Die Große Botschaft von La Salette ist zweifelsohne eine Verstehenshilfe der Apokalypse des heiligen Apostels Johannes. Nachdem wir uns die Hirtin Melanie, die Seherin von La Salette, angesehen und die Botschaft von La Salette als ein Zeichen des Widerspruchs kennengelernt haben, wollen wir im dritten Teil unserer Arbeit wahre Prophetie verstehen und lesen lernen.
Die Große Botschaft von La Salette ist einzigartig. Das ist wohl auch der Grund für die Zurückweisung durch viele moderne Katholiken. In La Salette sagt die weinende Gottesmutter zusammengefaßt auf fünf DIN-A4 -Seiten alles, was für die kommende Zeit für einen Katholiken wissensnotwendig ist. Welch ein Kontrast zu den vielen falschen Botschaften, in denen die Erscheinungen ganze Bücher mit sog. Botschaften füllen. In Lourdes wird Maria noch weniger sagen als in La Salette, weil alles Wichtige schon gesagt ist und das, was immer wiederholt werden muß, sich in diese wenigen Worte zusammenfassten läßt: Betet und tut Buße!
Je eingehender man sich mit der Großen Botschaft von La Salette beschäftigt, desto mehr stößt man auf eine Tatsache: Es gibt keinen wirklich brauchbaren Kommentar zu den Worten der weinenden Gottesmutter. Zuweilen stößt man auf den einen oder anderen guten und interessanten Ansatz, aber in der Folge fällt man wieder in eine erstaunliche Oberflächlichkeit, so als wollte man mit aller Gewalt den Ernst der Botschaft nicht wahr haben. Wir haben schon gesehen, daß Leon Bloy sein ganzes Leben lang vergeblich dafür kämpfte, der Botschaft Gehört zu verschaffen. Das Auffallendste in der Großen Botschaft sind sicherlich die zahlreichen Hinweise auf die bzw. Parallelen zu der Apokalypse. Da liest man etwa von den 10 Königen, von Henoch und Elias, den Plagen und Zornschalen, dem Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte – und vom Kommen des Antichristen. Da müßte man doch erwarten, der Leser würde zur Heiligen Schrift greifen und die Geheime Offenbarung befragen, um die Hinweise in der Großen Botschaft verstehen zu können – aber nein, Fehlanzeige! Jedenfalls ist uns wenigstens im deutschsprachigen Raum kein Kommentar bekannt, der die apokalyptischen Hinweise in der Großen Botschaft ernst nimmt und dementsprechend zu deuten versucht.
Eigenart der Prophetie
Ehe wir dies tun können, müssen wir vorweg noch auf eine wesentliche Eigenart der Prophetie hinweisen, vor allem der Endzeitprophetie. Das große Vorbild für alle diese Prophetien – auch für die Geheime Offenbarung selbst – sind die Endzeitreden Jesu Christi.
Den Anlaß für diese Reden bildete ein Sparziergang des Heilandes mit den Jüngern auf dem Ölberg. Die Jünger sahen auf die prächtigen Bauten der Tempelanlage, eines der beeindruckendsten Bauwerke der damaligen Welt. Bei diesem Anblick spricht einer der Jünger voller Begeisterung: „Siehe, Meister! Was für Steine und welch herrliche Gestalt!“ Jesus aber erwiderte: „Du siehst all diese Bauten! Kein Stein wird davon auf dem anderen bleiben!“ Diese Worte Jesu wurden auf dem Weg zum Ölberg gesprochen, als sie das Cedrontal am Ostabhang des Ölberges durchschritten. Jesus hatte Halt gemacht und sich gerade niedergesetzt, mit Blick auf den Tempel, dessen imposante Silhouette sich gegen den Himmel in den Strahlen der untergehenden Sonne abzeichnete. Die Worte Jesu drängten geradezu nach einer Erklärung. Vier der vertrautesten Jünger, Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas, beeilten sich deswegen, die Frage zu stellen: „Sage uns, wann werden diese Dinge geschehen, und welches wird das Zeichen deiner Wiederkunft sein?“ (Vgl. Matth. 24,1-51; Marc. 13,1-37; Luc. 21,5-6).
Der göttliche Lehrmeister gibt hierauf die Antwort, in der der Untergang Jerusalems mit dem Weltende verbunden wird. Der Untergang Jerusalems wird zum Vorbild, zum Typus für das Geschehen des Weltendes. In vielen Prophezeiungen läßt sich dasselbe beobachten, Zeitnahes wird mir Fernem verbunden, weil das eine, das Bekannte hilft, das andere, das Zukünftige und Unbekannte, besser zu verstehen.
Hören wir hierzu eine Erklärung von Kardinal Billot in seinem Buch „Die Parusie“ (Kardinal Louis Billot, Die Parusie, Pro Fide Catholika, Durach 1991). Der Kardinal weist zunächst auf einen Unterschied hin, den es zu beachten gibt:
„Wenn wir nun die Prophetie mit der geschichtlichen Betrachtung vergleichen: worin liegt der wesentliche Unterschied? Er liegt in der Perspektive. Sowohl bei der Geschichte als auch bei der Prophetie liegt ein jeweils anderer Gesichtspunkt vor. Die Perspektive der Geschichte liegt auf der Ebene, in der die Ereignisse dieser Welt ablaufen. Wer weiß denn nicht, daß dieselben Dinge und Gegebenheiten von verschiedenen Standpunkten anders aussehen und daß man ganz aus der Nähe nur einen kleinen Ausschnitt sieht, während man z.B. vom Flugzeug aus einen Gesamtüberblick gewinnt: anders also die Perspektive in einer Ebene, anders die Vogelperspektive, anders der Blick vom Tal aus, anders die Aussicht von einem hohen Berggipfel. Die Geschichte hat ihren Beobachtungsposten in der ‚Ebene‘ (der Zeit), sie folgt den Ereignissen Schritt für Schritt. Es wird nacheinander dargestellt, ohne die Zwischenräume zu überspringen, in eben so vielen, deutlich unterschiedenen Bildern.
Die Prophetie hingegen hält sich auf jenen hohen ‚Gipfeln‘ auf, die den gesamten Ablauf der Zeit überragen. Sie wird einzig und allein durch die Sonne des Vorherwissens Gottes erleuchtet. Deshalb sagen die Theologen, die Prophetie sähe im Unterschied zur Geschichte die Ereignisse im Spiegel der Ewigkeit, d.h. in den Ideen, die diese ewige Dauer Gottes repräsentieren, in deren Sicht die längsten Zeiträume wie in einem Augenblick erscheinen; denn ‚tausend Jahre sind vor Gott wie ein einziger Tag‘“ (S 12f).
Jedes geschichtliche Ereignis läßt verschiedene Betrachtungsweisen zu. In der Geschichtsschreibung werden immer nur diejenigen Fakten erwähnt, die auf der Ebene liegen, „in der die Ereignisse dieser Welt ablaufen“. Mit anderen Worten, die dem Historiker mit natürlichen Mitteln greifbar sind. Wenn aber Gott Geschichte erzählt, dann als Heilsgeschichte. Gott zeigt „im Unterschied zur Geschichte die Ereignisse im Spiegel der Ewigkeit“. Von der Ewigkeit aus betrachtet, schaut aber die Welt und auch die Ereignisse in unserer Welt ganz anders aus. Wie Kardinal Billot weiter bemerkt, kommt noch hinzu: „Der Gegenstand der Prophetie als solcher ist die Zukunft, nicht die Vergangenheit oder Gegenwart.“ Dem menschlichen Wissen ist die Zukunft verborgen.
„Die Zukunft kann man nur lesen im unendlichen Vorherwissen Gottes, in den Plänen seiner souveränen Vorsehung, in den Anordnungen seiner ordnenden Weisheit, in den ewigen Ratschlüssen endlich, die jede Entwicklung von Jahrhunderten messen, und von den göttlichen Tiefen, in denen sie verborgen sind. Und da die göttlichen Pläne der Gegenstand der Prophetie sind, ist es nicht verwunderlich, daß sie es nicht einfachhin nur mit nackten Tatsachen zu tun hat, sondern mit den Verflechtungen der Ereignisse, die ihnen die Ordnung des göttlichen Planes gibt.
In dieser Ordnung nun, im Plan der göttlichen Vorsehung bzw. in der Anordnung der unendlichen Weisheit, wo jegliche Ökonomie der Dinge mit einer unvergleichlichen Meisterschaft und Kunst disponiert ist, verhalten und verbinden sich die Ereignisse ganz anders als nur durch einfache, gleichzeitige Chronologie. Es gibt darin eine Art der Verknüpfung, die man anderswo vergeblich suchen würde, weil sie allein der göttlichen Macht angehört. Es gibt eine Verbindung in der Heilsgeschichte, die darin besteht, daß das Vorbild und das im Vorbild Bezeichnete in eins geschaut werden, so daß frühere Ereignisse Schattenbilder der nachfolgenden sind, welche sich verhalten wie die Skizze zum fertigen Bild, das sie andeutet“ (S 13f).
Im Plan der göttlichen Vorsehung gibt es viele verborgene Wege, die unser Menschenverstand nicht überschauen kann. Wir können nur bestaunen, daß Gott alles „mit einer unvergleichlichen Meisterschaft und Kunst disponiert“. Diese Wahrheit kommt in der Heiligen Schrift immer wieder zutage, wenn Gott in die Menschengeschichte Vorbilder gestaltet, die sich sodann erst nach Jahrhunderten in ihrer wahren Bedeutung offenbaren. Wenn etwa der hl. Paulus im ersten Korintherbrief erklärt: „Ich will euch, Brüder, nicht im unklaren lassen: Unsere Väter waren zwar alle unter der Wolke, alle zogen durch das Meer, und alle wurden in der Wolke und im Meer auf Mose getauft, und alle aßen dieselbe geistige Speise, und alle tranken denselben geistigen Trank; sie tranken nämlich aus dem geistigen Felsen, der ihnen folgte: Der Fels war Christus“ (1 Kor. 10,1ff), dann stehen mit einem Mal all diese Ereignisse des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem göttlichen Erlöser, und der Auszug des Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens wird ein Typus für die Erlösung der Seele durch den göttlichen Heiland.
Dieser Zusammenhang ist natürlich menschlichen Augen verborgen, er ist nur der göttlichen Allwissenheit offenbar, wie auch Kardinal Billot hervorhebt: „Der Gegenstand der Prophetie wird durch den Propheten im Spiegel der Ewigkeit gesehen und von ihm geschaut in den Harmonien des Planes der göttlichen Vorsehung. So werden Ereignisse, Menschen und Fakten miteinander verbunden, die in der geschichtlichen Abfolge so nicht vorkommen, wobei aber Vorbild und Erfüllung wie in einem Blick geschaut werden. So sieht Jesus das Ende Jerusalems als beispielhafte Vorwegnahme für das Ende der Welt, und das ist die grundlegende Tatsache. So sieht der Prophet Daniel in Antiochus einen Vorläufer des Antichrist, der am Ende kommen wird (Dan. 11 f.). Der hl. Hieronymus sagt dazu: ‚In der Hl. Schrift ist es üblich, die Wahrheit durch die künftigen Dinge bestätigen zu lassen. So trägt der Psalm 71 den Titel ,Auf Salomon‘. Indessen trifft nicht alles, was dort gesagt wird, auf Salomon zu. Aber die Prophetie erfüllt sich in Salomon wie in einem Schattenriß der Wahrheit, um sich dann vollkommen im Erlöser zu erfüllen.‘ (Vgl. Hieronymus: „In Danielem“ Kap. XI)“ (S 14f).
Sobald man diese Tatsache bei den Prophetien ernst nimmt, weiß man auch um die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Texte. Kardinal Billot weiß um den naheliegenden Einwand: „Wenn das so ist, daß man verschiedene Dinge miteinander vermischt, die weit auseinanderliegen, so wird doch in die Prophetie Verwirrung und Dunkelheit gebracht, deren wahrer Sinn für einen großen Teil der Menschen nur sehr schwer verständlich ist, wenn sie ihn überhaupt begreifen. Wenn man aber das Wesen der Prophetie betrachtet, verschwindet diese Schwierigkeit. Die Prophetie stellt ja die Geschichte aus dem Blickpunkt der Ewigkeit dar und sie betrifft zudem noch die Zukunft, die uns - aus verständlichen Gründen – immer bis zu einem bestimmten Grad verschlossen bleiben muß. Die Geschichte liegt vor uns im hellen Licht, während die Prophetie immer in ein gewisses Hell-Dunkel getaucht bleibt.“
Für keinen anderen Text der hl. Schrift gilt das so sehr wie für die Geheime Offenbarung des hl. Apostels Johannes, von der der hl. Hieronymus sagt: „Die Apokalypse des Johannes hat soviele Geheimnisse wie Wörter. Damit habe ich doch wenig gesagt im Verhältnis zu dem, was das Buch verdient: in jedem einzelnen Wort verbergen sich vielfache Erkenntnisse“ (Hl. Hieronymus im Brief 103 an Paulinus, Kapitel VII.). Jeder ernsthafte Ausleger dieser wahrhaft geheimnisvollen Texte wird darum voller Vorsicht sein, damit er sich nicht in diesem Hell-Dunkel verfängt und als lichtvolle Erkenntnis das präsentiert, was letztlich nur Eigendünkel und die zweifelhafte Frucht von falscher Neugierde ist.
Dementsprechend erinnert Kardinal Billot daran: „In der Tat werden die Prophetien nicht gegeben, um die eitle Neugierde der Menschen zu befriedigen, sondern um solcher Zwecke willen, die Gottes würdig sind. Diese können sein: Gott will, daß wir uns auf gewisse Ereignisse vorbereiten, oder daß wir, zuvor gewarnt, uns vor der angekündigten Katastrophe retten können. Im einen wie im anderen Fall genügt es, daß uns das Ereignis in seinen allgemeinen Zügen bekannt ist, ganz besonders dessen Vorzeichen. Es ist keineswegs nötig, daß uns alle Einzelheiten bekannt sind. Dies zeigt auch, daß Gott nicht weniger seine Herrschaft über die moralische Welt ausübt als über die physische, eine Herrschaft, kraft deren nichts geschieht, weder im Kleinen noch im Großen, was nicht von Gott vorhergesehen, disponiert und gewollt ist: ‚Dies alles mußte geschehen, auf daß die Schrift erfüllt werde.‘“
Das Weinen des Erlösers, das Weinen Unserer Lieben Frau
Wagen wir auf dem Fundament dieser Einsichten einen ersten Blick auf die Große Botschaft von La Salette. Ohne Zweifel ist diese Botschaft, wie wir schon kurz angesprochen haben, endzeitlich, d.h. sie thematisiert die letzten Zeiten unserer Geschichte, die Zeit, die dem Weltende vorangeht und im eigentlichen Sinne „Endzeit“ genannt wird, „apokalyptische Zeit“. Schon der von der Gottesmutter gewählte Rahmen und die auffällige Art ihrer Erscheinung sind ein bedeutsamer Hinweis.
In dem Editorial zum Buch von Johannes Maria Höcht „Die Große Botschaft von La Salette“ leitet Arnold Guillet mit folgendem ergreifenden Gedanken ins Thema des Buches ein: „In La Salette hat Maria die letzte Waffe einer Frau und Mutter eingesetzt, ihre Tränen: sie weint, wie einst ihr Sohn geweint hat beim Anblick von Jerusalem. Ich kenne kein Ereignis der Kirchengeschichte, das mich innerlich mehr berührt als dieses historische Ereignis von La Salette. Maria, die Königin des Himmels, kommt ins abgelegenste Tal der Hochalpen, sie setzt sich nieder und weint, und sie beauftragt zwei Hirtenkinder, ihrem Volk zu sagen, warum sie weint. Sie weint, weil sie zusehen muß, wie die Welt die Liebe ihres Sohnes verschmäht. Sie sieht aber auch, wohin der Massenabfall führt, nämlich in die ewige Verdammnis der Hölle. Die Liebe zu ihren Kindern ist so groß und das Geheimnis der Bosheit ist so schrecklich, daß ihr die Tränen kommen, daß sie einen letzten, erschütternden Aufruf an ihre Kinder richtet, zurückzukehren und Buße zu tun, weil sie nicht mehr in der Lage ist, den strafenden Arm ihres Sohnes zurückzuhalten. Jesus hat nicht ohne Grund geweint, denn er sah den Abfall seines Volkes, das er sammeln wollte, wie eine Henne ihre Küklein sammelt («Ihr aber habt nicht gewollt»). Jesus sah im Geiste die Zerstörung Jerusalems voraus, die eine Generation später, im Jahre 70 durch die Römer erfolgen sollte… Das Strafgericht, das damals über Jerusalem hereinbrach, war das schrecklichste in der Geschichte Israels. Auf dem Ölberg, im Anblick der heiligen Stadt, war es Jesus, der geweint hat; hier, im Hochtal der französischen Alpen, ist es Maria, die weint. Das Strafgericht, das auf die Tränen Jesu folgte, war schrecklich; das Strafgericht, das auf die Tränen seiner Mutter folgen wird, wird viel schrecklicher sein. «Beim ersten Hieb seines zornblitzenden Schwertes werden die Berge und die Natur vor Entsetzen erbeben… Die Natur verlangt nach Rache für die Menschen und sie zittert vor Angst in Erwartung dessen, was über die von Verbrechen bedeckte Erde hereinbrechen wird.» Das sind Worte von apokalyptischer Wucht; so kann nur eine reden, die Macht hat“ (Johannes Maria Höcht, Die Große Botschaft von La Salette, Christiana-Verlag Stein am Rhein, 1983, S. 7f).
Wie bei den meisten Kommentaren bleibt es sodann bei der Andeutung der apokalyptischen Macht der Worte derjenigen, die auf dem Berg von La Salette weint. Schon der so offensichtliche Zusammenhang mit dem Weinen Christi über Jerusalem wird nicht wirklich ausgedeutet. Denn über wen weint denn der göttliche Erlöser angesichts dieser Stadt, dieser Häuser, dieses Tempels? Was erschüttert das göttliche Erlöserherz so sehr, daß dem Heiland der Welt die Tränen kamen? Er weint über das auserwählte Volk des Alten Bundes, das Ihn, den Sohn Gottes nicht erkannt hat, ja Seine Kreuzigung fordern wird und darum nicht mehr weiß, was ihm zum Frieden dient: „Als er näher kam und die Stadt erblickte, weinte er über sie und sagte: ‚Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da deine Feinde einen Wall gegen dich aufwerfen, dich ringsum einschließen und dich von allen Seiten bedrängen werden. Sie werden dich und deine Kinder, die in dir sind, zu Boden schmettern und keinen Stein in dir auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast‘“ (Lk. 19, 41-44).
Das Volk des Alten Bundes versagt im alles entscheidenden Augenblick, weshalb der hl. Paulus feststellt: „Was Israel anstrebte, hat es nicht erreicht. Nur die Auserwählten haben es erreicht. Die übrigen aber wurden verstockt. Wie geschrieben ist: ‚Gott gab ihnen einen Geist der Betäubung, Augen, um nicht zu sehen, Ohren, um nicht zu hören, bis auf den heutigen Tag‘“ (Röm. 11,7f). Es geht also hier nicht um die Einzelnen, nicht um diesen oder jenen aus dem Volk Israel, es geht darum, daß die ganze Führung Israels versagt und einen Großteil des Volkes mit ins Verderben zieht, was im Untergang Jerusalems seinen sichtbaren Ausdruck findet. Jesus weint über dieses furchtbare Versagen, das zugleich eine furchtbare Schuld bedeutet und das Volk Israel schließlich über die ganze Welt zerstreut. Wir wissen nicht, was für ein Segen es gewesen wäre, wenn ganz Israel den gottgesandten Messias anerkannt hätte. Der hl. Paulus deutet es uns nur ein klein wenig an, wenn er zu bedenken gibt: „Wenn aber schon ihr Fehltritt Reichtum für die Welt bedeutet und ihr Versagen Reichtum für die Heiden, wieviel mehr dann ihre Vollzahl!“ (Röm. 11,12). Das ganze Ausmaß des Dramas der Verwerfung Israels kann nur das göttliche Erlöserherz ermessen. Wie unermeßlich traurig stimmt es dieses göttliche Herz Jesu, feststellen zu müssen: „Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.“
In La Salette weint Maria. Sie steht dabei nicht auf dem Ölberg, sondern hoch oben in den Alpen, um auf Frankreich und ganz Europa zu schauen, also das ehemals christliche Abendland, die Wiege der römisch-katholischen Kirche. Über wenn aber weint Maria? Die Parallele zum Weinen Jesu am Ölberg ist eigentlich unübersehbar. Aber stimmt es, was Arnold Giullet behauptet: „Sie weint, weil sie zusehen muß, wie die Welt die Liebe ihres Sohnes verschmäht. Sie sieht aber auch, wohin der Massenabfall führt, nämlich in die ewige Verdammnis der Hölle“? Daß die Welt die Liebe ihres Sohnes verschmäht, das ist nun wahrlich nichts Ungewöhnliches und Auffallendes. Unser göttlicher Lehrmeister betont es mehrmals: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und wehklagen, aber die Welt wird sich freuen…“ (Joh. 16,20). Oder auch: „Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt. Ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, daß du mich gesandt hast“ (Joh. 17,25). Und gleich zu Beginn des Johannesevangeliums: „Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden und die Welt hat ihn nicht erkannt“ (Joh. 1,10).
Natürlich weint Maria nicht deswegen, weil „die Welt“ ihren Sohn nicht mehr liebt, sondern sie weint, weil das auserwählte Volk des Neuen Bundes, die Katholiken nämlich, ihren Sohn nicht mehr lieben, sondern Ihn durch ihre Untreue und Gottlosigkeit immer mehr beleidigen. So wie die Israeliten, das Volk des Alten Bundes, immer mehr in die Verstockung geraten sind und schließlich von ihrer gottgegebenen Sendung abfielen, so ist es am Ende der Zeiten wieder, aber diesmal mit dem Volk des Neuen Bundes. Nicht die Welt, die den Vater gar nicht kennt, sondern die Katholiken fallen vom Glauben ab. Oder noch etwas genauer: Die Hierarchie reißt das ganze Volk mit in den Abgrund des Irrglaubens! Im Alten Bund waren es die Pharisäer und Sadduzäer, die Hohenpriester mit dem Synedrium, und im Neuen Bund die „Bischöfe“ und der „Papst“.
Darum weint auf dem Ölberg der göttliche Erlöser über Jerusalem und Seine Mutter weint auf dem Berg von La Salette über das neue Jerusalem, nämlich die Kirche. Erklärt doch der hl. Paulus im Galaterbrief: „Hagar bedeutet nämlich den Berg Sinai in Arabien, der dem jetzigen Jerusalem gleicht, das mit seinen Kindern in Knechtschaft lebt. Die Freie aber bedeutet das himmlische Jerusalem, und das ist unsere Mutter!“ (Gal 4,25f). Nun ist aber die streitende Kirche in dieser Weltzeit noch vielerlei Prüfungen ausgesetzt und die Katholiken müssen sich in den vielen Versuchungen bewähren. Diese Versuchungen nehmen in der Endzeit zu, wie uns die Geheime Offenbarung des hl. Apostels Johannes eindringlich zeigt.
Das Vorbild: Der Untergang Jerusalems
Es wird wieder so sein wie zur Zeit des Untergangs Jerusalems, als alle ungläubigen Juden sich in der Stadt verschanzt haben, weil sie sich einbildeten, darin sicher zu sein, wohingegen sie darin alle auf furchtbarste Weise umkommen sollten. Haben doch die Römer die Stadt zunächst eingeschlossen, dann ausgehungert und schließlich erobert, niedergebrannt und endlich geschleift, d.h. bis auf die Grundmauern niedergerissen. Die damals lebenden Judenchristen haben die Stadt gemäß der Voraussage unseres Herrn Jesus Christus verlassen und sind in die Berge geflohen. Gehen wir auf dieses Vorbild der Geschehen am Ende der Weltzeit etwas ausführlicher ein, damit wir die heutige Wirklichkeit – sind wir ja inmitten dieser Endzeit – besser deuten können.
Es war im Jahre 66 n. Chr., als der römische Prokurator Gessius Florus 17 Talente aus dem Tempelschatz forderte. Die Juden weigerten sich und eroberten die Burg Antonia, wobei sie die Besatzung niedermachten. Als sie zudem das tägliche Opfer für den Kaiser im Tempel einstellten, kam das einer Kriegserklärung gleich. In diesem Krieg verzeichneten die Juden zunächst einige Erfolge, aber die Weltmacht Rom konnte es natürlich nicht dabei bewenden lassen. Kaiser Nero ernannte den Feldherrn Titus Flavius Vespasianus zum Feldherrn und sandte ihn mit drei Legionen und 50 000 Mann Hilfstruppen ins Heilige Land. In kürzester Zeit war Galiläa erobert, das Land verwüstet, die Bevölkerung niedergemacht oder als Kriegsgefangene und Sklaven verschleppt worden. Durch den Selbstmord Neros kam jedoch der Vorstoß zum Stilltand. Nachdem Vespasian von den Truppen im Osten als Kaiser ausgerufen wurde, segelte er nach Rom zurück und übergab seinem Sohn Titus den Oberbefehl.
Durch dieses politisch bedingte Zögern der römischen Truppen steigerte sich das Vertrauen der Juden in die Uneinnehmbarkeit Jerusalems ins Grenzenlose. Man erinnert sich unwillkürlich an die Zeit des Propheten Jeremias, der vom Herrn den Auftrag erhält: „Stelle dich an das Tor des Tempels des Herrn und verkünde dort dieses Wort: Hört das Wort des Herrn, ihr Judäer alle, die ihr durch diese Tore kommt, um den Herrn anzubeten! So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: ‚Bessert euren Wandel und euer Tun, so will ich euch wohnen lassen an dieser Stätte! Traut nicht dem Lügenwort: Der Tempel des Herrn! Der Tempel des Herrn! Der Tempel des Herrn ist dies!‘“ (Jer. 7,2-4).
In ihrer Verblendung verschanzen sich die Juden in der Stadt und meinen darin den Römern Widerstand leisten zu können. Titus begann im Frühjahr des Jahres 70 die Belagerung der Stadt mit den üblichen Formalitäten: Die Römer forderten die Stadt zur Übergabe auf, was die Juden natürlich stolz und voller Hohn ablehnten. Schon nach zwei Wochen gelang es den Römern eine Bresche in die dritte Stadtmauer zu schlagen und zur zweiten vorzurücken. Nach weiteren fünf Tagen war auch die zweite Stadtmauer überwunden, die Römer standen also vor der letzten. Als Titus davon hörte, daß die Stadt durch geheime Zugänge und unterirdische Gänge vom Land her versorgt wurde, ließ er in der Rekordzeit von drei Tagen einen 8,2 km langen Wall aufwerfen, der die Stadt vollkommen vom Umland abschnitt. Jeden Flüchtling, der ergriffen wurde, ließ er kreuzigen. Manchmal waren es 500 am Tag. Die Stadt war allmählich ausgehungert und niemand hatte mehr die Kraft und Zeit, die Toten zu begraben. Daher wurden sie einfach über die Stadtmauer geworfen, wo sie sich zu wahren Leichenbergen auftürmten.
Von den letzten Tagen des Kampfes um Jerusalem besitzen wir einen Augenzeugenbericht. Josephus Flavius berichtet im 6. Buch des „Jüdischen Krieges“ darüber:
„Unterdessen hatten die Soldaten bereits Feuer an die Tore gelegt, und das überall schmelzende Silber eröffnete den Flammen den Zugang zu dem hölzernen Gebälk, von wo sie prasselnd hervorbrachen und die Hallen ergriffen. Als aber die Juden ringsum den Brand auflodern sahen, da entsank ihnen mit der Leibeskraft auch der Mut; vor lauter Schrecken getraute sich niemand, Widerstand zu leisten, sondern wie gelähmt standen sie da und sahen zu. So niederschlagend übrigens der Brand auf sie einwirkte, so dachten sie doch nicht im entferntesten daran, ihren Sinn zu ändern; vielmehr zeigten sie sich nur um so erbitterter gegen die Römer. Den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch wütete das Feuer; denn die Römer konnten die Hallen nur einzeln und nicht alle zugleich in Brand setzen.
Tags darauf beorderte Titus einen Teil des Heeres zum Löschen und ließ zugleich bei den Toren einen regelrechten Weg anlegen, um den Legionen den Aufstieg zu erleichtern. Dann beschied er die sechs vornehmsten Offiziere zu sich ... und hielt mit ihnen allen Kriegsrat wegen des Tempels. Die einen meinten, man solle dem Kriegsrecht freien Lauf lassen; denn solange der Tempel, dieser Sammelpunkt aller Juden, noch stehe, würden sie niemals aufhören, an Empörung zu denken. Andere äußerten ihre Ansicht dahin, daß man, wenn die Juden den Tempel räumten und niemand mehr zu seiner Verteidigung das Schwert ziehe, ihn erhalten, wenn sie dagegen bei ihrem Widerstand beharrten, ihn verbrennen solle; denn dann sei er eben eine Festung und kein Tempel. Auch würden im letzteren Falle nicht die Römer sich einer Gottlosigkeit schuldig machen, sondern lediglich die, welche sie dazu genötigt hätten. Titus aber hielt dafür, man solle, selbst wenn die Juden vom Tempel herab sich wehren würden, seine Rache nicht an leblosen Dingen statt an Menschen auslassen und unter keinen Umständen ein so herrliches Bauwerk den Flammen preisgeben... Darauf entließ der Cäsar [Titus] die Versammlung und befahl den Offizieren, ihren Truppen Ruhe zu gönnen, damit sie in den kommenden Gefechten desto kräftiger losschlagen könnten; nur aus den Kohorten las er eine bestimmte Anzahl Leute aus, die den Weg durch die Trümmer bahnen und das Feuer löschen sollten. ...
Am folgenden Tage kam es zu einem Handgemenge zwischen der Besatzung des Tempels und denjenigen Mannschaften, die das Feuer in den Gebäuden des inneren Vorhofes löschen sollten. Als nun die letzteren den zurückweichenden Juden nachsetzten und bis zum Tempelgebäude vorgedrungen waren, ergriff einer der Soldaten, ohne einen Befehl dazu abzuwarten oder die schweren Folgen seiner Tat zu bedenken, wie auf höheren Antrieb einen Feuerbrand und schleuderte ihn, von einem Kameraden emporgehoben, durch das goldene Fenster, wo man von Norden her in die den Tempel umgebenden Gemächer eintrat, ins Innere. Sowie die Flammen aufloderten, erhoben die Juden, entsprechend der Größe des Unglücks, ein gewaltiges Geschrei und rannten, ohne der Gefahr zu achten oder ihre Kräfte zu schonen, von allen Seiten herbei, um dem Feuer zu wehren: denn es drohte unterzugehen, was sie bisher vor dem Äußersten zu bewahren gesucht hatten.
Ein Eilbote meldete es dem Titus. Schnell sprang dieser von seinem Lager im Zelt, wo er eben vom Kampfe ausruhte, auf und lief, wie er war, zum Tempel hin, um dem Brande Einhalt zu tun - ihm nach die sämtlichen Offiziere und die durch den Wirrwarr erschreckten Legionen. Wie bei der ungeordneten Bewegung einer solchen Menschenmenge leicht erklärlich, entstand nun ein fürchterliches, mit betäubendem Lärm untermischtes Getümmel. Der Cäsar wollte durch Schreien und Handbewegungen den Kämpfenden zu verstehen geben, man solle löschen; sie aber hörten sein Rufen nicht, da es von dem noch lauteren Geschrei der anderen übertönt wurde, und die Zeichen, die er mit der Hand gab, beachteten sie nicht, weil sie teils von der Aufregung des Kampfes, teils von ihrer Erbitterung völlig eingenommen waren. Keine gütlichen Vorstellungen, keine Drohungen vermochten den stürmischen Andrang der Legionen aufzuhalten: die Wut allein führte das Kommando. An den Eingängen kam es zu einem so schrecklichen Gedränge, daß viele von ihren Kameraden zertreten wurden; viele auch gerieten auf die noch glühenden und rauchenden Trümmer der Hallen und teilten so das Schicksal der Besiegten. In die Nähe des Tempels gekommen, stellten sie sich, als hörten sie nicht einmal die Befehle des Feldherrn, und schrien ihren Vordermännern zu, sie sollten Feuer in den Tempel werfen. Die Empörer hatten übrigens die Hoffnung, den Brand noch eindämmen zu können, völlig aufgegeben; denn allenthalben wurden sie niedergemetzelt oder in die Flucht getrieben. Auch ganze Haufen von Bürgern, lauter schwache, wehrlose Opfer, fielen, wo der Feind sie traf, dem Schwert zum Opfer. Besonders um den Altar her türmten sich die Toten in Massen auf: stromweise floß das Blut an seinen Stufen, und dumpf rollten die Leichen derer, die oben auf ihm ermordet wurden, an seinen Wänden herunter.
Als nun der Cäsar dem Ungestüm seiner wie rasend gewordenen Soldaten nicht mehr zu wehren vermochte und die Flammen immer weiter um sich griffen, betrat er mit den Offizieren das Allerheiligste und beschaute, was darin war. Alles fand er weit erhaben über den Ruf, den es bei den Fremden genoß, und ganz entsprechend der fast prahlerisch hohen Meinung, welche die Einheimischen davon hatten. Da übrigens das Feuer bis in die innersten Räume noch nicht vorgedrungen war, sondern nur erst die an den Tempel anstoßenden Gemächer verzehrte, glaubte er, und zwar mit Recht, das Werk selbst könne noch gerettet werden. Er sprang also hervor und suchte nicht nur persönlich die Soldaten zum Löschen anzuhalten, sondern befahl auch dem seiner Leibwache angehörenden Centurio Liberalis, die Widerspenstigen durch Stockschläge zu zwingen. Aber Erbitterung, Judenhaß und die allgemeine Kampfwut erwiesen sich stärker als die Rücksicht auf den Cäsar und die Furcht vor seiner Strafgewalt. Die meisten freilich feuerte die Aussicht auf Raub an, da sie der festen Überzeugung waren, es müsse, weil sie außen alles von Gold gefertigt sahen, das Innere erst recht von Schätzen aller Art strotzen. Während nun der Cäsar heraussprang, um die Soldaten zurückzuhalten, hatte schon einer von denen, die in das Innere eingedrungen waren, im Dunkel Feuer unter die Türangeln gelegt, und da jetzt auch von innen plötzlich die Flamme hervorschoß, zogen sich die Offiziere mit dem Cäsar zurück, und niemand gab sich mehr die Mühe, die außen um das Heiligtum streitenden Soldaten von weiterer Brandlegung abzuhalten. Auf diese Weise ging der Tempel gegen den Willen des Titus in Flammen auf“ (Jüd. Krieg VI, 4,1-7).
So erfüllte sich die Prophezeiung unseres Herrn Jesus Christus über den Untergang Jerusalems, dieser Untergang Jerusalems, der IHM, wie gesagt, als Vorbild, als Typus für das Weltende dient, weil er von den vielen Menschen im eingeschlossenen Jerusalem sicherlich auch als solcher erlebt wurde.
Die Weherufe
Es sei noch ein Gedanke hinzugefügt, der unsere Erwägungen einen Schritt weiterführt. Unser göttlicher Heiland gab diese Prophezeiung in der letzten Woche Seines irdischen Lebens, also nach dem Palmsonntag und vor Seinem bitteren Leiden und Sterben. Am Palmsonntag bereiteten die Volksscharen dem göttlichen Heiland einem triumphalen Einzug und Empfang in Jerusalem. Mit Palmen in den Händen riefen sie in nicht abreißenden Sprechchören dem Herrn zu: „Gebenedeit sei der König, der im Namen des Herrn kommt; Friede im Himmel und Ruhm in der Höhe“ (Lk 19, 38). Das Volk war über die Maßen begeistert, weshalb Matthäus bemerkt: „Die ganze Stadt geriet in Erregung“ (Mt 21, 10). Der hl. Lukas ergänzt dazu: „Das ganze Volk war gespannt, ihn zu hören“ (Lk 19, 48). Als Jesus die Händler aus dem Tempel getrieben hatte, begann Er das Volk zu lehren. Da senden auch die Pharisäer und Sadduzäer ihre Leute zu Ihm, um Ihm in einer Rede zu fangen. Da ihnen dies jedoch nicht gelingt, durchschaut Er doch ihre hinterhältigen Gedanken und Pläne, hält unser Herr Jesus Christus Seine große Abrechnung mit seinen Gegnern. Mit äußerster Schärfe greift Er öffentlich die Hüter des Gesetzes an, wie uns der hl. Matthäus im 23. Kapitel berichtet:
„Wehe euch, Schriftgelehrte und heuchlerische Pharisäer, ihr verschließt das Himmelreich vor den Menschen. Denn ihr selbst geht nicht hinein, noch laßt ihr, die hineingehen wollen, eintreten.“
„Wehe über euch, Schriftgelehrte und heuchlerische Pharisäer, ihr bereist Meer und Land, um einen einzigen Überläufer zu machen, und wenn er es wird, macht ihr ihn zu einem Höllensohn, doppelt so schlimm wie ihr.“
„Wehe über euch, blinde Wegführer, die ihr sagt: Wenn einer beim Tempel schwört, so gilt es nicht, wer aber beim Gold des Tempels schwört, ist gebunden. Ihr Toren und Blinde! Was ist denn größer, das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt?“
„Wehe über euch, ihr Heuchler! Ihr bindet schwere und untragbare Lasten zusammen und legt sie den Menschen auf die Schultern. Ihr selbst aber wollt keinen Finger krumm machen.“
„Wehe über euch, heuchlerische Pharisäer, ihr reinigt das Äußere des Bechers und der Schüssel; aber das Innere strotzt von Raub und Schmutz.“
„Wehe über euch, ihr Prasser! Ihr verlebt die Häuser der Witwen und sagt dafür lange Gebete her.“
„Wehe über euch, ihr Wölfe in Schafspelzen! Wehe über euch, ihr blinden Führer des Volkes! Wer wird euch bewahren vor dem baldigen Gericht?“
Wenn man diese Worte hört und ernst nimmt, ergreift einen großes Erstaunen und auch eine gewisse Furcht. Wie konnten die damaligen Autoritäten nur so blind sein? Wie konnten sie so verkehrten Sinnes sein, daß sie schließlich sogar den Sohn Gottes ans Kreuz schlagen ließen? Das ist das „Geheimnis der Bosheit“, das schon am Werk ist. Menschen, die Gott und Seiner Gnade ausdrücklich, wissentlich und willentlich widerstehen. Diese Verblendung und Bosheit der Hüter des Gesetzes bleibt bis zum Untergang Jerusalems bestehen, bis „zum baldigen Gericht“! Die Juden rennen in ihr Verderben, weil sie in ihrer Verblendung meinen, selbst die Weltmacht Rom herausfordern und besiegen zu können. Man kann sicherlich zurecht sagen, daß diese „blinden Führer des Volkes“ die Hauptschuld an dieser Misere und deren Folgen hatten. Nur so erklären sich auch die überaus scharfen Worte unseres göttlichen Heilandes. Es ist Sein letzter Versuch, die verstockten Herzen zu treffen und zur Einsicht zu bewegen. Im Grunde aber wußte ER, daß Seine Worte nichts mehr erreichen werden, Jerusalem wird untergehen.
Schauen wir nun nochmals auf La Salette. Wir sahen, daß auch Maria über das neue Jerusalem geweint hat. Auch ihre Mahnworte wurden geringgeachtet, wie damals die Worte unseres göttlichen Herrn. Es ist doch auffallend, auch die weinende Gottesmutter richtet ebenfalls ihre Weherufe gegen die blinden Führer des Volkes des Neuen Bundes:
„Die Priester, Diener meines Sohnes, sind durch ihr schlechtes Leben, ihre Ehrfurchtslosigkeiten, ihre Pietätlosigkeit bei der Feier der heiligen Geheimnisse, durch ihre Liebe zum Gelde, zu Ehren und Vergnügungen Kloaken der Unreinigkeit geworden. Ja, die Priester fordern die Rache heraus, und die Rache schwebt über ihren Häuptern.“
„Die Häupter, die Führer des Gottesvolkes, haben das Gebet und die Buße vernachlässigt, und der Dämon hat ihren Verstand verdunkelt; sie sind irrende Sterne geworden, die der alte Teufel mit seinem Schweife nach sich zieht, um sie zu verderben.“
„Die Zahl der Priester und Ordensleute, die sich von der wahren Religion trennen, wird groß sein; unter diesen Personen werden sich selbst Bischöfe befinden.“
„Im Jahre 1864 wird Luzifer mit einer großen Menge von Teufeln aus der Hölle losgelassen. Sie werden den Glauben allmählich auslöschen, selbst in Menschen, die Gott geweiht sind. Sie werden sie in einer Weise blind machen, daß diese Menschen, falls sie nicht eine besondere Gnade empfangen, den Geist dieser bösen Engel annehmen werden. Viele Ordenshäuser werden den Glauben völlig verlieren und viele Seelen mit ins Verderben ziehen.“
„Es wird Kirchen geben, in denen man diesen bösen Geistern dient. Manche Personen werden von diesen bösen Geistern von einem Ort zum anderen versetzt, und sogar Priester, weil diese sich nicht vom guten Geiste leiten lassen, der ein Geist der Demut, der Liebe und des Eifers für die Ehre Gottes ist.“
„Zittert, Erde und ihr, die ihr Gelübde zum Dienste Jesu Christi abgelegt habt und die ihr innerlich euch selbst anbetet, zittert! Denn Gott geht daran, euch seinen Feinden zu überliefern, da die heiligen Orte in Verderbnis sind. Zahlreiche Klöster sind nicht mehr Häuser Gottes, sondern die Weiden des Asmodeus (d. h. des Teufels der Unkeuschheit. Anm. d. Übersetzers) und der Seinen.“
Diese Worte treffen ins Mark – und besonders diese Worte waren es, die die meisten Priester und Bischöfe nicht hören wollten. Aber immerhin Pius IX. hörte die Worte – und glaubte! Auch wenn damals der Zustand des Klerus noch nicht so hoffnungslos wie heute war, konnte die Hirtin von La Salette schon nicht mehr ihren Schmerz verbergen, den der Anblick des Klerus ihr verursachte. Am 10. Juli 1882 schreibt sie aus Castellamare:
„… Der Krieg, den der Klerus gegen das Geheimnis führt, erstaunt mich nicht, die Verfolgung gegen Christus und seine Kirche verwundern mich nicht mehr. Ich fürchte die Verfolger der Religion nicht, ich fürchte nicht die Gottlosen, die Freimaurer, noch die Atheisten etc. Was ich fürchte, ist der Mangel an Glaube beim größten Teil des französischen Klerus.
Wenn die ersten Apostel des Heilandes noch leben würden, sie hätten gekämpft, sie hätten gekämpft bis zum Blutvergießen, um die Sache ihres göttlichen Meisters zu unterstützen...
Das Geheimnis bietet nur die Beobachtung des Gesetzes Gottes an und findet nur kein Gefallen an der Mißachtung desselben Gesetzes, und es droht Züchtigung und Geißeln den Übertretern dieses heiligen Gesetzes.
Im übrigen wissen wir nicht, daß unser Herr verurteilt und gekreuzigt wurde durch die Priester? Waren es nicht die Priester, die die bittersten Vorwürfe von Seiten des Sohnes Gottes erhielten? Und heute noch sind die Priester die Ursache an all unserem Unglück, weil sie ihrer Berufung nicht treu sind.
Der französische Klerus ist (von wenigen Ausnahmen abgesehen) stolz, profitgierig, hochmütig und weitgehend unreligiös, er ist voll von Eitelkeit und Ehrgeiz; Gott wird ihn in seiner Barmherzigkeit demütigen und seinen Glauben auf die Probe stellen…
Die Pfarrer lassen alles laufen und sagen nichts. Sie wollen keine Martyrer für ihren Eifer werden… Beachten sie das erste Gebot, das uns befiehlt, Gott über alle Dinge zu lieben? Vor allem vor dem Geld…“
Diese Beschreibung der Zeitsituation ist sicherlich durch die Worte unserer weinenden himmlischen Mutter inspiriert. Es ist auffallend, auch Melanie weist auf die Zeit Jesu hin und erinnert daran: „Im übrigen wissen wir nicht, daß unser Herr verurteilt und gekreuzigt wurde durch die Priester? Waren es nicht die Priester, die die bittersten Vorwürfe von Seiten des Sohnes Gottes erhielten? Und heute noch sind die Priester die Ursache an all unserem Unglück, weil sie ihrer Berufung nicht treu sind.“
Wie sieht es erst heutzutage aus? Sind nach dem sog. Konzil nicht alle Dämme gebrochen und der gesamte Klerus in einen Strudel des Abfalls hineingezogen worden? Wie war es möglich, gleichsam über Nacht die ganze Struktur der Kirche Jesu Christi umzufunktionieren und eine daraus Menschenmachwerkskirche zu machen? Auch hierzu sei ein Brief der Hirtin von La Salette zitiert:
St. Barnabas, 2. Januar 1892
„… Die Kirche wird immer bestehen, Unser Herr hat es gesagt. Aber wie viele Verräter, wie viele Apostaten (Abgefallene), Bestochene und Sektierer sind unter den lehrenden Gliedern (Bischöfe und Priester) der Kirche, die den Charakter oder das Zeichen des Tieres mit den zehn Hörnern haben, von dem der hl. Johannes in seiner Vision auf Patmos spricht. Dieses Tier scheint einem Lamm ähnlich, das aus der Erde kommt, aber ist es nicht das Bild der untreuen (ungläubigen) Geistlichen? Ich glaube es fest. Glücklich alle, die in der Gnade mit Gott verharren, denn jene, die es erleben, werden traurige und schreckliche Dinge sehen. Wir sind noch nicht am Anfang vom Ende…“
Wie wir sehen, befinden wir uns plötzlich inmitten der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes – aber auch inmitten der heutigen Wirklichkeit: „Bestochene und Sektierer sind unter den lehrenden Gliedern (Bischöfe und Priester) der Kirche, die den Charakter oder das Zeichen des Tieres mit den zehn Hörnern haben, von dem der hl. Johannes in seiner Vision auf Patmos spricht.“ Wer nicht einsehen will, daß dies heutzutage nicht nur ein paar sind, sondern der allergrößte Teil des höheren Klerus, der ist schon verloren. Denn eines wissen wir inzwischen sicher: Auch die Weherufe der himmlischen Mutter haben nichts genützt und bewirkt, der Untergang des neuen Jerusalem schreitet unaufhaltsam voran, soweit dies Gott zulassen wird. Dabei läßt Gott viel mehr zu, als wir uns jemals haben träumen lassen, denn wir durchleben die Zeit der Verfinsterung der Kirche: „Die Kirche wird verfinstert“. Für diese Zeit aber ist uns die Große Botschaft von La Salette vom Himmel als Hilfe geschenkt worden.