ,nein´ miauen würden, oder etwas in der Art,“ hatte sie gesagt, „so daß man ein Gespräch führen könnte! Aber wie kann man mit einer Person reden, die immer dasselbe sagt?“ Dazu schnurrte das Kätzchen nur, und es war unmöglich zu erraten, ob es „ja“ oder „nein“ meinte. So suchte Alice unter den Schachfiguren auf dem Tisch, bis sie die Schwarze Königin gefunden hatte; dann kniete sie auf dem Kaminvorleger nieder und ließ das Kätzchen und die Königin einander anblicken. „Nun, Miezchen!“ rief sie und klatschte triumphierend in die Hände. „Gestehe, daß du dich in das hier verwandelt hast.“
(„Aber es wollte nicht hinsehen,“ sagte sie, als sie die Angelegenheit später ihrer Schwester erklärte; „es drehte den Kopf weg und tat so, als sähe es die Königin nicht; aber es sah ein bißchen verschämt aus, deshalb glaube ich, daß es die Schwarze Königin gewesen sein muß.“)
„Sitz etwas gerader, Liebes!“ rief Alice fröhlich lachend. „Und mach einen Knicks, während du überlegst, was du – was du schnurren willst. Es spart Zeit, denk daran!“ Und sie nahm das Kätzchen auf und gab ihm ein Küßchen, „zu Ehren, daß es eine Schwarze Königin gewesen ist.“
So also ist es im Traumland der Alice – ob es im Tradiland auch möglich wäre, daß die Tradis ihren Bergolgio so lange schütteln, bis er ein schwarzes Kätzchen wird? Das darf sicherlich mit guten Gründen bezweifelt werden – und zudem darf bezweifelt werden, daß er durch ein derartiges Schütteln ein schwarzes Kätzchen würde. Da käme sicherlich etwas ganz anderes zum Vorschein. Aber davon wollen die Tradis gar nie nichts wissen.
…
In ein Wunderland entrückt,
Durch die Tage traumverzückt,
Durch die Sommer traumbeglückt;
Einfach treiben sie wie Schaum
Lang am goldnen Ufersaum –
Leben ist doch nur ein Traum?
Nach solch schöner Romantik denkt womöglich doch noch mancher Tradi: Ach, wenn Bergoglio doch nur ein Traum wäre…