Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da war es dem Bösen Wolf gelungen, sieben kleine Geißlein zu überlisten. Er hatte sich für ihre Mutter ausgegeben, und bei seinem dritten Versuch, als er nicht nur seine Stimme mithilfe von Kreide verstellt, sondern auch seine schwarze Pfote mit Teig und Mehl weiß gemacht hatte, hatten sie ihm geglaubt und ihn endlich eingelassen. Sofort hatte er alle sieben Geißlein verschlungen – so glaubte er wenigstens – und sich davongetrottet in den Wald, um ein kleines Verdauungsschläfchen zu halten.
In Wahrheit jedoch hatte eines der Geißlein, das jüngste, sich in seiner Not im Uhrenkasten versteckt und war so dem Massaker entgangen. Da stak es nun in seinem Kasten und fühlte sich gar elend, verlassen und einsam. So wartete es, wie ihm schien, eine lange Zeit, doch niemand kam, nichts rührte sich, niemand wollte sich um das arme Geißlein kümmern. Ihm wurde ganz bang und weh ums Herz, und es sagte sich: „Es war dumm von mir, in den Uhrenkasten zu steigen und mich von meinen Geschwistern zu trennen. Ich will mich aufmachen und sie suchen. Sicher sind sie längst mit unserer guten Mutter vereint, und ich hocke hier ganz alleine im Ghetto.“
Das Geißlein kletterte also aus seinem Kasten und machte sich auf den Weg. Die Spur des Wolfes war nicht schwer zu verfolgen, und endlich fand es ihn, wie er dort im Grase lag, den Bauch dick und gefüllt von den kleinen Geißlein, und laut schnarchte. Wie es näherkam, da hörte es neben dem Schnarchen noch ein anderes Geräusch, das aus dem Wanst des Tieres zu dringen schien. Es waren die Stimmen seiner lieben Geschwister, die dort drinnen lustig plapperten und riefen. „Was ist das?“ fragte sich das Geißlein. „Ich dachte, es sei der Böse Wolf. Doch nun sind meine Geschwister gar munter und wohlauf. Es ist wohl doch unsere liebe Mutter, auch wenn sie aussieht wie der Böse Wolf. Doch ihre Stimme und ihre weiße Pfote hätten mir sagen sollen, daß sie es ist. Sie ist nur durch eine Krankheit völlig entstellt und wollte uns in ihrem Wanst in Sicherheit bringen.“
Schnell lief es hin und rief den anderen Geißlein zu: „Hallo, seid ihr es? Seid ihr da drin? Ich bin das kleine Geißlein, euer Geschwisterlein.“ „Ah, du bist es“, kam die Antwort dumpf zurück, „endlich bist du da.“ „Wie geht es euch da drin?“ fragte das Geißlein. „Oh, wir befinden uns ganz wohl. Es ist etwas dunkel und eng und übelriechend. Aber immer wenn das Maul sich zum Schnarchen öffnet, fällt etwas Licht herein und frische Luft.“ „Und was macht ihr da?“ „Wir schreiben einen Brief, eine ‚correctio filialis‘, eine ‚kindliche Korrektur‘.“ "Was?!“ „Ja, wir wollen uns bei unserer Mutter schriftlich beschweren, daß sie uns so erschreckt hat, indem sie sich als Wolf verkleidet und auch so benommen hat. Vor allem beklagen wir uns darüber, daß sie zu weit ging, indem sie uns auch noch verschlungen hat, und ersuchen sie, uns wieder ans Tageslicht zu setzen.“ „Aha, das leuchtet ein“, sagte das kleine Geißlein.
„Und du könntest uns eigentlich helfen“, kam es aus dem Wanst zurück. „Wir unterschreiben jetzt alle, und beim nächsten Schnarcher werfen wir das Papier zu dir nach draußen. Dann kannst du ebenfalls unterschreiben und es unserer Mutter unterbreiten, sobald sie aufwacht.“ „Aber, äh, ich wollte mich doch erst einmal bei ihr entschuldigen, daß ich mich vor ihr versteckt habe, und sie bitten, mich wieder als ihr liebes kleines Geißlein anzunehmen.“ „Das kannst du ja tun. Trotzdem wollen wir dich bitten, mit zu unterschreiben, damit sie dich nicht auch noch verschlingt.“ Eben öffnete der Wolf erneut sein Maul, und da flog ein zusammengefaltetes Papier heraus. Das Geißlein entfaltete es, las „Correctio fillialis“, und setzte seine Unterschrift darunter.
Es war gerade damit fertig, als der Wolf müde ein Auge aufschlug. Bevor es wieder zufiel, riß er es erneut auf und das andere dazu, und starrte erstaunt auf das Geißlein, das vor ihm stand. „Nanu!“ rief der Wolf, „wo kommst du denn her?“ „Ach, liebe Mutter“, erklärte das Geißlein, „ich hatte mich vor dir versteckt, weil ich dich für den Wolf gehalten hatte. Doch nun bin ich gekommen, um wieder in volle Gemeinschaft mit dir und meinen Geschwistern zu treten. Nur um eines muß ich dich bitten: Du mußt mich so nehmen, wie ich bin, und mir eine gewisse Autonomie gewähren.“ Der Wolf blickte das Geißlein verwundert an: „Äh, ja gewiß… Aber was ist denn das da bitte für ein Zettel, den du in deinen Händen hältst?“ „Das ist eine ‚Correctio fillialis‘“, antwortete das Geißlein stolz, „von meinen Geschwistern und mir unterschrieben. Ich überreiche sie dir hiermit als offizielle Beschwerde über dein Verhalten und als Bitte, meine Geschwister wieder aus deinem Wanst zu entlassen.“
„Ach gar“, knurrte der Wolf, und ein verschlagener Blick trat in seine Augen. „Komm doch mal ein bißchen näher, damit ich das Papier genauer studieren kann!“ Arglos näherte sich das Tierlein dem Bösen Wolf. Ein Satz, und schon steckte es in seinem Rachen. Er schluckte es so, „wie es war“, mit Haut und Haar, mitsamt seiner „Autonomie“ und der „Correctio filialis“. Da saß es nun, endlich mit seinen Geschwistern vereint, und der Wolf schloß abermals seine Augen zu und schlummerte satt und zufrieden ein. Die Geißlein aber in seinem Wanst hatten sich nun viel zu erzählen, und wenn sie nicht verdaut wurden, dann leben sie auch heute noch im Bauch des Wolfes und rühmen sich untereinander, wie mutig sie waren mit ihrer „Correctio filialis“.