Gewissensentscheide im Tradiland (1/2)

Die Traditionalisten sind moderne Menschen und wie diese haben sie große Angst um ihre moderne Freiheit, von der sie im Grunde gar nicht wissen, was sie ist. Diese Aussage wird freilich vielen Lesern als eine unverschämte Behauptung vorkommen, ziehen doch gerade die Traditionalisten in den Krieg gegen die moderne Freiheit – so wenigstens scheint es zu sein. Aber stimmt das? Nun, etwas zu verteidigen, das man gar nicht kennt, ist gar nicht so einfach, weswegen diese Verteidigung nicht selten ins Absurde abgleitet. Jeder Katholik weiß, daß der moderne Mensch vordringlich seine „Freiheit“ gegen die Wahrheit verteidigt bzw. verteidigen muß, ist doch seine Freiheit gleichbedeutend mit Willkür. Freiheit, das heißt für den modernen Menschen: „Tue, was du willst!“

Wahre Philosophie

Immerhin spürt der moderne Mensch gewöhnlich noch, daß seine „Freiheit“ mit der Wahrheit nicht zusammengeht. Lieber Freiheit als Wahrheit, so heißt letztlich das moderne Motto, auch wenn es selten so deutlich ausgesagt wird. Der moderne Mensch empfindet die Wahrheit vor allem als Zwang, d.h. als Verunmöglichung oder zumindest als eine unerwünschte Einengung seiner persönlichen Freiheit. Er leidet sozusagen unter einer geistigen perspektivischen Täuschung, die grundgelegt ist in den Irrtümern der sog. modernen, agnostizistischen Philosophien. Uns Katholiken ist der Plural bei „Philosophien“ allein schon ein Indiz dafür, daß diese falsch sein müssen, kann es doch nur eine wahrePhilosophie geben, wie es nur eine Wahrheit gibt. Früher sprach man von der „philosophia perennis“, der ewigen Philosophie. Diese ist selbstverständlich nur eine und zudem immer gültig, was nämlich einmal philosophisch als wahr erkannt worden ist, kann sich morgen nicht wieder als falsch erweisen. Weil die wahren Philosophen am Aussterben sind, versinkt die „philosophia perennis“ ins Dunkel der Vergangenheit. 

Lechzen nach Neuerungen…

Beim modernen Menschen wurde die Liebe zur Wahrheit ersetzt durch ein Lechzen nach Neuerungen. Nicht mehr was wahr ist, wird als gut erfunden, sondern was neu, was modern ist. Zuweilen kann man es gar nicht fassen, was für ein Unsinn plötzlich in aller Munde ist, nur deswegen, weil er nun einmal gerade von den Meinungsmachern als „modern“ angepriesen wird.

… und Subjektivierung des Gewissens

Mit der modernen Freiheit hängt unlösbar die Betonung des subjektiven Gewissens zusammen. Wenn die Freiheit letztes und höchstes Gut des Menschen ist, dann ist jede „freie“ Handlung auch gut. Jeder Zwang erweist sich hingegen, weil er gegen diese Freiheit gerichtet ist, als schlecht. Damit verschiebt sich das Urteil von der objektiven Ebene – entweder gut oder schlecht, moralisch erlaubt oder moralisch verwerflich – auf die subjektive Ebene, denn letztlich empfindet jeder etwas anderes als Zwang. Ist das Urteil über gut oder schlecht nicht mehr objektivierbar, so ist das Gewissen grundsätzlich der Möglichkeit einer Manipulation unterworfen. Diese „Willkür“ des Einzelnen ist jederzeit und viel leichter als man glaubt zu beeinflussen. 

Die Subjektivität menschlichen Erkennens

Es gibt einige moderne Vorurteile, die kaum noch auszurotten sind. Eines dieser Vorurteile ist, daß man früher – damit meint der moderne Mensch gewöhnlich das dunkle Mittelalter – die Subjektivität nicht beachtet oder gar gekannt hat. Das schließt man aus der Tatsache, daß der mittelalterliche Mensch sich überall um weitestgehende Objektivität bemüht und wenig oder kaum von den subjektiven Aspekten spricht. Jeder, der sich auch nur rudimentär mit der Erkenntnislehre der „philosophia perennis“ beschäftigt hat, kann über eine solche Meinung nur den Kopf schütteln. Die „philosophia perennis“ weiß viel mehr und viel Treffenderes über die Subjektivität menschlichen Erkennens sagen, als alle modernen Philosophien zusammen.

Das erwähnte Vorurteil kommt letztlich daher, daß in der „Moderne“ das Verständnis für die grundlegenden philosophischen Einsichten über die Bedingungen menschlicher Erkenntnis verlorengegangen sind, wie besonders Arbogast Schmitt in seinen vielen Schriften und Büchern beeindruckend aufzeigt. 

Mit dem Urteil über die Subjektivität menschlichen Erkennens hängt letztlich auch das Urteil über Wesen und Bedeutung des Gewissens ab. Es ist leicht einzusehen, daß dann, wenn der Mensch zu keiner objektiven Erkenntnis mehr kommen kann, damit auch die Beurteilung der menschlichen Handlungen wesentlich mitbetroffen ist.

Die Instrumentalisierung des subjektiven Gewissens

Die Modernisten reden sehr viel vom Gewissen, weil sie meinen, dieses gegen die objektiv gegebene Wahrheit instrumentalisieren zu können. Es ist zunächst festzuhalten: Auch der Modernist glaubt nicht mehr an die Wahrheit, selbst wenn er noch so viel von „Wahrheit“ spricht. Es sei daran erinnert, daß bei den Modernisten die meisten Begriffe vieldeutig sind, weshalb es recht schwer ist, genau festzustellen, was ein Modernist meint. Der modernistische „Glaube“ etwa erhebt keinen Wahrheitsanspruch und damit auch keinen Absolutheitsanspruch. Die meisten Konservativen und Traditionalisten wollen sich diese Tatsache bis heute nicht eingestehen – und das trotz Bergoglio! Wieso soll ich mich über einen Bergoglio moralisch entrüsten, weil er keinen Glauben mehr hat und ständig irrige Lehren von sich gibt? Das gehört doch zum Wesen jedes Modernisten! Es wäre viel mehr zum Verwundern, wenn Bergoglio plötzlich katholisch reden würde. 

Das Wesen des Modernismus zeigt sich wohl am greifbarsten in der Lehre von der Religionsfreiheit, die sich auf die Gewissensfreiheit stützt. Ihre Verfälschung der Lehre vom Gewissen ermöglicht den Modernisten zu behaupten, daß jeder Mensch ein Recht habe, jener Religion anzuhangen, die er für richtig hält. Weil man das früher – also im finsteren Mittelalter, das in derartigen Lehrfragen frappierender Weise gewöhnlich bis zum sog. 2. Vatikanum heraufreicht! – das Gewissen noch nicht richtig verstehen konnte – dazu waren nämlich die modernen Philosophien nötig –, darum hat man diese Lehre von der Gewissens- und Religionsfreiheit noch nicht verstanden. Erst auf dem sog. 2. Vatikanum ist diese neue Erkenntnis von der „Kirche“ übernommen und als neue Lehre formuliert worden. Ein gewaltiger Fortschritt!

Modernistische Neu-Entdeckungen

Wie schon gesagt, tun die Modernisten so, als hätten sie das Gewissen erst so richtig entdeckt, wie auch die Subjektivität! Nun weiß jeder Katholik, daß die modernistischen Entdeckungen niemals wirkliche Neu-Entdeckungen sind, sondern irgendwelche alten Irrtümer. Darum erscheint selbstverständlich einem Katholiken eine solche Ansicht vorneweg verdächtig – und wenn man nur einmal bedenkt, daß doch seit Jahrhunderten in jedem Beicht- bzw. Erstkommunionunterricht den Kindern die Lehre vom Gewissen vorgetragen wurde, als absurd. 

Menschliche Erkenntnisfähigkeit

Die grundlegende Lehre über das Gewissen ist recht einfach, wenn man die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen verstanden hat. Der hl. Thomas von Aquin gibt zu bedenken: „Der erkennende Geist des Menschen empfängt sein Maß von den Dingen, so daß der Gedanke des Menschen nicht seiner selbst wegen wahr ist; sondern er wird wahr genannt kraft seiner Übereinstimmung mit den Dingen. … Der erkennende Geist Gottes dagegen ist das Maß der Dinge; denn jedes Ding hat soviel Wahrheit, als es Gottes erkennenden Geist abbildet“ (I-II. 93, 1 ad 3). Unsere (also in der modernen Sprache die subjektive) Erkenntnis erhält ihr objektives Maß von den Dingen. Darum ist eine Erkenntnis dann wahr, wenn sie mit dem wirklichen Sein des Dinges übereinstimmt, d.h. wenn sie das ihm von Gott zugemessene Seinsmaß richtig erfaßt. 

Es ist somit zu berücksichtigen: „Die geschaffenen Dinge sind in der Mitte zwischen dem Wissen Gottes und unserem Wissen. Wir nämlich empfangen das Wissen von den Dingen, deren Ursache Gott ist durch sein Wissen. Wie darum die erkennbaren Dinge früher sind als unser Wissen und dessen Maß, so ist das Wissen Gottes das Maß der geschaffenen Dinge und früher als diese“ (I, 14, 8 ad 3).

Nur ein bestimmtes Sein ist als solches erkennbar.

In diesen zwei Sätzen findet sich eine ganz und gar grundlegende, heute meist geleugnete Einsicht: Letztlich ist nur derjenige zu einer objektiven Erkenntnis befähigt, der die Dinge als Geschöpfe erkennt. Denn nur dann ist erklärbar, daß die Dinge das Maß ihres Seins nicht aus sich selbst haben – was metaphysisch unmöglich ist, aber alle modernen Welterklärungen behaupten! – sondern allein von Gott, der sie aus nichts ins Dasein rief. Alle irdischen Dinge tragen den Grund ihres Seins nicht in sich, sondern sie stammen von einem anderen her, von Gott. Im Schöpfungsakt bestimmt Gott das Seinsmaß jedes einzelnen Dinges, d.h. Er bestimmt ihre seinsmäßige Bestimmtheit. Nur ein bestimmtes Sein ist letztlich auch als solches erkennbar. 

Unsere Erkenntnis wird also nur dann als „wahr“ bezeichnet, wenn sie diese von Gott dem einzelnen Sein zugemessene Bestimmtheit richtig erfaßt und aussagt. Oder wie es der hl. Thomas ausdrückt: Der erkennende Geist des Menschen wird wahr genannt kraft seiner Übereinstimmung mit den Dingen.

Die Lehre über das Gewissen

Kommen wir nun zurück zur Lehre über das Gewissen. Das Gewissen ist ein inwendiges Urteil der Menschen darüber, ob etwas gut oder böse ist. Es setzt also die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis dessen, was gut oder böse ist, voraus. Nach dem hl. Thomas ist es notwendig zu sagen, „daß die menschliche Seele alle Dinge in den ewigen Wesensbildern erkennt, kraft deren Teilhabe wir alles erkennen. Das Erkenntnislicht selbst nämlich, das in uns wohnt, ist nichts anderes als ein irgendwelches uns teilhaftig gewordenes Abbild des ungeschaffenen Lichtes, in welchem die ewigen Wesensbilder enthalten sind“ (I, 84, 5).

An sich ist der Mensch durch das ihm von Gott verliehene Erkenntnislicht nicht nur wahrheitsfähig, sondern von Gott zur Wahrheitserkenntnis disponiert. Wir können die Bestimmtheit der Dinge dieser Welt soweit erkennen, daß wir ihr Wesen begrifflich fassen und sprachlich benennen können. Leider ist diese Tatsache durch die Folgen der Erbsünde verdunkelt. Das uns teilhaftig gewordene Abbild des ungeschaffenen Lichtesist erschreckend schwach geworden, so daß der erbsündlich belastete Mensch zum Irrtum bzw. zur Sünde neigt. Dennoch findet sich das grundlegende Urteil, auf dem unser Gewissen ruht, immer noch im Menschen: „Wie in dem auf das tätige Wirken angelegten Seelenteil das Ur-Gewissen niemals irrt, so irrt in dem auf das schauende Erkennen angelegten Seelenteil die Einsicht in die Urgrundsätze niemals“ (Ver. 16, 1 [sed contra]).

Das Urteil des Gewissens ist im sog. Spruch des Urgewissens grundgelegt: Du sollst das Gute tun, das Böse meiden!

Gewissenschule

Eine sofort zu erwähnende, aus der Offenbarung sich ergebenden Einsicht fügt sich hinzu: Seit der Erbsünde ist das Gewissen des Menschen nicht mehr so wach, wie es sein sollte. Jeder muß deswegen sein Gewissen schulen. Wenn dies nicht ausdrücklich geschieht, so geschieht es in der Tat durch das tägliche Leben, d.h. durch die Gewohnheiten, die sich der Mensch aneignet. Sind diese gut, so nennt man sie Tugenden, sind sie böse, so nennt man sie Laster. 

Das feine und das rohe Gewissen

Der Tugendhafte bildet sich ein feines Gewissen, der Lasterhafte dagegen ein rohes Gewissen. Je mehr jemand im Guten gefestigt ist, desto klarer erkennt er den Willen Gottes und ist darum bemüht, auch im Kleinen diesem Willen zu folgen. Wohingegen ein lasterhafter Mensch sich bei „Kleinigkeiten“, also den läßlichen Sünden, keinerlei Gewissensnot macht. 

Läßliche Sünden

In seinem Katechismus fragt der hl. Petrus Canisius:

170 Wie sind die lässlichen Sünden zu beurteilen?

Das sind die lässlichen Sünden: der unstete Geist, das unbedachte Wort oder ein zügelloses Lachen und ähnliche, die auch tägliche oder verzeihliche Sünden heißen, ohne die dieses Leben nicht geführt wird (denn wir verfehlen uns in vielen Dingen (Jak 3, 2)). Selbst wenn sie keine Todsünden sind und von der Art her gering erscheinen, sind sie keineswegs gering einzuschätzen. Denn wenn sie Gott selbst beleidigen, betrüben sie auch den Heiligen Geist, verdunkeln sie das Gewissen, vermindern sie den Eifer der Liebe und verringern sie den geistlichen Gewinn der Tugenden und führen oft zu schwereren Lastern und Gefahren.“

(Petrus Canisius: Der Große Katechismus, Summa doctrinae christianae (1555), Verlag Schnell und Steiner GmbH, Regensburg 2003, S. 227)

Die läßlichen Sünden verdunkeln das Gewissen, sie machen dieses mehr und mehr blind gegenüber den gerechten Forderungen Gottes und der göttlichen Wahrheit! Die guten Werke hingegen bewirken das Gegenteil, sie sensibilisieren die Seele für die Stimme des Gewissens und die göttliche Wahrheit, wie der zweite Missionar Deutschlands ebenfalls in seinem Katechismus lehrt:

Die Frucht der guten Werke

174 Welche Frucht bringen die Werke der christlichen Gerechtigkeit hervor? 

Eine sehr bedeutsame und vielfältige Frucht, sowohl im jetzigen wie im zukünftigen Leben. Erstens sind jene Werke, die aus dem lebendigen Glauben hervorgegangen sind, nicht nur Zeichen der christlichen Berufung, sondern sie stärken diese bei uns und machen uns ihrer sicher. Deshalb sagt der Apostel Petrus, der stets zu guten Werken ermuntert, Folgendes: Deshalb, meine Brüder, bemüht euch noch mehr darum, dass eure Berufung und Erwählung Bestand hat. Wenn ihr das tut, werdet ihr niemals scheitern. (2 Petr 1, 10) Zweitens vermehren sie nach dem Zeugnis des Apostels, welches auch Jakobus bestätigt, die Gnade in den Gläubigen und vollenden deren Heiligung. Denn der Glaube, der mit den Werken zusammenwirkt, wird erst in den Werken vollendet. (Jak 2, 22) Drittens bringen sie das Vertrauen des guten Gewissens hervor und spornen noch mehr zum Gebet und zum Erflehen von Gottes Hilfe an, steht doch geschrieben: Es wird ein großes Vertrauen gegenüber dem höchsten Gott sein für jene, die allen Almosen geben. (Tob 4, 12) Und wiederum heißt es: Meine Liebsten, wenn das Herz uns aber nicht verurteilt, haben wir gegenüber Gott Zuversicht. Alles, was wir erbitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und tun, was ihm gefällt. (1 Joh 3, 21f).“ 

(Ebd. S. 231 f.)

Das gute Gewissen wird von den guten Werken hervorgebracht, denn die Stimme des Gewissens lobt das Gute und tadelt das Böse. Je wacher das Gewissen des Menschen ist, desto gefestigter ist er im Tun des Guten und im Meiden des Bösen, denn ein unerschütterliches Vertrauen auf Gott trägt alles: Alles, was wir erbitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und tun, was ihm gefällt. Das weiß jeder Katholik, und er fragt sich darum: Woher kommt dann noch die moderne Religionsfreiheit, wenn doch Gott „will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1Tim 2,4)?

Nun, es gibt einen Lehrsatz über das Gewissen, der sich hierzu bestens mißbrauchen läßt. Dieser besagt: Man muß auch einem irrenden Gewissen folgen. 

Na also, da haben wir‘s – das ist die Religionsfreiheit! Jeder kann glauben, was er will!

Bevor wir auf diese Behauptung eingehen, begeben wir uns wieder ins Wunderland. Das hilft uns womöglich, den heimlichen Gewissensentscheiden etwas auf die Spur zu kommen…

Zurück in Alice‘ Wunderland

Das Croquetfeld der Königin

Ein großer hochstämmiger Rosenstrauch stand nahe beim Eingang; die Rosen, die darauf wuchsen, waren weiß, aber drei Gärtner waren damit beschäftigt, sie rot zu malen. Alice kam dies wunderbar vor, und da sie näher hinzutrat, um ihnen zuzusehen, hörte sie einen von ihnen sagen: „Nimm dich in Acht, Fünf! Bespritze mich nicht so mit Farbe!“

Ich konnte nicht dafür,“ sagte Fünf in verdrießlichem Tone; „Sieben hat mich an den Ellbogen gestoßen.“

Worauf Sieben aufsah und sagte: „Recht so, Fünf! Schiebe immer die Schuld auf andre Leute!“

Du sei nur ganz still!“ sagte Fünf. „Gestern erst hörte ich die Königin sagen, du verdientest geköpft zu werden!“

Wofür?“ fragte der, welcher zuerst gesprochen hatte.

Das geht dich nichts an, Zwei!“ sagte Sieben.

Ja, es geht ihn an!“ sagte Fünf, „und ich werde es ihm sagen — dafür, daß er dem Koch Tulpenzwiebeln statt Küchenzwiebeln gebracht hat.«

Sieben warf seinen Pinsel hin und hatte eben angefangen: „Ist je eine ungerechtere Anschuldigung —“ als sein Auge zufällig auf Alice fiel, die ihnen zuhörte; er hielt plötzlich inne, die andern sahen sich auch um, und sie verbeugten sich alle tief.

Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen,“ sprach Alice etwas furchtsam, „warum Sie diese Rosen malen?“

Fünf und Sieben antworteten nichts, sahen aber Zwei an. Zwei fing mit leiser Stimme an: „Die Wahrheit zu gestehen, Fräulein, dies hätte hier ein roter Rosenstrauch sein sollen, und wir haben aus Versehen einen weißen gepflanzt, und wenn die Königin es gewahr würde, würden wir alle geköpft werden, müssen Sie wissen. So, sehen Sie Fräulein, versuchen wir, so gut es geht, ehe sie kommt —“ In dem Augenblick rief Fünf, der ängstlich tiefer in den Garten hinein gesehen hatte: „Die Königin! die Königin!“ und die drei Gärtner warfen sich sogleich flach aufs Gesicht. Es entstand ein Geräusch von vielen Schritten, und Alice blickte neugierig hin, die Königin zu sehen.

Die Gewissensentscheide im Wunderland sind etwas verworren, so hat man den Eindruck, wie könnte es in so einem absurden Land auch anders sein. Die rosenbemalenden Spielkarten scheinen nur eine Gewissensnot zu kennen, die alle köpfende Königin. Diese beschert ihnen ein sehr schlechtes Gewissen, weil sie einen weißen Rosenstrauch gepflanzt haben anstatt einen roten. Dagegen ist alles andere nicht wichtig, nicht so wichtig, daß man deswegen ein schlechtes Gewissen haben müßte. Es handelt sich hier sozusagen um ein krankhaft fixiertes Gewissen, das vollkommen von der Angst vor der Königin beherrscht wird. Dieses Gewissen führt dazu, daß die Spielkarten-Gärtner beschließen, die Rosen rot zu bemalen, um dem Zorn der Königin zu entkommen. Man kann sich leicht vorstellen, welch gewaltiger Schreck die rosenmalenden Spielkarten befiel, als es hieß: „Die Königin! die Königin!“

Ein seltsamer Streit

Es geschieht noch etwas anderes für uns Bedenkenswertes im Wunderland:

Während dem Croquetspiel entsteht ein Streit zwischen dem Henker, dem König und der Königin. 

Sobald Alice erschien, wurde sie von allen dreien aufgefordert, den streitigen Punkt zu entscheiden, und sie wiederholten ihr ihre Beweisgründe, obgleich, da alle zugleich sprachen, man kaum verstehen konnte, was jeder Einzelne sagte.

Der Henker behauptete, daß man keinen Kopf abschneiden könne, wo kein Körper sei, von dem man ihn abschneiden könne; daß er so etwas noch nie getan habe, und jetzt über die Jahre hinaus sei, wo man etwas Neues lerne.

Der König behauptete, daß Alles, was einen Kopf habe, geköpft werden könne, und daß man nicht so viel Unsinn schwatzen solle.

Die Königin behauptete, daß wenn nicht in weniger als keiner Frist etwas geschehe, sie die ganze Gesellschaft würde köpfen lassen. (Diese letztere Bemerkung hatte der Versammlung ein so ernstes und ängstliches Aussehen gegeben.)

Alice wußte nichts Besseres zu sagen als: „Er gehört der Herzogin, es wäre am besten sie zu fragen.“

Sie ist im Gefängnis,“ sagte die Königin zum Henker, „hole sie her.“ Und der Henker lief davon wie ein Pfeil.

Da wurde der Kopf des Katers undeutlicher und undeutlicher; und gerade in dem Augenblicke, als der Henker mit der Herzogin zurück kam, verschwand er gänzlich; der König und der Henker liefen ganz wild umher, ihn zu suchen, während die übrige Gesellschaft zum Spiele zurückging.“

Worin besteht denn nun eigentlich der Gewissensentscheid unserer Helden? Darin zu fragen, ob es überhaupt sittlich erlaubt ist, jedem zu jeder Zeit und aus jeglichen unsinnigsten Anlässen den Kopf abzuhauen, oder ob es möglich ist, den Grinsekater zu enthaupten, solange man nur den Kopf sieht? Wenn das keine Gewissensverwirrung ist! Im Wunderland der Alice geht es schon recht seltsam zu, aber wie wir mittlerweile wissen, nicht nur dort…

Gewissensüberzeugung?

Verlassen wir das Wunderland der Alice und machen wir einen erneuten Ausflug ins Tradiland. Unser inzwischen bestens bekannter Mr. Kwasniewski kritisiert die Ultramontanisten, weil sie behaupten, daß Papst und Bischöfe die „Interpreten der Tradition“ seien, und zwar derart, „daß wir nicht einmal wissen können, was die katholische Lehre ist, wenn wir darüber nicht von Papst und Bischöfen belehrt werden“

Gemäß dieser Theorie“, so Mr. Kwasniewski weiter, „könnte niemand jemals eine legitime Meinungsverschiedenheit mit dem Papst haben, denn ein solcher würde seine eigene ‚private Interpretation‘ über den von Gott gesetzten Interpreten stellen.“

Da haben wir es wieder, für die Ultramontanisten ist der Papst ein göttliches Orakel in allen Fragen der kirchlichen Tradition. Was für eine maßlose Übertreibung: Niemals dürfe der Katholik anderer Meinung sein, als sein Papst! Ja, in der Tat, diese „Art von Ultramontanismus“ ist unerträglich, erhebt sie doch ALLE päpstlichen Erklärungen und Handlungen zu autoritativen Entscheidungen, denen wir Gehorsam zu leisten haben als dem Ausdruck des göttlichen Willens und die daher niemals zu kritisieren seien. 

Das kann nun wirklich gar nie nicht sein, denn wir Katholiken finden in den alten Katechismen alles, was wir brauchten, um die göttliche Wahrheit und den Weg zum Himmel zu kennen. 

Mr. Kwasniewski scheint ganz fasziniert, ja geradezu besessen von diesem Gedanken zu sein: Er und sein Katechismus als das Maß aller katholischen Dinge! Wenn das alles so einfach und unbezweifelbar für jeden leicht einsichtig ist, wundert man sich gewaltig darüber, daß es überhaupt irgendeinmal Meinungsverschiedenheiten unter Katholiken gegeben hat. Denn den Katechismus kennt doch normalerweise jedes Kind, oder etwa nicht?!

Solche Erwägungen erschüttern jedoch das Weltbild unseres wackeren Streiters für die Tradition nicht – nein, dem aktuellen Lehramt können und müssen wir aufgrund unseres Katechismuswissens Widerstand leisten und zwar in Form eines „respektvollen Ausdrucks unserer auf objektiven Kriterien beruhenden Gewissensüberzeugung, daß der Papst in die Irre gegangen sei“.

Da haben wir es: Gewissensüberzeugung! Diese Art der Gewissensüberzeugung haben alle Modernisten. Denen kommt zwar höchstwahrscheinlich der Katechismus des Herrn Kwasniewski reichlich verstaubt vor, aber es gibt ja auch noch neuere, moderne Katechismen. Auf diese kann dann der Modernist guten Gewissens seine Tradition und seinenWiderstand gegen seinen Papst begründen, wenn es nötig sein sollte. Modernisten geben schließlich bekanntlich nicht so viel auf Tradition wie die Traditionalisten. 

Gewissen und Gehorsam

Aber stimmt das? Wie ist es mit dem Gewissen genau und auf den Punkt gebracht bestellt? Diese Frage trieb Kardinal Newman besonders um, der insofern ein recht moderner Mann war. Die Modernisten lieben deswegen ihrerseits Newman so sehr, obwohl er den Kampf gegen den Liberalismus auf seine Fahne geschrieben hat (!), weil er dem Gewissen einen weitgespannten Raum gewährte. Wie wir schon festgestellt haben, ist für einen Modernisten das Gewissen das Zauberwort. Damit macht der Modernist alles modernistisch – d.h. er löst damit jegliches Dogma auf. Weil wir eine derartige Absicht sicherlich nicht dem englischen Kardinal unterschieben wollen, müssen wir etwas tiefergehender nachforschen. 

Wie wir in unserer letzten Arbeit schon ausführlich gezeigt haben, will Newman nicht das Dogma auflösen, im Gegenteil. Sein Kampf galt tatsächlich dem sich ausbreitenden Liberalismus – schon in seiner anglikanischen Zeit. Newman ist Katholik und bereit, die Dogmen der Kirche mit göttlichem Glauben anzunehmen und zudem bereit, diese auch gegen die Angriffe der Irrgläubigen zu verteidigen. 

Als sich damals in der Hitze des um das Vatikanische Konzil sich entzündenden Gefechts die Gemüter allzu sehr entzündeten, warf der regierende Premierministers Gladstone den Katholiken vor, daß sie nach der Verkündigung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit keine treuen Staatsbürger mehr sein könnten, müßten sie doch nunmehr ihr Gewissen an den Papst abgeben. Man muß wissen, für einen Anglikaner war der „Papst“ ein derart ungeheuerliches Monster, daß die Angst beinahe nachvollziehbar ist. Mancher Engländer war womöglich sogar in Sorge, der Papst könnte eine neue Armada rüsten zum Angriff auf das Britische Empire. Wie wir ebenfalls inzwischen wissen, schürte Herr Döllinger, unterstützt von der liberalen Presse, europaweit eifrig solch absurde Thesen, die allgemein die Gemüter erhitzten. 

Infolge dieser Angriffe schrieb Newman 1874 einen umfangreichen Brief an den Herzog von Norfolk, worin er seine Gedanken über das Gewissen zusammenfaßte und natürlich auch auf das Verhältnis des eigenen Gewissens zur kirchlichen Autorität einging. Newman wollte aufzeigen, daß Katholiken in erster Linie ihrem Gewissen folgen – und gerade deshalb sowohl treue Diener der Kirche als auch des Staates sein können. 

Die Notwendigkeit der Gewissensbildung

Die Grundlinien seiner Argumentation können so zusammengefasst werden: Katholiken gehorchen dem Papst nicht deshalb, weil jemand sie dazu zwingt, sondern aufgrund ihrer freien Gewissensentscheidung. Denn sie sind davon überzeugt, daß unser Herr Jesus Christus durch den Papst – und die Bischöfe in Gemeinschaft mit ihm – die Kirche leitet und in der Wahrheit erhält. 

Deshalb kann Newman schreiben: „Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinne des Wortes, dann würde er Selbstmord begehen. Er würde sich den Boden unter den Füßen wegziehen. Seine eigentliche Sendung besteht darin, das Sittengesetz zu verkünden und jenes ‚Licht’ zu schützen und zu stärken, ‚das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt’. Auf das Gewissen und seine Heiligkeit gründet sich sowohl seine Autorität in der Theorie wie auch seine tatsächliche Macht… Der Kampf für das Sittengesetz und für das Gewissen ist seine raison d’être. Die Tatsache seiner Sendung ist die Antwort auf die Klagen jener, welche die Unzulänglichkeit des natürlichen Lichtes fühlen; und die Unzulänglichkeit jenes Lichtes ist die Rechtfertigung seiner Sendung“ (Polemische Schriften, Mainz 1959, S. 165). 

Für jeden Katholiken ist es eine Gewissenssache, dem Papst zu gehorchen, denn dieser ist von Gott eingesetzt worden, um dem Menschen, der um die Unzulänglichkeit des natürlichen Erkenntnislichtes weiß, jene göttliche Hilfe zu gewähren, die ihm aufgrund der Erbsünde und ihrer Folgen notwendig ist. 

Etwas anders ausgedrückt: Das durch den Glauben erleuchtete Gewissen führt zum mündigen, weil aus dem übernatürlichen Glauben begründeten Gehorsam gegenüber dem Papst. Dieser Gehorsam bewahrt den Katholiken vor jeglichem Irrtum, wenn es um Fragen des Glaubens und der Sitten geht. Somit ist der Gehorsam gegenüber dem kirchlichen Lehramt keine ungebührliche Bevormundung, sondern im Gegenteil der entscheidende Halt in der persönlichen Gewissensbildung. 

Gerade Newman betont diese Notwendigkeit der Gewissensbildung. Er schreibt etwa: „Der Sinn für Recht und Unrecht, das erste Element in der Religion, ist so zart, so sehr Zufällen unterworfen, so leicht verwirrt, verdunkelt und verkehrt, so subtil in seiner Art zu argumentieren, so beeindruckbar durch die Erziehung, so von Stolz und Leidenschaft geleitet, so unstet in seinem Laufe, daß bei dem Kampf ums Dasein inmitten der verschiedenen Tätigkeiten und Triumphe des menschlichen Geistes dieser Sinn zugleich der höchste und doch der wenigst deutliche aller Lehrer ist, und die Kirche, der Papst, die Hierarchie sind nach dem Plane Gottes die Abhilfe für ein dringendes Bedürfnis“ (Ebd. S. 166). 

Das von Gott beglaubigte Fundament wahrer Gewissensbildung

Es ist eine unleugbare Tatsache, das eigene Gewissen ist allzeit gefährdet. Wie schnell kommt es dazu, daß dieses Gewissen verbildet, verwirrt, verdunkelt, ja sogar pervertiert wird! Gerade der moderne Mensch zeigt dies jedem, der noch Augen im Kopf hat, überdeutlich. Von Stolz und Leidenschaft aufgebläht, hat er sich eine „freie Moral“ ersonnen, die ihm angeblich erlaubt, allzeit zu tun, was ihm beliebt. Was für ein Wahnsinn! Der Prophet Isaias spricht ein Wehe über diese Menschen: „Wehe, die ihr Böses gut und Gutes böse nennt! Die ihr Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis, Bitteres zu Süßem und Süßes zu Bitterem macht!“

Nein, gerade weil das Gewissen so überaus gefährdet ist, braucht es eine feste Stütze. Diese findet der Katholik im unfehlbaren Lehramt seiner Kirche. Der Papst und die Hierarchie bilden das von Gott beglaubigte Fundament der wahren Gewissensbildung. 

Es ist Newman nicht entgangen, daß der moderne Mensch anders vom Gewissen spricht als der Katholik und die katholische Tradition. Der Begriff des Gewissens hat viele unterschiedliche, zum Teil auch gegensätzliche Bedeutungen angenommen: „Was das Gewissen betrifft, gibt es zwei Weisen, wie die Menschen sich dazu verhalten. Bei der einen ist das Gewissen lediglich eine Art Sinn für Anstand, ein Geschmack, der uns das eine oder das andere nahe legt. Bei der anderen ist es das Echo der Stimme Gottes. Nun hängt alles an dieser Unterscheidung. Der erste Weg ist nicht der des Glaubens, der zweite ist es“ (John Henry Newman, Sermon Notes, Herefordshire – Notre Dame 2000, S. 327).

Gewissen oder Freibrief für Eigendünkel?

Auch ein glaubensloser Mensch hat ein Gewissen, sein Gewissen ist jedoch nur eine Art Sinn für Anstand, ein bloßer Geschmack an gewissen Dingen, es ist nicht gefestigt in der Wahrheit. Das wahre Gewissen dagegen ist viel mehr, es ist das Echo der Stimme Gottes! Nun hängt alles an dieser Unterscheidung. Der erste Weg ist nicht der des Glaubens, der zweite ist es.

Aus dieser unterschiedlichen Art von Gewissen, folgt selbstverständlich auch eine unterschiedliche Art, das Gewissen zu verteidigen: „Wenn die Menschen die Rechte des Gewissens verteidigen, dann meinen sie in gar keinem Sinne damit die Rechte des Schöpfers, noch auch die Verpflichtung des Geschöpfes Ihm gegenüber in Gedanken und in der Tat; sie verstehen darunter vielmehr das Recht, zu denken, zu sprechen, zu schreiben und zu handeln, wie es ihrem Urteil oder ihrer Laune paßt, ohne irgendwie dabei an Gott zu denken… Das Gewissen hat Rechte, weil es Pflichten hat. Doch in diesem Zeitalter besteht bei einem großen Teil des Volkes das eigentliche Recht und die Freiheit des Gewissens darin, vom Gewissen zu dispensieren, einen Gesetzgeber und Richter zu ignorieren und von unsichtbaren Verpflichtungen unabhängig zu sein. Man nimmt an, jeder habe einen Freibrief dafür, eine Religion zu haben oder nicht, sich dieser oder jener anzuschließen und sie dann wieder aufzugeben… Das Gewissen ist ein strenger Mahner; aber in diesem Jahrhundert ist es durch ein falsches Bild ersetzt worden, von dem die voraufgehenden achtzehn Jahrhunderte niemals gehört hatten und das sie auch nie mit dem Gewissen hätten verwechseln können, wenn sie davon gehört hätten. Es ist das Recht auf Eigenwillen“ (Polemische Schriften, S. 163 f.).

Es ist eine überaus treffende Benennung des modernen „Gewissens“: Recht auf Eigenwillen!

Die moderne Rede von der Gewissensfreiheit müßte jedem Katholiken vorneweg verdächtig vorkommen, denn das Gewissen ist doch ein Urteil, und ein Urteil ist nicht frei in dem Sinn, daß man urteilen kann, wie man will, sondern daß man urteilen muß, wie es der Wirklichkeit, also der Wahrheit gemäß ist. Das, was man heute Gewissensfreiheit nennt, ist in Wirklichkeit die Dispensierung vom Gewissen. Es geht darum, jeden Gesetzgeber und Richter zu ignorieren und von unsichtbaren Verpflichtungen unabhängig zu sein. – Ist das nicht auch das Anliegen der Traditionalisten gegenüber ihrem „Papst“? Aus dieser irrigen Auffassung von Gewissen folgt letztlich die moderne Religionsfreiheit: Man nimmt an, jeder habe einen Freibrief dafür, eine Religion zu haben oder nicht, sich dieser oder jener anzuschließen und sie dann wieder aufzugeben. Ein von der Wahrheit entbundenes „Gewissen“ ist frei, ist vollkommene Willkür, das den Namen „Gewissen“ in keiner Weise verdient hat. 

Autonomie durch Emanzipation vom Gewissen

Man ist schon recht erstaunt, wenn die Modernisten trotz dieser klaren Ausführungen Newman vor den Karren ihrer modernen Religionsfreiheit spannen wollen. Letztlich müssen sie Newman genauso selektiv lesen wie Herr Kwasniewski. Beide vereint schließlich auch das gemeinsame Ziel, dem Petrus die Schlüssel abzunehmen und ihm dafür eine Schultasche umzuhängen. Das muß der Leser allzeit im Gedächtnis behalten. Das „Gewissen“ der Modernisten und Traditionalisten hat den Sinn, den einzelnen gegenüber Gott und der von Gott eingesetzten Autorität unabhängig zu machen – sie verstehen darunter das Recht, zu denken, zu sprechen, zu schreiben und zu handeln, wie es ihrem Eigenwillen oder ihrer Laune paßt.

Erst Gewissen, dann Papst

In der Zeitschrift aus dem Herder-Verlag „Stimmen der Zeit“ fand sich 2010 ein Artikel von Andreas R. Batlogg zu unserem Thema mit der Überschrift: „Zuerst das Gewissen und dann der Papst“. Der Titel ist ein Zitat Newmans aus seinem Brief an den Herzog von Norfolk, das von den Modernisten gerne und oft erwähnt wird. Newman schließt in diesem Brief seine Ausführungen über das Gewissen mit der Bemerkung ab: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion auszubringen (was freilich nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann auf den Papst“.

Das klingt natürlich wie Musik in den Ohren eines Modernisten und auch jedes Anti-Ultramontanisten unter den Traditionalisten – zuerst auf das Gewissen und dann auf den Papst!

Andreas R. Batlogg kommentiert den Trinkspruch Newmans so: „Der Trinkspruch wirkt dramatischer, als er klingt; denn er spricht, wie Karl Rahner SJ betonte, lediglich ‚eine absolute Selbstverständlichkeit‘ aus. ‚Der katholische Christ‘, so Rahner im September 1978 in Freiburg am Ende der ersten internationalen Newman-Tagung auf deutschem Boden, ‚wird sagen: Aus der letzten Lebensentscheidung eines Gewissens heraus akzeptiere, anerkenne ich diese objektive Lehrautorität der katholischen Kirche als eine äußere, aber sinnvolle, notwendige, von Gott gewollte Norm meines Gewissens, aber die Anerkennung dieser objektiven Norm ist selbstverständlich noch einmal meine eigene, auf meine eigene Rechnung und Gefahr durchzuführende Gewissensentscheidung. Man kann das Gewissen nie gleichsam an einen anderen abgeben und abliefern.‘“

Nun wird ein Katholik selbstverständlich den Ausführungen des Irrlehrers Karl Rahner keinerlei Vertrauen schenken, sondern nachforschen, ob diese Selbstverständlichkeit denn nun wirklich so gemeint ist – eine auf meine eigene Rechnung und Gefahr durchzuführende Gewissensentscheidung? Seit wann stellt der übernatürliche, von Gott verbürgte Glaube eine Gefahr für mein Gewissen dar?! 

Formuliert hier Newman tatsächlich einfach die Selbstverständlichkeit, daß jeder Mensch dazu angehalten ist, seinem Gewissen zu folgen? Aus den schon angeführten Texten ist man jedenfalls geneigt zu urteilen: Nein! Der Autor fügt gleich versichernd hinzu: „Seit Thomas von Aquin ist diese ‚Selbstverständlichkeit‘ gute alte Tradition.“

Bevor wir dieser Behauptung nachgehen, folgen wir dem Gedankengang des Artikels in den „Stimmen der Zeit“ weiter. Andreas R. Batlogg meint – wir bringen den Text im Zusammenhang:

Papst oder Gewissen – ODER?

In England wie in Deutschland standen und stehen Katholiken stets unter dem Generalverdacht, ultramontan, also „romhörig“, und damit zu einer eigenen Gewissensentscheidung gar nicht erst fähig zu sein. Sie leben tatsächlich in einer Spannung, die sich in Newmans Lebensgeschichte und erst recht in seinem theologischen Weg spiegelt: Was tue ich, wenn mir mein Gewissen etwas anderes nahelegt, ja befiehlt als die offizielle Lehre der Kirche?

John Henry Newman ehren heißt auch, von seinen Überzeugungen lernen. „Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität“, heißt es im Kommentar zur Nummer 16 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des letzten Konzils, „steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität.“ Der Verfasser des Kommentars, ein Konzilstheologe, ist heute Papst. 

Es geht also tatsächlich um die Frage, die auch die Traditionalisten umtreibt: Was tue ich, wenn mir mein Gewissen etwas anderes nahelegt, ja befiehlt als die offizielle Lehre der Kirche?

Der Schlüssel zur modernistischen Lösung dieser Frage ist nach unserem Autor ein Text von Josef Ratzinger, der in seinem Kommentar zur Nummer 16 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ der römischen Aftersynode, genannt 2. Vatikanum, schreibt: „Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität.“

Da haben wir es also, auch Joseph Ratzinger sagt es, daß im Notfall das eigene Gewissen über der kirchlichen Autorität steht, muß doch jeder seinem Gewissen folgen – und nicht dem Papst! 

Schon einleitend hatte der Autor Ratzinger zitiert, der 1990 aus Anlaß von Newmans 100. Todestag auf seine Zeit als Seminarist in Freising zurückblickend sagte: „Newmans Lehre vom Gewissen wurde für uns damals zu einer wichtigen Grundlegung des theologischen Personalismus, der uns alle in seinen Bann zog. … Wir hatten den Anspruch einer totalitären Partei erlebt, die sich selbst als die Erfüllung der Geschichte verstand und das Gewissen des einzelnen negierte … So war es für uns befreiend und wesentlich zu wissen, daß das Wir der Kirche nicht auf dem Auslöschen des Gewissens beruhte, sondern genau umgekehrt sich nur vom Gewissen her entwickeln kann. Gerade weil Newman die Existenz des Menschen vom Gewissen her, das heißt im Gegenüber von Gott und Seele deutete, war aber auch klar, daß dieser Personalismus kein Individualismus ist und daß die Bindung an das Gewissen keine Freigabe in die Beliebigkeit hinein bedeutet – das Gegenteil ist der Fall.“

Modernistische Gewissensfreiheit

Ist die Autorität der Kirche eine absolutistische Autorität wie die Hitlers und seiner Nationalsozialisten, gegen die man sich allein unter Berufung auf das eigene Gewissen wehren kann – und muß?! Der Vergleich scheint recht unglücklich und für einen Katholiken äußerst unverständlich, wenn nicht sogar verdächtig, aber nicht für einen Modernisten, der gerade den theologischen Personalismus entdeckt, wie damals der Seminarist Ratzinger. 

Das abschließende dialektische Wortspiel von Ratzinger über Personalismus, Individualismus und Freigabe in die Beliebigkeit wollen wir hier einfach übergehen und zur Klärung, was denn nun damit genau gemeint ist, auf die konkrete Anwendung durch den Autor zu sprechen übergehen. Denn bei den Modernisten muß man nicht so sehr auf ihr Geschwätz achten, sondern darauf, welch konkreten Schlußfolgerungen sie daraus ziehen. Da steht nun: Man muß keine dramatischen Situationen heraufbeschwören. Aber die Enzyklika „Humanae vitae“ (1968) etwa hat unzählige Katholiken in schwere Gewissenskonflikte gestürzt, deren Lösung die deutschen Bischöfe in der Königsteiner Erklärung der persönlichen Entscheidung anvertrauten. Man kann auch an das jahrelange Ringen deutscher Bischöfe mit Papst Johannes Paul II. denken, das schließlich zum Ausstieg aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung führte. Bischof Franz Kamphaus hat darunter sehr gelitten.

So schaut das also aus: Der Papst kann sagen, was er will, mein Gewissen bleibt immer frei. Wenn es zu einem Gewissenskonflikt zwischen der kirchlichen Autorität und meinem Gewissen kommen sollte – das heißt für den modernen Menschen: wenn ich mit einer Entscheidung des Lehramtes nicht einverstanden bin, weil ich anders denke, d.h. fühle und lebe –, dann entscheide selbstverständlich ich, was ich für richtig halte – und nicht die Kirche und ihr Lehramt. Das unvermeidliche Beispiel der Enzyklika „Humanae vitae“ bringt es an den Tag, wie ein moderner „Katholik“ tickt – und wie er auch aufgrund der Zugeständnisse der meisten Bischofskonferenzen auf der Welt ticken darf! Diese haben nämlich von ihren Gläubigen nicht den Gehorsam gegenüber der römischen Lehre eingefordert, sondern die Entscheidung dem Gewissen des Einzelnen überlassen.Darum hat auch ein Bischof Kamphaus sehr unter dem römischen Druck bezüglich der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung gelitten, weil nämlich auch sein Gewissen frei ist – frei von was, fragt man sich unwillkürlich, wenn ihn eine Abtreibung nicht kümmert? – aber als Bischof hat er sich dann doch nicht so getraut, seinem Gewissen zu folgen, denn das hätte für ihn durchaus spürbare Konsequenzen haben können. So weit geht dann das Gewissen der allermeisten Modernisten auch wieder nicht, daß sie solche Konsequenzen aus ihrer Gewissensentscheidung trotz spürbarer Nachteile ziehen. War also nun das Gewissen der Herrn Kamphaus frei oder nicht?! Jedenfalls war ihm in der Tat sein Bischofsitz und sein Gehalt wichtiger als sein irregeleitetes, „freies“ Gewissen. 

Spätestens nach einer ruhigen Erwägung dieser praktischen Anwendung wird jeden Katholiken die Ahnung umtreiben: Hier ist etwas falsch im Staate Dänemark!

Was aber ist es genau, was hier falsch ist? Versuchen wir, diese Frage Schritt für Schritt zu beantworten, denn sie ist, wie der Leser womöglich ahnt, recht weitreichend und heutzutage äußerst wichtig.

Das irrende Gewissen

Weil die Modernisten so dreist behaupten: „Seit Thomas von Aquin ist diese ‚Selbstverständlichkeit‘ gute alte Tradition“, beginnen wir am bestenmit dem hl. Thomas von Aquin. 

Die in Frage stehende Lehre ist die Lehre über das irrende Gewissen. Bezüglich dieser Frage hat der engelgleiche Lehrer Entscheidendes zur Klärung beigetragen. Wobei man dennoch wohl sagen muß, daß grundsätzlich diese Lehre immer schon in der kirchlichen Praxis beachtet wurde. Es ist jedoch hier nicht der Ort, dies aufzuweisen. Wenden wir uns vielmehr dem Heiligen und seinen Ausführungen in der Summa theologiae zu. Es geht um die Frage 19, der Ia–IIae, Artikel 5–6. 

Gewissen und Wissen

Artikel 5 behandelt die Frage: „Ist ein von einer irrenden Vernunft abweichender Wille schlecht?“

Schon in der Frage wird das Thema objektiviert, denn ehe man über das irrende Gewissen spricht, muß man erst einmal wissen, was denn das Gewissen wesentlich ausmacht. Der hl. Thomas definiert das Gewissen als „applicatio scientiae ad aliquem specialem actum“ (De veritate, q. 17, a. 2), als „die Anwendung des Wissens auf eine konkrete Handlung“. Das Gewissen setzt somit immer ein Wissen voraus, das auf eine konkrete Handlung angewandt wird. Nun weiß jeder, der den hl. Thomas kennt, daß hier mit „Wissen“ das persönliche, irrtumsfähige, unvollkommene Wissen eines Menschen gemeint ist. Diese Einsicht verändert den Blick auf das Gewissen – in Gegensatz zum modernen Begriff von Gewissen – grundlegend. Damit kann nämlich das Gewissen des Menschen niemals absolute und letzte Instanz in dem Sinn sein, daß man ihm als vollkommen abgesichertem, wahrem Wissen folgen müßte und könnte. Wie aber ist dann dem Gewissen zu folgen, auch dem irrenden Gewissen?

Folgen wir hierzu den Ausführungen des Heiligen, um das Ganze zu verstehen.

In der Summa theologiae wird eine Frage immer in drei Schritten abgehandelt. Zunächst werden Gründe und Gegengründe zur Frage angeführt. Was spricht für die Sache, was spricht dagegen? Diese Vorgehensart dient dazu, den in Frage stehenden Sachverhalt zu vertiefen, ihn zu differenzieren. Es sollen die in der Frage mitschwingenden Nuancen klarer in den Blick kommen. 

Vernunft und Wille

Zunächst nennt also der hl. Thomas die in Frage stehende These: Es scheint, daß ein von einer irrenden Vernunft abweichender Wille nicht schlecht ist, um sodann Gründe dafür und dagegen anzuführen. 

Dafür spricht folgendes:

1. Die Vernunft ist ja doch, wie eben gesagt wurde, die Richtnorm des menschlichen Willens, insofern sie vom ewigen Gesetz abgeleitet ist. Die sich irrende Vernunft leitet sich jedoch nicht vom ewigen Gesetz her. Somit ist die irrende Vernunft keine Richtnorm des menschlichen Willens; also ist der Wille auch dann nicht schlecht, wenn er von einer irrenden Vernunft abweicht.

Dieser Einwand zeigt die grundlegende Schwierigkeit menschlichen Handelns auf. Die Vernunft gibt die Richtnorm des menschlichen Handelns. Denn als vernünftiges Wesen muß der Mensch vernünftig handeln, wenn er gut handeln will. Oberste Richtnorm allen Handelns ist aber das ewige Gesetz – von dem ein irrendes Gewissen abweicht. Also kann ein irrendes Gewissen nicht verpflichten, weil es zu einer mit dem ewigen Gesetz nicht übereinstimmenden und damit schlechten Handlung führen muß. 

Wir überspringen den zweiten Einwand und wenden uns gleich dem dritten zu. 

3. Außerdem: Jeder schlechte Wille läßt sich auf irgendeine Art von Bosheit zurückführen. Derjenige Wille aber, der von einer irrenden Vernunft abweicht, läßt sich auf keine Art von Bosheit zurückführen. Wenn zum Beispiel die im Irrtum sich befindende Vernunft darin irrt, daß sie sagt, Unzucht sei geboten, so kann der Wille dessen, der nicht Unzucht treiben will, auf keine Bosheit zurückgeführt werden. Somit ist der Wille, der von einer irrenden Vernunft abweicht, nicht schlecht.

Ein im Irrtum befindliches Gewissen muß korrigiert werden. Es ist darum notwendig, von dem irrenden Gewissen abzuweichen, denn nur so kann es zu einer Korrektur kommen. So gesehen ist es sogar wünschenswert, daß dem irrenden Gewissen nicht Folge geleistet wird – Somit ist der Wille, der von einer irrenden Vernunft abweicht, nicht schlecht.

Wahrheit und Erkenntnis

Der engelgleiche Lehrer fügt nun einen Gegengrund an:

Dagegen steht, was schon im ersten Teil [der Summa] gesagt wurde: Das Gewissen ist nichts anderes als die Anwendung des Wissens auf eine Handlung. Das Wissen liegt aber in der Vernunft. Der Wille also, der von der irrenden Vernunft abweicht, ist gegen das Gewissen. Jeglicher Wille dieser Art ist jedoch schlecht; es wird nämlich im Römerbrief gesagt: „Alles was nicht aus dem Glauben ist, ist Sünde“, d. h. alles, was gegen das Gewissen ist. Also ist der von der irrenden Vernunft abweichende Wille schlecht.

Der Mensch ist dazu angehalten, vernünftig zu handeln. Weil der Mensch aber irrtumsfähig ist, kann er etwas für vernünftig halten, was es in Wirklichkeit nicht ist. Dennoch ist er gehalten, seiner Vernunft zu folgen, denn anders kann er für sich in der Tat nicht vernünftig handeln. Im Falle eines Irrtums würde ein Abweichen von dem subjektiv als wahr Erkannten ein Abweichen von der eigenen Vernunft bedeuten, was aber schlecht ist. 

Kann ein irrendes Gewissen verpflichten?

Folgen wir nun den erklärenden und klärenden Ausführungen des Heiligen in seiner Antwort:

Da das Gewissen in gewisser Weise ein Spruch der Vernunft ist – es stellt ja wie schon ausgeführt eine Art Anwendung des praktischen Wissens auf die konkrete Handlung dar –, ist die Frage: Ob der von einer sich irrenden Vernunft abweichende Wille schlecht ist, dieselbe wie: Ob ein im Irrtum sich befindendes Gewissen verpflichtet.

Mit dieser Feststellung ist die Frage nochmals präzisiert. Der Heilige erklärt weiter:

Bei diesem Thema unterschieden manche zwischen drei verschiedenen Gattungen von Handlungen. Manche Handlungen sind der Gattung nach gut, manche sind indifferent und manche sind der Gattung nach schlecht. Sie behaupten daher, wenn die Vernunft bzw. das Gewissen sagt, etwas sei zu tun, was seiner Gattung nach gut ist, so liegt dort kein Irrtum vor; ganz ähnlich wenn Vernunft bzw. Gewissen sagen, daß etwas nicht zu tun sei, was seiner Gattung nach schlecht ist; aus demselben Grund wird nämlich das Gute geboten und das Schlechte verboten. Aber wenn Vernunft bzw. Gewissen jemandem von dem, was an sich schlecht ist, sagen, daß der Mensch dem Gebot gemäß gehalten sei, es zu tun, oder von etwas, was an sich gut ist, daß es verboten sei, würde die Vernunft bzw. das Gewissen sich im Irrtum befinden; und ähnlich wenn Vernunft bzw. Gewissen jemandem etwas vorschreiben oder verbieten, was an sich indifferent ist, wie einen Grashalm vom Erdboden aufzuheben, so wäre auch hier Vernunft bzw. Gewissen im Irrtum. Die Vertreter dieser These sagen also, daß, wenn die Vernunft bzw. das Gewissen sich bezüglich des Indifferenten irrten – sei es im Ge- oder im Verbieten – diese dennoch verpflichtend seien, so daß ein Wollen, das von einer solchermaßen irrenden Vernunft abweicht, schlecht ist und eine Sünde darstellt. Aber die Vernunft bzw. das Gewissen, die – weil im Irrtum befindlich – das vorschreiben, was an sich schlecht ist, oder das verbieten, was an sich gut und für das Heil notwendig ist, verpflichten nicht. Daher ist der Wille, der in diesen Fällen von der Vernunft bzw. dem Gewissen abweicht, nicht schlecht.

Eine Handlung kann objektiv betrachtet gut, schlecht oder indifferent sein. Eine gute Handlung ist zu tun, eine schlechte ist zu meiden, bei einer indifferenten Handlung ist man moralisch nicht gebunden, man kann sie tun oder lassen, wie man will oder je nach den Umständen. Irrt sich also jemand darüber, ob eine Handlung an sich gut oder schlecht ist, so verpflichtet ihn der Irrtum nicht, und er kann nicht nur, sondern er muß dem irrenden Gewissen entgegenhandeln. Bei indifferenten Handlungen dagegen macht ein Irrtum nichts, weil die Handlung an sich immer erlaubt ist. 

Der hl. Thomas, der in seinem Urteil so zurückhaltend ist, erklärt: Diese Darlegungen sind aber unsinnig. 

Sie sind deswegen unsinnig, weil sie die subjektive und objektive Seite menschlichen Handelns durcheinanderbringen – ähnlich wie der moderne Mensch auch. Wie schwer fällt es diesem, wahre Subjektivität und wahre Objektivität zu begreifen. 

Wie faßt man also das Gewissen richtig auf? Der Heilige beginnt mit den Handlungen, die sich auf indifferente Objekte richten. 

Bei indifferenten Handlungen ist nämlich der Wille, der von der irrenden Vernunft bzw. dem irrenden Gewissen abweicht, in gewisser Weise durch das Objekt, von dem ja Gut- bzw. Schlechtsein des Willens abhängt, schlecht, nicht jedoch wegen der eigentümlichen Natur des Objektes, sondern weil die Vernunft sie in akzidenteller Weise als gut bzw. als schlecht auffaßt, d. h. als ein zu Tuendes bzw. zu Unterlassendes. Da nun unter „Objekt des Willens“ dasjenige zu verstehen ist, was von der Vernunft, wie bereits gesagt, vorgestellt wird, so fällt der Wille, wenn er sich auf das richtet, was von der Vernunft als schlecht vorgestellt wird, unter den Begriff des Schlechten.

Der menschliche Wille ist nicht aus sich und für sich gut oder schlecht, sondern er wird es durch das „Objekt“. Der Wille konkretisiert sich schließlich dadurch, daß er etwas Bestimmtes tut. Dieses Bestimmte wird ihm aber durch die Vernunft vorgestellt – der Wille urteilt nicht, er vollzieht die durch die Vernunft beurteilte Sache. Darum ist in der konkretenHandlung die konkrete Vernunft die letzte Norm. Das zu tuende Gute ist deswegen gut, weil es von der eigenen Vernunft als gut erkannt wurde, das Schlechte ist deswegen schlecht, weil es von der eigenen Vernunft als schlecht erkannt wurde. Bei den an sich indifferenten Handlungen wird die Moralität nicht durch die Sache selbst gegeben, sondern durch die Vernunft in akzidenteller Weise in diese hineingelegt, indem es diese Sache (gewöhnlich aus den Umständen heraus) entweder als ein zu Tuendes oder als ein zu Unterlassendes erkennt. Dadurch wird die an sich indifferente Sache eine moralisch verpflichtende, d.h. der Wille wird durch diese Erkenntnis gebunden. Der Wille ist nun aber gut, wenn er der eigenen Erkenntnis folgt und schlecht, wenn er ihr nicht folgt – unabhängig davon, ob diese Erkenntnis objektiv richtig oder falsch ist. Der Grund dafür liegt im Wesen des Menschen begründet. Wenn der Mensch nämlich seiner eigenen Einsicht nicht zu folgen bräuchte, könnte er letztlich gar nicht vernünftig handeln. Er käme vielmehr aus dem Zweifeln nicht mehr heraus, wie etwa ein Skrupulant. Dieser sieht in allem Sünde und ist darum in seinem Handeln wie gelähmt.

Von der Vernunft abweichender Wille ist schlecht.

Der engelgleiche Lehrer zeigt nun, daß dies nicht nur für indifferente Handlungen gilt. 

Das geschieht nun aber nicht nur bei indifferenten Handlungen, sondern auch bei solchen, die von sich aus gut oder schlecht sind. Nicht nur das Indifferente kann in akzidenteller Weise gut oder schlecht werden, vielmehr kann durch die Weise, wie die Vernunft es auffaßt, auch das Gute schlecht und das Schlechte gut werden. Sich der Unzucht zu enthalten, ist durchaus ein Gut; dennoch richtet sich der Wille nur insofern auf dieses Gut, als es von der Vernunft vorgestellt wird. Wenn dem Willen somit von einer irrigen Vernunft etwas als schlecht vorgestellt wird, richtet sich der Wille darauf als auf etwas Schlechtes. Der Wille ist also schlecht, weil er etwas Schlechtes will – nicht freilich ein wesentlich Schlechtes, sondern, wegen der Erfassung der Vernunft, ein in akzidenteller Weise Schlechtes. In ähnlicher Weise ist der Glaube an Christus von seinem Wesen her gut und heilsnotwendig; und gleichwohl richtet sich der Wille nur insofern auf dieses Gut, als es von der Vernunft als dieses vorgestellt wird. Daraus folgt: Wenn etwas von der Vernunft als schlecht vorgestellt wird, richtet sich der Wille darauf als auf etwas Schlechtes – nicht insofern es wesentlich schlecht, sondern insofern es in der Erfassung durch die Vernunft in akzidenteller Weise schlecht ist. Daher sagt auch Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ [VII, 9; 1151 a 33], daß „der im eigentlichen Sinne Unbeherrschte derjenige ist, der nicht der rechten Vernunft folgt, der in akzidenteller Weise Unbeherrschte dagegen derjenige, der einer irrenden Vernunft nicht folgt“. Man muß also festhalten, daß an sich jeder Wille, der von der Vernunft abweicht, sei diese eine rechte oder eine irrige, immer schlecht ist.

Vernunft und Einsicht

Diese Einsicht beinhaltet einen tiefen Blick ins Menschenwesen. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen. Damit des Menschen Tun gut ist, muß es vernünftig sein. Nun ist aber der Mensch irrtumsfähig. Er kann etwas an sich Schlechtes als gut ansehen oder etwas an sich Gutes als schlecht. Der Mensch ist zwar dazu gehalten, nach der Wahrheit zu streben, aber das ist ihm nicht ohne weiteres möglich, weil seine Einsicht immer beschränkt und zudem die Begabung ganz unterschiedlich ist. Selbst bei redlichster Absicht kann die Handlung objektiv gesehen dennoch falsch sein. 

Das konkrete Maß für das Tun des Menschen ist darum seine gegenwärtige Einsicht in das Sein der Dinge. Anders kann der Mensch gar nicht vernünftig handeln. Darum reicht die akzidentelle Einsicht zum rechten konkreten Handeln – mehr kann nämlich der Mensch gar nicht leisten, er müßte denn ein Gott sein!

Das subjektive Gut kann freilich objektiv gesehen ein Übel sein. Solange sich jedoch der Mensch im Irrtum befindet, ist er auch gehalten, seinem irrigen Gewissen zu folgen: Der Wille ist also schlecht, weil er etwas Schlechtes will – nicht freilich ein wesentlich Schlechtes, sondern, wegen der Erfassung der Vernunft, ein in akzidenteller Weise Schlechtes.

Die Schlußfolgerung daraus ist wiederum, daß der Mensch sein ganzes Leben gehalten ist, sein Gewissen zu bilden. Je umfangreicher sein Wissen ist, desto souveräner wird sein Handeln werden. Zu dem Wissen muß sich zudem die Tugendhaftigkeit gesellen, denn das Wissen allein nützt nichts, muß doch das Gute auch konkret getan und das Schlechte konkret gemieden werden. D.h. auch den Willen gilt es zu schulen. Nur aufgrund seines Wissens und seiner Tugenden ist der Mensch schließlich wahrhaft frei, weil fähig, allezeit gut zu handeln, nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv gut. 

Das Urteil der irrenden Vernunft

Nach der Klärung der Sache kommt der hl. Thomas nochmals auf die Einwände zurück, um das in ihnen enthaltende Körnchen Wahrheit hervorzukehren: 

Zu 1. Auch wenn das Urteil der irrenden Vernunft sich nicht von Gott herleitet, so stellt doch die irrende Vernunft ihr Urteil als wahr [ut verum], und demzufolge als von Gott hergeleitet vor, von dem ja alle Wahrheit [veritas] stammt.

Der dem irrenden Gewissen Folgende meint subjektiv, daß er Gott gehorcht – stellt doch die irrende Vernunft ihr Urteil als wahr [ut verum], und demzufolge als von Gott hergeleitet vor –, weshalb er auch verpflichtet ist, solange er seinen Irrtum nicht erkennt, diesem irrenden Gewissen wie einem göttlichen Gebot zu folgen. 

Zu 3. Wenn die Vernunft etwas als schlecht erfaßt, dann erfaßt sie dies immer unter einer bestimmten Hinsicht des Schlechten: etwa weil es dem göttlichen Gesetz widerspricht oder weil es ein Ärgernis darstellt oder aus anderen Gründen dieser Art. Dann wird dieser schlechte Wille auf diese Art von Bosheit zurückgeführt.

Das subjektiv Erkannte bildet immer den notwendigen Sachgrund für die Handlung. Wenn etwas unter einer bestimmten Hinsicht als schlecht erkannt wird, dann ist es auch zu meiden. 

Nun könnte einer aus dem Gesagten schließen, wenn das so ist, dann brauche ich mir nicht viel Mühe zu geben, das Rechte zu erkennen. Ich folge einfach meinem Gewissen und alles ist gut!

Reicht es, wenn man’s gut meint?

Im nachfolgenden Artikel 6 geht der engelgleiche Lehrer auf diese verführerische Schlußfolgerung ein, indem er fragt, entschuldigt jede Unwissenheit? Thomas:

Ist derjenige Wille gut, der mit einer irrigen Vernunft übereinstimmt? Es scheint, daß derjenige Wille gut ist, der mit einer irrigen Vernunft in Übereinstimmung ist.

Wir kennen inzwischen seine Vorgehensweise, zunächst führt er Argumente für diese Ansicht an. 

1. So wie nämlich der Wille, der von der Vernunft abweicht, zu dem strebt, was die Vernunft als schlecht beurteilt, so strebt derjenige Wille, der mit der Vernunft übereinstimmt, zu dem, was die Vernunft als gut beurteilt. Derjenige Wille ist also schlecht, der von der Vernunft, also selbst von einer irrenden, abweicht. Also ist umgekehrt der Wille auch dann gut, wenn er mit der irrenden Vernunft übereinstimmt. 

2. Außerdem: Ein Wille, der mit dem Willen Gottes und dem ewigen Gesetz übereinstimmt, ist immer sittlich gut. Das ewige Gesetz und das Gebot Gottes werden uns aber vermittels der Erfassung der Vernunft – auch der irrigen – vorgestellt. Also ist derjenige Wille, der selbst mit einer irrigen Vernunft übereinstimmt, gut. 

3. Außerdem: Schlecht ist derjenige Wille, der von der irrenden Vernunft abweicht. Wenn also ein mit der irrenden Vernunft übereinstimmender Wille ebenfalls schlecht wäre, hätte es den Anschein, daß jeglicher Willensinhalt, der bei einer irrenden Vernunft sich ergibt, schlecht wäre; und so würde sich ein solcher Mensch in einer Ausweglosigkeit befinden und mit Notwendigkeit sündigen: dies ist aber ganz unsinnig.

Also ist eine mit einer irrenden Vernunft übereinstimmender Wille gut.

Irgendwie spürt man aus diesen Darlegungen die Sorglosigkeit des modernen Menschen heraus, der sich so gut vorkommt, weil er es so gut meint. Darf er also einfach bei sich denken: Seliger Irrtum?! Genügt es tatsächlich immer, es gut zu meinen? Die meisten wissen wohl schon aus eigener leidvoller Erfahrung: Nein! 

Thomas gibt als Gegengrund zu bedenken:

Dagegen: Der Wille derjenigen, die die Apostel töteten, war schlecht; gleichwohl war dieser Wille in Übereinstimmung mit deren irrender Vernunft, gemäß Joh.: „Es kommt die Stunde und jeder, der euch tötet, glaubt, Gott damit einen heiligen Dienst zu erweisen.“ Also kann doch ein mit einer irrenden Vernunft übereinstimmender Wille schlecht sein.

Verschuldeter vs. unverschuldeter Irrtum

Nach dem Dafür und Wider ist man schon richtig gespannt auf die klärende Antwort. 

Antwort: So wie die vorhergehende Frage identisch war mit derjenigen: „Verpflichtet auch ein irrendes Gewissen?“, so ist diese Frage identisch mit derjenigen: „Entschuldigt ein irrendes Gewissen?“.

Ist es nicht so, wenn ein irrendes Gewissen verpflichtet, daß es dann auch immer entschuldigt? Thomas zeigt wieder einmal, daß man unterscheiden muß, wenn man klar sehen will. 

Diese Frage ist jedoch abhängig davon, was oben über die Unwissenheit gesagt wurde. Dort wurde ausgeführt, daß aus Unwissenheit manchmal etwas Unwillentliches bewirkt wird und manchmal nicht.

Da nun das sittlich Gute bzw. Schlechte in einer Handlung besteht, insofern sie – wie aus dem zuvor Gesagten hervorgeht – willentlich geschieht, ist offenkundig, daß zwar diejenige Unwissenheit, welche etwas Ungewolltes zur Folge hat, den Begriff des sittlich Guten und Schlechten aufhebt, nicht jedoch diejenige, welche nichts Unwillentliches zur Folge hat. Es wurde oben ja auch schon gesagt, daß diejenige Unwissenheit, die selbst in irgendeiner Weise, sei es mittelbar oder unmittelbar, gewollt ist, keine Folgen hat, die nicht willentlich wären. Dabei nenne ich diejenige Unwissenheit unmittelbar gewollt, auf die sich der Willensakt richtet; „indirekt“ aber nenne ich sie, wenn sie aus Nachlässigkeit entsteht, nämlich dann, wenn jemand [aliquis] das nicht wissen will, was zu wissen er gehalten ist, wie ebenfalls schon dort gesagt wurde. Wenn also die Vernunft bzw. das Gewissen sich im Irrtum befindet und dieser Irrtum ein willentlicher ist, und zwar entweder im unmittelbaren Sinne oder nur im mittelbaren aufgrund von Nachlässigkeit, weil es ein Irrtum bezüglich dessen ist, was zu wissen man [quis = jemand] gehalten ist, dann entschuldigt ein solcher Irrtum der Vernunft bzw. des Gewissens keineswegs, so daß ein Wille, der mit einer solchermaßen irrenden Vernunft oder Gewissensentscheidung übereinstimmt, schlecht ist.

Wenn es aber ein Irrtum ist, der etwas nicht Gewolltes zur Folge hat und der ohne jede Nachlässigkeit aus der Unkenntnis irgendeines Umstandes hervorgeht, dann entschuldigt ein solcher Irrtum der Vernunft oder des Gewissens, so daß der Wille, der mit einer irrenden Vernunft übereinstimmt, kein schlechter ist. Ein Beispiel: Wenn die irrige Vernunft sagen würde, daß jemand mit der Frau eines anderen Umgang suchen solle, dann ist der Wille, der mit dieser irrenden Vernunft übereinstimmt, schlecht, weil der Irrtum aus einer Unkenntnis des göttlichen Gesetzes hervorgeht, das zu kennen man gehalten ist.

Wenn die Vernunft sich jedoch darin irrte, daß man die Frau, die bei einem liegt, für seine Ehefrau hält und auf ihr Begehren hin sie erkennen will, ist dessen Wille entschuldigt, so daß er nicht als böser gelten kann, weil ja dieser Irrtum nur aus der Unkenntnis eines Umstandes herrührt, welche entschuldigt und etwas Unwillentliches zur Folge hat.

Notwendige Einsichten

Die Sache mit dem irrenden Gewissen schaut also genauer betrachtet doch wieder etwas anders aus als ursprünglich gemeint. Auch hierzu muß man feststellen: Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Er ist irrtumsfähig und zugleich wahrheitsfähig – und deswegen ist er von Gott angehalten, sich so viel Wahrheit wie nötig anzueignen. D.h. es gibt, wie Thomas hervorhebt, Einsichten, die Gott vom Menschen erwartet und zwar gerechterweise vom ihm erwartet. Dazu gehören etwa die 10 Gebote, die bis auf das dritte Gebot (und selbst dies noch in gewisser Weise) sogar naturrechtliche Geltung haben, also aus der Natur des Menschen erkannt werden können und müssen. 

Es ist immer zu bedenken: Ein Irrtum hat meistens auch Folgen – Thomas spricht von unwillentlichen Folgen. Der Irrtum verhindert nämlich den Überblick über die Sache, weshalb das durch das irrende Gewissen angestrebte „Gut“ immer auch gefährdet ist. Was sich meist im Laufe der Handlung(en) zeigt, so daß man an sich aufmerksam werden müßte: So habe ich das nicht gewollt. Thomas betont, daß zwar diejenige Unwissenheit, welche etwas Ungewolltes zur Folge hat, den Begriff des sittlich Guten und Schlechten aufhebt, nicht jedoch diejenige, welche nichts Unwillentliches zur Folge hat.

Jeder ist dazu angehalten, sein Leben zu verantworten. Er ist somit verpflichtet, sich so viel Wissen und Können anzueignen, daß er seine Aufgaben – beruflicher oder privater Art – soweit erfüllen kann, daß niemand Schaden erleidet. Wenn etwa jemand bei der Berufsausbildung so nachlässig ist, daß er sein Handwerk nicht beherrscht, so kann er für den durch seine ungenügende Arbeit entstandenen Schaden zur Rechenschaft gezogen werden. Der Geselle kann sich nicht herausreden: Das habe ich nicht gewußt. Der Meister wird ihm antworten: Das hast du als Geselle wissen müssen. Das meint Thomas mit willentlichem Irrtum, also ein selbst verschuldeter Irrtum. Für diesen gilt: Ein solcher Irrtum der Vernunft bzw. des Gewissens entschuldigt keineswegs, so daß ein Wille, der mit einer solchermaßen irrenden Vernunft oder Gewissensentscheidung übereinstimmt, schlecht ist.

Also: Nicht jeder Irrtum entschuldigt von der Sünde. Ein laxes Gewissen, das sich auch aus schweren Sünden nicht mehr viel macht, entschuldigt den Sünder nicht von der Sünde. Dieses birgt vielmehr die Gefahr in sich, in die Sünde gegen den Heiligen Geist zu fallen, also unbekehrbar zu werden, weil man allmählich für jede Gnade unempfänglich geworden ist, weil man sich beim Sündigen nichts mehr denkt – d.h. kein schlechtes Gewissen mehr hat, wie es der Volksmund sagt. 

Fügen wir abschließend noch die Erklärungen des hl. Thomas zu den Einwänden an:

Zu 1. Dionysius sagt: „Das Gute geht aus der Vollständigkeit der Sache hervor, das Schlechte aber schon aus einzelnen Mängeln.“ Daher ist, um etwas, worauf sich der Wille richtet, schlecht zu nennen, schon hinreichend, daß es entweder von der Sache her schlecht ist oder daß es als etwas Schlechtes aufgefaßt wird. Um jedoch wirklich gut zu sein, ist es unabdingbar, daß es in beiden Hinsichten gut ist.

Zu 2. Das ewige Gesetz kann nicht irren, wohl aber kann sich die menschliche Vernunft irren. Daher ist ein Wille, der mit der menschlichen Vernunft übereinstimmt, nicht immer recht und auch nicht immer in Übereinstimmung mit dem ewigen Gesetz.

Zu 3. Wie es bei logischen Schlüssen notwendig ist, daß, wenn auch nur ein einziges Moment von Falschheit vorliegt, auch andere daraus folgen, so folgen auch im Sittlichen, wenn auch nur ein Element unstimmig ist, notwendigerweise auch andere. Gesetzt, daß jemand nur nach eitlem Ruhm strebt: sei es nun, daß er aus leerer Ruhmsucht etwas tut, was er zu tun gehalten ist, sei es auch, daß er solches unterläßt, so begeht er doch in jedem Fall eine Sünde. Ein solcher befindet sich dennoch nicht in einer Ausweglosigkeit, weil er ja von seiner schlechten Intention abgehen kann. Ähnliches liegt vor, wenn wir einmal einen Irrtum der Vernunft bzw. des Gewissens, der aus einer nicht entschuldbaren Unwissenheit hervorgeht, voraussetzten: Es folgt dann mit Notwendigkeit etwas Schlechtes im Willen. Gleichwohl befindet sich ein [solcher] Mensch nicht in einer Ausweglosigkeit, weil er sich vom Irrtum befreien kann, da die Unwissenheit überwindbar und willentlich war.

Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Korrektur

Die letztere Erklärung macht einen sehr nachdenklich. Ein Irrtum hat meist irgendwelche nicht bedachte Folgen, weil ein Irrtum die Wirklichkeit nicht richtig erfaßt. Darum kann es sein,wenn auch nur ein Element unstimmig ist, notwendigerweise auch andere, nämlich aus dem Irrtum notwendig folgende es sind.Anders gesagt:Der Irrtum zeigt sich in den schlechten Früchten der Handlung. Führt nun aber das irrende Gewissen, dem man dennoch folgen muß, weil es für einen persönlich die letzte Instanz des Handeln ist, nicht in eine Ausweglosigkeit? Beißt sich hier die Katze nicht in den Schwanz, weil man sich unmerklich an den Irrtum gewöhnt, muß man sich doch auf das irrende Gewissen stützen, um überhaupt handeln zu können? 

Der hl. Thomas antwortet: Nein! Denn Gott wird einen durch die Gnade dazu bewegen, von der schlechten Intention Abstand zu nehmen, sobald sich der Irrtum durch verschiedene Umstände offenbart. D.h. der Irrende wird gewöhnlich aufgrund der Folgen seiner Handlungen wieder und wieder seines Irrtums gewahr. Darum kann er sich vom Irrtum auch wieder befreien – da die Unwissenheit überwindbar und willentlich war. 

Kommen wir kurz auf das Beispiel des Ehebruchs zurück. Der Heilige Lehrer führt dazu aus: Wenn die irrige Vernunft sagen würde, daß jemand mit der Frau eines anderen Umgang suchen solle, dann ist der Wille, der mit dieser irrenden Vernunft übereinstimmt, schlecht, weil der Irrtum aus einer Unkenntnis des göttlichen Gesetzes hervorgeht, das zu kennen man gehalten ist. Also, niemand kann seinen Ehebruch mit Unwissenheit entschuldigen, weil er gehalten ist, das göttliche Gebot zu kennen. Dieses von jedem geforderte Wissen scheint heutzutage nicht mehr vorhanden zu sein, ist doch der Ehebruch so weit verbreitet, daß er ganz normal scheint. Dabei handelt es sich jedoch um einen willentlichen Irrtum, einen selbst verschuldeten Irrtum. Der Ehebrecher sieht seine Sünde nicht mehr ein, nicht weil er sie nicht einsehen könnte, sondern weil er sie nicht einsehen will. 

Zu dieser Verblendung – willentlicher Irrtum führt zur Verblendung des Geistes! – verführt ihn sicherlich heutzutage besonders die von den Medien verbreitete Meinung, die nicht der Vernunft und dem göttlichen Gebot folgt, sondern dem bloßen, blinden Gefühl. Erst wenn der Sünder seinen Irrtum durchschaut, wird er sich wieder auf seine Vernunft stützen und aus der Sünde herausfinden, weil er seine irrige Meinung zu korrigieren beginnt.

Fortsetzung folgt