Die Reise nach Jerusalem

Der eine oder andere Leser wird womöglich aus seiner Jugendzeit noch das Spiel „Reise nach Jerusalem“ kennen. Das ist ein einfach zu organisierendes Spiel, bei dem auch für eine größere Gruppe sowohl Spaß als auch Bewegung garantiert ist. Man stelle einfach einen Stuhlkreis auf, wobei die Anzahl der Stühle einer weniger ist als die der teilnehmenden Spieler. Das Spiel beginnt, indem man ein Musikstück laufen läßt, während dessen die Gruppe im Kreis zunächst um die Stühle geht, dann immer schneller wird, bis man läuft. Sobald das Musikstück angehalten wird, müssen sich alle Spieler auf einen Stuhl setzen. Weil aber ein Stuhl fehlt, wird bei jeder Runde ein Spieler übrigbleiben, der dann ausscheidet. Nach jeder Runde wird wieder ein Stuhl weggenommen, bis zum Schluß nur noch ein Stuhl und zwei Spieler übrig sind. Der von beiden, der dann auf diesen einen Stuhl zum Sitzen kommt, ist der Sieger! Das Spiel hat sich vielfach bewährt und ist für kurzweilige Unterhaltung in Jugendgruppen bestens zu empfehlen.

Uns ist nicht bekannt, ob dieses Spiel auch in Italien gespielt wird. Wir haben jedoch den wohlbegründeten Verdacht, daß die Römer dieses Spiel in den letzten Jahrzehnten entdeckt – und sodann etwas in ihrem Sinne modifiziert haben. Den Römern ist nämlich aufgefallen, daß eine internationale Gruppe pubertierender Jugendlicher, vorwiegend Franzosen, Deutsche, Schweizer und Amerikaner, unbedingt bei ihrem Spiel mitspielen wollten, aber mit der recht seltsamen Vorstellung, nicht nach den Spielregeln der Römer spielen zu wollen, sondern vielmehr diesen ihre eigenen Spielregeln aufzwingen zu können.

Wer die Römer kennt, der kann sich denken, daß diese daraufhin etwas voreingenommen gegen die ausländischen Eindringlinge in ihr Spieleland waren. Da aber die Römer ihrerseits äußerst spielerfahren sind – haben sie ihr Spiel schließlich seit Jahrhunderten geübt und dabei ihre Spielpraxis bis ins Kleinste ausgefeilt –, berieten sie sich kurzerhand, wie man sich der aufdringlichen Eindringlinge erfolgreich erwehren könne.

Während ihrer Beratungen kam einer ihrer Starspieler auf die geniale Idee, man könne doch versuchen, diese Spielwütigen in ein Spiel zu verfangen, das sie, die Römer, ausgedacht haben, freilich ohne daß die anderen das merken sollten. Wenn ihnen das gelänge, dann wären sie zunächst einfach einmal mit sich selbst beschäftigt und sie, die Römer, könnten zudem spielend auf diese Einfluß nehmen und sie nach ihren Vorstellungen lenken und leiten, was doch wohl die eleganteste Lösung wäre.

Alle Römer waren von dem Vorschlag sofort begeistert. Es war nur noch zu klären, welches Spiel man für diese geheime Aktion wählen solle? Welches Spiel gewährt so viel Spaß und Bewegung, daß die Spieler gar nicht merken, worauf das Spiel letztlich hinauswill?

Da auch die Römer international organisiert waren, hatten sie gerade einen deutschen Oberspielführer unter sich, der für die Überwachung der Spielregeln zuständig war. Es gab nämlich bei den Römern immer wieder Falschspieler, denen man auf die Finger schauen und zuweilen auch klopfen mußte. Dem Deutschen war aus seiner Jugendzeit das Spiel „Reise nach Jerusalem“ in guter Erinnerung. Im Geiste sah er die fröhliche Schar um die Stühle sausen und lachen und johlen und nach jeder Runde immer weniger werden. Diese Erinnerung zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht – „I hob‘s!“ rief er aus, aber natürlich auf italienisch, damit ihn die anderen auch verstehen konnten. Wir spielen mit ihnen „Reise nach Jerusalem“! Da ihn die Mitbrüder wie Fragezeichen anstarrten, erklärte er ihnen schnell das Spiel, wobei mit jedem Satz der Erklärung sich deren Minen erhellten und schließlich ein breites Grinsen auf alle Gesichtern gezeichnet war. „Du bist halt ein Genie“, sagten sie zum deutschen Spielregelüberwacher anerkennend.

Jetzt wurde es in der Runde schnell wieder lebendig. Jeder hatte zum Spiel und seiner Ausführung eine ergänzende Idee, und so heckte man schnell einen detaillierten Plan aus, wie man diese Möchtegernmitspieler dazu bringen könne, „Reise nach Jerusalem“ zu spielen – und zwar so engagiert zu spielen, daß keinem die Pointe des Ganzen auffiel.

Es dauerte nicht lange, da war die Sache ausgereift. Der römische Oberspielmeister erklärte nochmals allen das gemeinsame Vorgehen: Also, zunächst stellen wir mit einladender Geste den Stuhlkreis auf. Und da es doch sehr viele Stühle sind, die anderen sind ja noch viele, wird es ihnen sicherlich gar nicht auffallen, daß es nicht genug für alle sind. Sodann brauchen wir nur eine gute, werbewirksame Idee, um sie in Spiellaune zu bringen. Als Meister des Dialogs werden wir sie zunächst in Gespräche verwickeln, um sie sodann diese spielend weiterspinnen zu lassen. Dann werden sie sicherlich bald beginnen, eifrig um die Stühle herumzulaufen.

Wir geben dazu den Einsatz mit unserer Musik. Das muß ein Lied mit schöner, einladender, hinreißender Melodie sein: „Auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen – genau so wie ihr wollt.“ Sobald dann alle sich ganz stark freuen, ja in richtigen Spielrausch geraten sind, kommt plötzlich unser Stoppzeichen mit dem letzten Akkord: „Ihr müßt alles tun, was wir euch sagen!“ Und alle setzen sich – aber leider sind nicht für alle Stühle da. Leider müssen einige ausscheiden. - „Ja, das probieren wir!“ riefen alle voller Begeisterung.

Die Römer schickten also ihre besten Falschspieler zu den Jugendlichen aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Amerika, und diese schmierten ihnen überaus gekonnt so viel Honig um den Mund, daß jene nichts merkten – ja überhaupt gar nichts merkten. Wie so nebenbei ließen sie während der Gespräche ihre Spielanregungen zur „Reise von Jerusalem“ einfließen, erkannten sie doch schnell, wie begierig die anderen nach so einem Spiel waren.

Ja natürlich, sagten sie, wir verstehen euch sehr gut. Die römische Art des Spiels ist euch nicht so vertraut. Da kann man doch nicht verlangen, daß ihr diese Art übernehmt. Das wird schon irgendwie möglich sein, daß ihr euer eigenes Spiel spielen könnt, mit euren eigenen Spielregeln. Das ist ja schließlich das, was ihr am besten könnt. Aber ihr müßt natürlich auch uns verstehen. Auch wir haben unser Spiel und unsere Spielregeln, die etwas moderner sind als eure. Wir haben uns an die moderne Art des Spiels gewöhnt, da könnt ihr doch nicht erwarten, daß wir einfach alles wieder so machen wie früher. Wenn nur jeder auf den anderen genügend Rücksicht nimmt, dann kommen wir uns sicherlich bald näher. Wir werden etwas moderater in unserem, ihr dagegen etwas flotter in eurem Spiel. Ihr werdet sehen, mit der Zeit lassen sich vielleicht sogar die Spielregeln aneinander anpassen. Bis es so weit ist, gibt es unser ordentliches römisches Spiel und das außerordentliche – fast wäre dem Römer „bedauernswerte“ herausgerutscht, was er sich aber dann doch im letzten Augenblick verkneifen konnte – Spiel von euch. Also, Glück auf, spielt das einmal mit euren Leuten durch, auf zur Reise nach Jerusalem! So motivierten die römische Falschspieler die spielwütigen Jugendlichen und fuhren beruhigt nach Hause.

Wie erstaunt waren aber die Römer, als sie sahen, wie schnell und mit welchen Eifer die Jugendlichen „Reise nach Jerusalem“ zu spielen begannen. Die Römer brauchten nicht einmal den Startschuß geben. Sobald sie aber die Jugendlichen um die Stühle gehen sahen, feuerten sie diese an: „Auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen – genau so wie ihr wollt.“ Und wirklich, die Jugendlichen wurden immer schneller und schließlich sausten sie nur so um den Stuhlkreis, der noch recht groß war. Als dann alle so richtig im Spielrausch waren, gaben die Römer, wie geplant, ihr Stoppzeichen: „Ihr müßt alles tun, was wir euch sagen!“

Der Erfolg war schon nach der ersten Runde mehr als zufriedenstellend, denn es blieb immerhin schon ein beachtlicher Teil draußen, der fortan nicht mehr mitspielen durfte. Amüsiert konnten die Römer zudem beobachten, wie die Jugendlichen zu streiten begannen. Blödes Spiel, sagten die einen. Spielverderber, riefen die anderen. Wir wollen gar nicht mehr mitspielen, meinten wiederum die einen, ihr dürft gar nicht mehr mitspielen, die anderen. Ja, die Spielführer waren sogar gleich so hart, daß sie die Stuhllosen ganz von dem Spiel ausschlossen. Gesundschrumpfung nannten das ihre Spielführer.

Nachdem die Jugendlichen sich etwas beruhigt hatten, gingen sie zu den Römern, um ihnen ins Angesicht zu widerstehen: Also so geht das nicht! Es war doch ausgemacht, daß wir so spielen dürfen, wie wir wollen! Ja so was, taten die Römer überaus verwundert. Da muß es irgendein Mißverständnis gegeben haben, denn bei uns in Rom muß man schon nach den römischen Spielregeln spielen. Das müßt ihr doch einsehen, oder nicht? Aber wir wollen nicht so streng sein. Wenn ihr wollt, dann könnt ihr doch wieder „Reise nach Jerusalem“ spielen – und zwar ganz nach euren Spielregeln.

Das freute die Jugendlichen und somit waren sie mit dem neurömischen Vorschlag einverstanden und fingen wieder an, sich in Bewegung zu setzen. Die Römer hatten aber die Gesprächspause dazu benützt, heimlich einige Stühle aus dem Stuhlkreis zu entfernen. Wiederum waren die Römer doch recht erstaunt, wie schnell die Kleinen schon wieder zu spielen begannen und mit welcher Begeisterung „Reise nach Jerusalem“ ganz nach ihren Regeln gespielt wurde. Da feuerten sie wieder alle an: „Auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen, auch ihr dürft mitspielen – genau so wie ihr wollt.“

Die Römer hatten natürlich schnell herausgefunden, wer die Hauptverantwortlichen des ganzen Spieles waren. Diesen wandten sie sich mit besonderer Sorgfalt zu und flüsterten ihnen immer wieder neue römische Parolen ins Ohr: Ihr müßt Rom die Treue halten, nur so seid ihr rechte Spieler. Laßt euch ja nicht von den Miesmachern gegen Rom verbittern, denn die Römer allein wissen, wie man richtig das Spiel des Lebens spielt. Was wollt ihr denn als so kleiner Haufen? Das macht doch keinen Spaß, sich so auszugrenzen. Alles klappte einfach ausgezeichnet. Die Anführer der Jugendlichen begannen schon von ihren Freunden in Rom zu sprechen, was den Römern fast schon peinlich war, wenn es nicht so nützlich gewesen wäre.

Als der deutsche Oberspielführer zum Oberspielmeister ernannt wurde, hatte er ein wenig Mitleid mit den Jugendlichen. Er sagte ihnen, ihr Gründer sei zwar ein großer Mann gewesen, sie aber müßten doch einsehen, daß sie nur Jugendliche seien. Der Deutsche hatte vollendete Manieren und war noch recht stilvoll im Gegensatz zu anderen – aber er war auch schlau, wie ein Fuchs. So dachte er ein Weile, er könnte es womöglich doch wagen, die Jugendlichen in Rom mitspielen zu lassen. Nach einigen Runden der „Reise von Jerusalem“ waren diese nämlich inzwischen einerseits zahlenmäßig genügend ausgedünnt und anderseits soweit demoralisiert, daß man keinerlei Angst mehr vor ihnen zu haben brauchte. Außerdem, so dachte er, können ja nicht alle Jugendlichen auf der Welt so modern sein wie die Römer, es darf doch auch einen gemäßigten Modernismus geben. Warum nicht den neuen Geist in alten Kleidern präsentieren, so dachte der Deutsche.

Wie erwartet, waren die Anführer der Jugendlichen sofort vollkommen begeistert von seinem Vorschlag. Das alte Spiel war nie verboten, tönten sie vor den eigenen Leuten. Jetzt haben wir es amtlich! Jetzt dürfen wir doch so spielen, wie wir wollen – Roma locuta! Nun müssen die ewigen Miesmacher unter uns schweigen und zugeben, daß die Römer Freunde unseres Spiels sind – und eine neue Runde der „Reise nach Jerusalem“ begann.

Der Deutsche konnte es kaum fassen, daß die Jugendlichen wieder zu spielen begannen und wieder nicht merkten, wessen Spiel sie spielten. Litten sie etwa schon an Wahrnehmungsstörungen, dachte er fast etwas resigniert. Denn, was ist das für ein Gegner, der nicht einmal mehr fähig ist zu sehen, wessen Spiel er eigentlich spielt? So kam der Deutsche zu der Überzeugung, man könne, ja man dürfe diese Leute nicht am römischen Spiel teilnehmen lassen, vielmehr sollen sie ruhig weiter „Reise nach Jerusalem“ spielen. Das können sie nämlich am besten.

Und so ist es auch bis jetzt geblieben, wie jeder auch nur etwas spielerfahrene Romkenner leicht einsehen wird – auch wenn das Lied, nach dem sie spielen, inzwischen vom neuen Spielleiter seiner Herkunft entsprechend mit Tango-Elementen aufgefrischt worden ist. Seit bald zwanzig Jahren spielen sie, und spielen, und spielen, und spielen... Wie es im Märchen immer so schön heißt: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so spielen sie noch heute.“