Am 7. März begeht die Kirche das Fest des heiligen Thomas von Aquin, ihres wohl größten Kirchenlehrers. „Der hl. Thomas lebte noch in einer anderen Welt als der unsrigen“, heißt es in dem Beitrag „Ein kurzer Blick auf den hl. Thomas von Aquin“ in der 22. Ausgabe der Zeitschrift „Antimodernist“ vom Juli 2019 (S. 10). Was war so anders an dieser Zeit? Vor allem wohl dies, daß man ein allgemeines Interesse an der Wahrheit voraussetzen konnte, was heute in keiner Weise mehr der Fall ist. Außer in einigen Teilbereichen – z.B. bei einer medizinischen Diagnose – ist niemand mehr an der Wahrheit interessiert. Ja, man bestreitet sogar, daß es so etwas wie eine objektive Wahrheit überhaupt gibt.
Zur Zeit des heiligen Thomas war das ganz anders. „Der hl. Thomas hatte ein so großes Vertrauen in die Wahrheitsliebe seiner Mitstreiter um die Wahrheit, daß er gelassen deren Urteil abwarten konnte. Es ging ihm niemals darum, einfach nur Recht zu haben und auf seine eigene Meinung zu beharren, sondern es ging ihm immer darum, die Wahrheit zu erkennen, d.h. er nahm eine These niemals wichtiger als ihre Gründe. Waren die Gründe nur überzeugend genug, dann würden sie auch die anderen einsehen und zustimmen“ (S. 11). Der Autor stellt die Frage: „Würde der hl. Thomas das heute auch noch tun?“, und antwortet: „Sicherlich nicht! Er würde im Gegenteil erwarten, daß das Urteil dieser Männer einfach nur ihrer Ideologie entsprechend ausfallen würde, aber nicht gemäß der Wahrheit“ (ebd.).
Leider ist das so. Man kann heute mit fast niemandem mehr sachlich diskutieren, weil alle nur rechthaberisch ihre Vorurteile und Ideologien verteidigen, statt sich um die Wahrheit zu bemühen. Man sehe sich nur einmal eine der „Talkrunden“ im Fernsehen an! Was das für die Wissenschaft und namentlich die Theologie bedeutet, kann man sich nur mit Grausen vorstellen. Denn was ist „eigentlich ein Wissensbetrieb, bei dem es gar nicht mehr um die Wahrheit geht“? „Dem hl. Thomas würden bei diesem Gedanken wohl kalte Schauer des Grauens über den Rücken laufen, denn das ist das Ende – nicht nur das Ende des Glaubens, es ist das Ende des Geistes, das Ende wahrer Wissenschaft. Was wiederum heißt, wir stehen inmitten der Apokalypse, inmitten der antichristlichen Endzeit, in der man nach dem hl. Paulus ‚die gesunde Lehre nicht mehr erträgt, sondern sich zum Ohrenkitzel nach eigenen Gelüsten Lehrer beschafft. Von der Wahrheit wird man sich abwenden und sich Fabeleien zuwenden‘ (2 Tim. 4, 3 f.). Es ist die Zeit, in welcher jene reihenweise dem Trug Satans verfallen, welche ‚die Liebe zur Wahrheit nicht aufgenommen haben‘ (2 Thess. 2, 10)“ (ebd.).
„Wir können meist – zerfressen vom modernen Zweifel und Relativismus – das Vertrauen des hl. Thomas in die Macht der Wahrheitsliebe gar nicht mehr nachvollziehen. Darum sind wir fest davon überzeugt, sein großes, wunderbares Gedankensystem, mit dem er die ganze Wirklichkeit erfassen wollte, konnte nur in dieser Atmosphäre der Wahrheitsliebe entstehen. Die Wahrheit zählt beim hl. Thomas so viel, daß er selbst dem Gegner dort die Wahrheit zugesteht, wo sie noch zu finden ist. Und wie Josef Pieper hervorhebt, ist es die besondere Vorgehensweise des hl. Thomas, den Gegner nicht bei seinen schwächsten, sondern immer seinen stärksten Argumenten zu nehmen, wobei er oft selber erst die wahre Stärke des Argumentes hervorkehrt“ (ebd.).
Es ist gut, sich das vor Augen zu halten. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, jener Zeit der Wahrheitsliebe, sondern in der apokalyptischen Endzeit, da man sich von der Wahrheit ab- und den Fabeleien zuwendet. Und wir dürfen nicht vergessen, daß wir alle mehr oder weniger Kinder unserer Zeit und dieser großen Gefahr ausgesetzt sind. Sie macht auch vor „Traditionalisten“ nicht halt. Umso mehr muß man sich bemühen, unter Hintansetzung der eigenen, subjektiven „Meinung“, nach der objektiven Wahrheit zu trachten, denn nur die Wahrheit macht uns frei (vgl. Joh 8, 32). Das gilt insbesondere für uns Christen, denn für uns ist die Wahrheit von weit mehr als nur philosophischem Interesse, sie ist vielmehr Gott selbst; sagt doch der göttliche Heiland von Sich: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6), und bekennt vor Pilatus: „Dafür bin Ich geboren und in die Welt gekommen, um Zeugnis zu geben von der Wahrheit“ (Joh 18, 37).
Man sollte daher meinen, daß unter Katholiken, die es ernst meinen, ein sachliches Bemühen um die Wahrheit noch möglich ist, und daß jeder Katholik dankbar sein müßte, wenn ihm jemand dabei hilft und ihn auf die Wahrheit aufmerksam macht. Bei den „Traditionalisten“ ist es damit leider weit gefehlt. Von der modernen Geisteshaltung ganz durchdrungen, sind sie von ihren ideologischen Vorurteilen und Meinungen gefangen und völlig eingenommen und fühlen sich verletzt und beleidigt, wenn jemand ihnen die Wahrheit vorhält.
Ein trauriges Lehrstück für diesen Sachverhalt bietet uns ein Vorgang, der sich letztes Jahr ereignet hat, als ein Familienvater sich besorgt an den Vorsitzenden der „Piusbruderschaft“ wandte, weil er begründete Zweifel an der Gültigkeit der „neuen Bischofsweihen“ hatte und damit auch an den von solchen „Bischöfen“ gespendeten „Priesterweihen“. Der konkrete Hintergrund war der, daß in dem „Priorat“ der „Piusbruderschaft“, das der Mann mit seiner Familie besuchte, ein „Priester“ tätig war, der von einem solchen „Bischof“ die „Weihe“ empfangen hatte und von der „Piusbruderschaft“ nicht nachgeweiht worden war. Naturgemäß war der Familienvater in Sorge, daß dort nun ungültige Messen gefeiert und ungültige Sakramente gespendet würden.
Mit dieser berechtigten Sorge also wandte er sich an den Vorsitzenden der „Piusbruderschaft“, der jedoch die Angelegenheit, ohne sich die Mühe einer Antwort zu machen, einfach an einen „Vorzeige-Theologen“ aus der deutschen Sektion seiner Gemeinschaft übergab. Dieser, ohne sich ernsthaft auf die Gründe des besorgten Familienvaters einzulassen und diesem redlich Rede und Antwort zu stehen, hielt es wohl für seine Pflicht, auf Biegen und Brechen die ideologisch vorgefaßte und objektiv unhaltbare Meinung der „Piusbrüder“ zu diesem Thema zu vertreten und zu verteidigen, die ihr ehemaliger Vorsitzender einmal so formulierte: die „neuen Weihen“ seien „a priori gültig“.
Dies gilt seither als „Pius“-Dogma, und wer es leugnet, ist ein Häretiker. Wer nun glaubt, wir übertreiben, der lese nach, was und wie der „Pius-Theologe“ dem armen Familienvater geantwortet hat. Der ganze Disput ist in Heftform verfügbar, und wir sind an anderer Stelle in dem Beitrag „Zweifel“ ausführlicher darauf eingegangen. Dort findet man auch die Adresse, bei der man das Heftchen anfordern kann. Für uns ist dieser Disput sehr lehrreich, nicht nur, weil wir dort einiges über die „neuen Bischofsweihen“ erfahren, sondern auch, weil wir unsere eigene Wahrheitsliebe wieder beleben und erneuern können. Möge der heilige Thomas von Aquin uns dazu Fürsprecher sein!