Die Liebe zur ewigen Weisheit

Der hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort hat ein Buch über „Die Liebe zur ewigen Weisheit“ geschrieben. Er möchte den Leser darin anregen, sich „die Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, der menschgewordenen Weisheit“ anzueignen, damit wir infolgedessen die irdische Weisheit fliehen lernen und dafür die ewige Weisheit in allem suchen.

Die Weisheit der Welt ist nämlich feindlich gegen Gott. Sie „besteht in einer vollkommenen Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Gebräuchen der Welt. Sie ist ein beständiges Streben nach Größe und Ehre. Sie ist eine beständige und geheime Sucht nach Vergnügen und nach dem eigenen Vorteil, zwar nicht auf grobe, schreiende Art, wobei man sich anstoßerregende Verfehlungen zuschulden kommen ließe, sondern auf feine, trügerische, schlaue Weise. Sonst wäre dies nach dem Urteil der Welt nicht mehr Weisheit, sondern Liederlichkeit.“ Darum ist der Weltweise ein Mensch, „der, weil er sich nur vom Licht der Sinne und der natürlichen Vernunft leiten läßt, sich nur den Schein eines Christen und rechtschaffenden Menschen geben will, ohne sich indessen darum zu kümmern, Gott zu gefallen und durch Bußfertigkeit die Sünden zu tilgen, die er gegen die göttliche Majestät begangen hat“. Sein Sinnen geht allzeit aufs Irdische, denn er hängt sein Herz an seine Besitztümer und tut alles, um reich zu werden. Doch kümmert er sich nicht um sein Seelenheil und die übernatürlichen Heilsmittel, wie Beichte, hl. Kommunion, Gebet usw., außer nur hie und da auf oberflächliche Weise, um die Sache erledigt zu haben und um den guten Schein zu wahren.

Während die Weltweisheit vom erbsündlich geschwächten Menschen und vom Vater der Lüge stammt, stammt die ewige Weisheit von Gott und ist eine Gnade. Die ewige Weisheit „ist ein Hauch der Kraft Gottes und ein reiner Ausfluß der Klarheit des allmächtigen Gottes, darum kommt nichts Unreines zu ihr. Sie ist nämlich der Glanz des ewigen Lichtes und der makellose Spiegel der Herrlichkeit Gottes und das Bild seiner Güte.“ Sie sagt von sich selbst: „Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Alters her, ehedem die Erde geworden. Die Tiefen waren noch nicht, und ich war schon empfangen.“

Der hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort fragt nun: „Kann man lieben, was man nicht kennt? Kann man feurig lieben, was man nur unvollkommen kennt? Warum liebt man die ewige und menschgewordene Weisheit, den anbetungswürdigen Jesus, so wenig, wenn nicht deshalb, weil man ihn entweder gar nicht oder doch nur sehr wenig kennt?“ Unser Herr Jesus Christus, die menschgewordene Weisheit, ist die Offenbarung des Vaters, denn: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzigerzeugte, Gott, der im Schoß des Vaters ist, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Der hl. Ludwig Maria klagt: „Beinahe niemand vertieft sich mit dem Apostel in die alles überragende Wissenschaft Jesu, und doch ist sie 1. die edelste, 2. die süßeste, 3. die nützlichste und notwendigste aller Wissenschaften im Himmel und auf Erden.“

Die höchsten Güter sind meist nur schwierig zu erreichen. Das gilt schon besonders für geistige „Güter“, die ihrem Wesen nach für unsere Sinne unzugänglich sind, aber noch mehr für alles Übernatürliche. Eine der größten Gnaden, die Gott einem Menschen schenken kann, ist die Weisheit. Denn die Weisheit hat eine Unzahl anderer Güter im Gefolge. Sagt sie doch von sich selbst: „Ich bin die Mutter der schönen Liebe und der Furcht, der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung. Bei mir ist alle Gnade des Wandels und der Wahrheit, bei mir alle Hoffnung des Lebens und der Tugend“ (Jesus Sirach 24,24f). Im Katechismus des hl. Petrus Canisius wird im ersten Teil von der Weisheit gehandelt. Auf die Frage: „Wie läßt sich die christliche Lehre zusammenfassen?“, gibt der Katechismus die Antwort: „Dass ein Christ das kennt und beachtet, was sich sowohl auf die Weisheit als auch auf die Gerechtigkeit bezieht. Die Weisheit, wie auch AUGUSTINUS gezeigt hat, beschäftigt sich mit den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (1 Kor 13,13), wodurch der größte und gütigste Gott in diesem sterblichen Leben rein verehrt wird. Die Gerechtigkeit wird durch zwei Teile vollendet: durch das Meiden des Bösen und das Tun des Guten, wie der königliche Prophet sagt: Meide das Böse und tu das Gute. (Ps. 37,27) Aus diesen Quellen, nämlich der Weisheit und der Gerechtigkeit, wird leicht alles Übrige geschöpft, das mit dem christlichen Unterricht und der Disziplin übereinstimmt.“

Aus der Erkenntnis der Weisheit und dem Üben der Gerechtigkeit „wird leicht alles Übrige geschöpft, das mit dem christlichen Unterricht und der Disziplin übereinstimmt“. Wie notwendig ist es aber gerade heute, sich die Weisheit anzueignen? Ist der Katholik doch viel mehr als in den vergangenen Jahrhunderten auf sich selbst gestellt, leben wir doch in einer papstlosen Zeit. Die Weisheit hilft uns dazu, den Überblick nicht zu verlieren, d.h. das Wesentliche vom Nebensächlichen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und damit das Ganze des hl. Glaubens festzuhalten. Um also zu dieser heilsnotwendigen Weisheit zu gelangen, an wen sollten wir uns wenden, wenn nicht an den Sitz der Weisheit, die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria? Sagt doch der heilige Thomas von Villanova: „Wegen ihrer ganz besonderen und erhabenen Weisheit ließ ihr der himmlische Meister, als er zum Vater zurückkehrte, seine Schule und Lehrkanzel zurück, nicht zwar, damit sie die Schäflein weide wie Petrus, sondern damit sie seine Jünger mit der himmlischen Weisheit unterrichte, die sie von ihm gelernt hatte, denn weil sie einen so erhabenen Verstand hatte und so lange in der Schule Jesu Christi gewesen war, war sie auch weiser und gelehrter als alle Jünger.“ Wenn auch wir uns diese Weisheit aneignen wollen, müssen wir sie also kennenlernen und durch Maria in die Schule Jesu Christi gehen. Lassen wir uns darum vom hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort einmal die drei Eigenschaften dieser himmlischen Wissenschaft etwas näher erklären (Alle Texte sind genommen aus „Die Liebe zur Ewigen Weisheit“ vom Hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort, Linz-Verlag, Feldkirch). Nach ihm ist die Weisheit:

„1. Die edelste Wissenschaft
Sie ist erstens die edelste aller Wissenschaften, denn ihr Gegenstand ist das Edelste und Erhabenste, was es gibt: die unerschaffene und menschgewordene Weisheit, die in sich die ganze Fülle der Gottheit und Menschheit, ja alles einschließt, was es im Himmel und auf Erden Großes gibt, alle sichtbaren und unsichtbaren, geistigen und körperlichen Geschöpfe.
Der hl. Johannes Chrysostomus sagt, Jesus Christus sei ein Inbegriff der Werke Gottes, ein Sammelbild allerVollkommenheiten, die sich in Gott und in der gesamten Schöpfung finden. Jesus Christus, die Ewige Weisheit, ist alles, was du wünschen kannst und sollst. Verlange nach ihm, suche ihn, denn er ist jene einzige und kostbare Perle, für deren Erwerb du gerne bereit sein sollst, alles zu verkaufen, was du hast (vgl. Mt. 13,45f). ‚Dessen rühme sich, wer sich rühmt, daß er Einsicht hat und mich kennt‘ (Jer. 9,24). Der Weise soll sich seiner Weisheit nicht rühmen, noch der Starke seiner Stärke, noch der Reiche seiner Reichtümer, sondern wer sich rühmen will, rühme sich, daß er mich kennt, und nicht, daß er etwas anderes kennt.“

Die göttliche Weisheit, die verborgen war im Schoß des Vaters, ist Mensch geworden und damit für uns in wunderbarer Weise sichtbar und erkennbar. In Jesus Christus ist der ganze Reichtum Gottes eingeschlossen. Der hl. Petrus wünscht darum: „Gnade und Friede möge euch zuteilwerden in der Fülle der Erkenntnis Gottes und unseres Herrn Jesus. Seine göttliche Macht hat uns alles für das Leben und die Frömmigkeit Notwendige geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Kraft“ (2 Petr 1,2f). Ein neues, aber unsichtbares Leben der Gnade ist uns in Jesus Christus geschenkt worden. Wir müssen lernen, in diesem neuen Leben zu wandeln, wie der hl. Paulus an die Kolosser schreibt: „Seitdem wir davon (nämlich von der Liebe der Kolosser zu ihm, dem Völkerapostel) Kunde haben, flehen wir unaufhörlich für euch und beten, ihr möchtet mit der Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Einsicht erfüllt werden, damit ihr des Herrn würdig wandelt, ganz so, wie es ihm wohlgefällt: fruchtbar an allen guten Werken, wachsend durch die Erkenntnis Gottes, gestärkt mit großer Kraft dank seiner machtvollen Herrlichkeit zu aller Geduld und Langmut, mit Freude dem Vater dankend, der euch befähigt hat, am Erbe der Heiligen teilzunehmen im Licht“ (Kol. 1,9-12). Je mehr der Christ von aller geistlichen Weisheit und Einsicht erfüllt ist, desto geradliniger ist sein Lebenswandel. Das wunderbare, über alles heilige Beispiel des Lebens Jesu ist ein ständiger Ansporn, weiter aufzusteigen auf der Stufenleiter der Heiligkeit. „Denn der Gott, der sprach: ‚Aus der Finsternis erstrahle Licht‘, der ist aufgeleuchtet in unseren Herzen, so daß für uns licht wurde die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Antlitz Christi“ (2. Kor 4,6).

„2. Die süßeste Wissenschaft
Es gibt nichts Süßeres als die Kenntnis der göttlichen Weisheit.
Glücklich jene, die auf sie hören.
Glücklicher jene, die nach ihr verlangen und sie suchen!
Aber glückselig jene, die ihre Wege bewahren, und in ihrem Herzen die unendliche Süßigkeit verkosten, welche die Freude des Ewigen Vaters und der Ruhm der Engel ist! Wüßte man, welche Wonne eine Seele verkostet, die die Schönheit der Weisheit kennt und die Milch aus dieser Brust des Vaters trinkt, mamilla patris, so würde man mit der Braut im Hohen Liede ausrufen: ‚Meliora sunt ubera tua vino‘ (‚Lieblicher als Wein sind deine Brüste‘, Hohelied 1,1). Die Milch deiner Brust ist süßer als der vorzüglichste Wein und als alle Süßigkeiten der Geschöpfe, besonders dann,wenn die Ewige Weisheit der sie betrachtenden Seele die Worte zu verstehen gibt: gustate et videte, verkostet und sehet‘ (Ps. 33,9); comedite et bibite, esset und trinket (Hohel. 5,1); et inebriamini, und berauschet euch (ebd.) an meinen Süßigkeiten; denn mein Umgang hat nichts Bitteres und meine Gesellschaft nichts Widriges an sich, sondern man findet bei mir nur Befriedigung und Freude (Weish. 8,16).“

Dem irdischen Menschen, dem Weltmenschen ist die übernatürliche Freude fremd. Für ihn ist Freude gleich Vergnügen, Unterhaltung, Spaß. Man könnte auch sagen, sein geistiger Geschmacksinn ist verdorben, darum kann er die wahre Süßigkeit des Lebens, die geistig, ja sogar übernatürlich ist, nicht mehr verkosten. Nur das beharrliche Suchen nach der wahren Weisheit läßt uns begreifen: „Es gibt nichts Süßeres als die Kenntnis der göttlichen Weisheit.“ Im Vergleich zu dieser schmeckt alle irdische Weisheit bitter wie Galle. Doch nur durch ein brennendes Verlangen, beharrliches Gebet und vollkommene Abtötung gelangt man dazu, die übernatürliche Süßigkeit der göttlichen Weisheit zu verkosten. Die wenigsten aber sind bereit, diese Mittel anzuwenden, weshalb auch die wahren Freunde Jesu Christi so selten sind. Aber was für ein großer Verlust ist es, Jesus Christus nicht zu kennen? Ist doch die menschgewordene Weisheit:

„3. Die nützlichste und notwendigste Wissenschaft
Die Kenntnis der Ewigen Weisheit ist nicht nur die edelste und süßeste, sondern auch die nützlichste und notwendigste, weil das ewige Leben darin besteht, Gott und seinen Sohn Jesus Christus zu kennen (vgl. Joh. 17,3). ‚Dich kennen‘, ruft Salomon aus, indem er von der Weisheit spricht (Weih. 15,3), ‚ist vollkommene Gerechtigkeit; deine Gerechtigkeit und Macht begreifen ist die Wurzel der Unsterblichkeit.‘
Wollen wir also in der Tat das ewige Leben erlangen, so laßt uns die Kenntnis der Ewigen Weisheit besitzen.
Wollen wir in dieser Welt die vollkommene Heiligkeit erreichen, so laßt uns die Weisheit erkennen.
Wollen wir in unserem Herzen den Keim der Unsterblichkeit tragen, so laßt uns in unserem Geiste die Erkenntnis der Weisheit haben.
Jesus Christus, die unerschaffene Weisheit, kennen, heißt genug wissen; alles wissen und ihn nicht kennen, heißt nichts wissen.
Was nützt es dem Bogenschützen, rechts oder links neben das Ziel zu schießen, wenn er das Ziel selbst nicht trifft?
Was nützen uns alle anderen zum Heile notwendigen Wissenschaften, wenn wir nicht die Wissenschaft Jesu Christi besitzen, welche die allein notwendige ist und das Zentrum, auf das alle anderen hinzielen müssen?
Obwohl der große Apostel Paulus so viel wußte und in den menschlichen Wissenschaften so sehr bewandert war, sagte er doch, er glaube nichts anderes zu kennen, als Jesus Christus, den Gekreuzigten (1. Kor. 2,4). Sprechen wir daher mit ihm: Ich verachte alle Wissenschaften, deren ich mich bisher gerühmt, im Vergleich zur Wissenschaft meines Herrn Jesus Christus. (vgl. Phil. 3,7f) Ich sehe jetzt und erfahre, daß diese Wissenschaft so ausgezeichnet, so vortrefflich, so vorteilhaft und so bewunderungswürdig ist, daß ich alle anderen Kenntnisse für nichts erachte, die mir vorher so sehr gefielen. Jetzt erscheinen sie mir so leer und lächerlich, daß es Zeitverlust ist, sich damit abzugeben. ‚Dies sage ich, damit euch niemand täusche mit hochfahrender Rede‘ (Kol. 2,4). ‚Sehet zu, daß euch niemand verführe durch die Weltweisheit und eitlen Trug.‘ (Kol. 2,8). Ich sage euch, Jesus Christus ist der Abgrund aller Wissenschaften, damit ihr euch nicht durch schöne und hochfahrende Worte der Redner täuschen lasset, noch durch die trügerischen Spitzfindigkeiten der Weltweisen. „Wachset in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus‘ (2 Petr. 3,18).“

Das übernatürliche Erkenntnislicht unseres hl. Glaubens erhebt uns in die Welt des dreifaltigen Gottes. Für jeden Katholiken ist diese Welt eine erfahrbare Wirklichkeit. Besonders mit Hilfe der hl. Sakramente, des hl. Meßopfers, der hl. Kommunion und der hl. Beichte wird er im Himmel mehr und mehr beheimatet, sofern er der Gnade treu bleibt. Je vertrauter einem der Himmel wird, desto vergänglicher und nichtiger erscheint die Erde, wie es im Buch Kohelet so eindringlich gelehrt wird. „Erwägungen Kohelets, des Sohnes Davids, Königs zu Jerusalem. ‚Eitelkeit über Eitelkeit!‘ – sagte Kohelet, ‚Eitelkeit über Eitelkeit… Alles ist Eitelkeit!‘“ (Kohelet 1,1f). Der Schreiber dieser Zeilen bekennt etwas später weiter: „Ich habe jegliches Tun gesehen, das sich abspielt unter der Sonne – doch siehe: Alles ist eitel und Haschen nach Wind! Was krumm ist, kann man nicht strecken, was fehlt, läßt sich nicht zählen. Da sprach ich also zu meinem Herzen: Siehe, da habe ich mir nun größere und höhere Weisheit erworben als alle, die vor mir geboten über Jerusalem. Viel des Wissens und viel der Weisheit lernte mein Geist. Doch, da ich nun meinen Sinn darauf lenkte, zu erkennen, was es um Weisheit (dieser Welt) und Wissen, um Torheit und Tollheit sei, kam ich zur Einsicht: Auch das ist Haschen nach Wind. Denn wo viel (Welt-)Weisheit, da ist viel Kummer; mehrt sich das Wissen, mehrt sich auch das Leid“ (Kohelet 1, 14-18).

Oder mit den Worten des Völkerapostels ausgedrückt: „Ja, in der Tat, ich erachte alles als Verlust angesichts der alles übertreffenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich das alles aufgegeben habe und es geradezu für Kehricht halte, damit ich Christus gewinne“ (Phil 3,8).

Wer von der alles überragenden Schönheit der göttlichen Weisheit einmal berührt wurde, der wird von ihr nicht mehr loskommen. Er wird vielmehr alles verkaufen, um die eine Perle zu erwerben. Nach dem hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort ist es aber notwendig, die entsprechenden Mittel anzuwenden, wenn man bei der Suche nach der Weisheit auch Erfolg haben möchte. Die Mittel sind: 1. Ein brennendes Verlangen; 2. Beharrliches Gebet; 3. Vollkommene Abtötung in allem.

Nachdem er diese drei Mittel angeführt hat, erwähnt der Heilige noch ein weiteres Mittel, nämlich: „Viertes Mittel: Eine zärtliche und wahre Andacht zur Allerseligsten Jungfrau.“ Dieses Mittel ist zugleich die Grundlage und notwendige Ergänzung der anderen drei Mittel. Zudem ist in dieser außerordentlichen, papstlosen Zeit unsere Verehrung der Gottesmutter als „Sitz der göttlichen Weisheit“ ein notwendiger Ausgleich für das Fehlen des Lehramtes. Wir dürfen und müssen uns am Glauben Mariens festhalten, indem wir ihren Glauben ausdrücklich nachahmen.

Der hl. Alphons Maria v. Liguori schreibt in seinen Lobreden auf die Gottesmutter Maria:

„Wie Maria eine Mutter der Liebe und des Erbarmens ist, so ist sie auch eine Mutter des Glaubens und, wie Irenäus so schön sagt, so macht sie durch den Glauben jenen Schaden gut, den uns die erste Mutter durch den Unglauben brachte. Eva, so schreibt Tertullian, glaubte der Schlange, Maria dem Engel. Was jene durch den Unglauben verdorben, das hat diese durch den Glauben wieder gutgemacht. Als Maria dem Engel Gehör schenkte, hat ihr Glaube uns den Himmel geöffnet, sagt Augustinus. Unter anderem schreibt der Weltapostel, daß ein ungläubiger Mann durch ein gläubiges Weib geheiligt werde (1 Kor 7,14). Wer anders ist dieses gläubige Weib, als Maria, wer der ungläubige Mann, als Adam. Elisabeth lobte die Mutter Jesu wegen ihres Glaubens, als sie zu ihr sprach: Selig bist du, weil du geglaubt hast. Ja, sagt Augustinus, Maria war weit seliger, da sie an Christus glaubte, als da sie Christus empfing.
Suarez behauptet, daß der Glaube Marias den der Menschen und der Engel übertraf. Als sie ihren Sohn im Stalle zu Bethlehem vor sich sah, glaubte sie an ihn als den Schöpfer der Welt. Sie sah ihn vor dem Grimme Herodes fliehn, und glaubte zugleich, daß er der König aller Könige sei. Sie sah ihn in der Zeit, und glaubte, daß seine Dauer von Ewigkeit sei. Sie sah ihn in Armut auf dem Heu in der Krippe liegen, und glaubte doch an seine Allmacht. Sie sah, wie er kein Wort redete, und glaubte doch, daß er die ewige Weisheit sei. Sie sah ihn weinen, und glaubte an ihn, als die Freude der Engel. Sie sah und hörte endlich, wie er gelästert, verachtet, verspottet, ja ans Kreuz geheftet wurde, und obschon andere im Glauben wankten, blieb Maria doch standhaft. Neben dem Kreuz stand die Mutter Jesu. Darüber schreibt der heilige Antonius: Nur der Glaube an die Gottheit Jesu hielt Maria aufrecht.
Der heilige Idelphons ermahnt uns, daß wir Maria als einem Vorbild des Glaubens nacheifern. Wie aber können wir ihr in ihrem Glauben nachfolgen? Er ist zugleich eine Tugend und eine Gabe. Eine Gabe insofern, als sie als Licht in unsere Seele fällt, eine Tugend insofern, als sie eine Übung für die Seele ist. Der Glaube muß uns also zur Richtschnur sowohl im Werk als auch im Geiste dienen. Jener glaubt wahrhaftig, sagt der heilige Gregor, der auch durch die Tat zeigt, was er glaubt. Augustinus schreibt, ‚du sagst, ich glaube. Tu‘! was du glaubst, so ist dein Glaube ein wahrer Glaube.‘ Es ist der wahrhafte, lebendige und wirksame Glaube.
Nach diesem lebendigen Glauben lebte Maria und beschämt alle, die nicht nach ihrem Glauben leben. Der Glaube ohne Werke ist tot, schreibt der Apostel Jakobus. Diogenes suchte einst einen Menschen, Gott aber einen wahren Christen; deren gibt es viele dem Scheine nach, wenige aber in der Tat. Zu dergleichen Maulchristen könnte man mit gutem Recht sagen, was einst Alexander der Große zu einem feigen Soldaten, der sich auch Alexander nannte, gesprochen: ‚Ändere entweder deinen Namen oder dein Verhalten!‘ Solch aberwitzige Menschenkinder sollte man als Toren ins Gefängnis werfen, denn, obwohl sie genau wissen, daß auf den gerechten Menschen eine glückselige Ewigkeit wartet, und eine unglückselige auf den lasterhaften, so leben sie doch, als glaubten sie dies alles nicht. Darum ermahnt uns der heilige Augustinus, daß wir alles mit christlichen Augen betrachten, das heißt, mit den Augen des Glaubens. Wo kein Glaube ist, versichert uns die heilige Theresia, da nehmen die Sünden überhand. Laßt uns also ohne Unterlaß Maria anrufen: Mutter! vermehre uns durch deine Fürbitte den Glauben.“

Sich Maria anschließen heißt, sie in besonderer Weise verehren und sich ihr ganz weihen. Der hl. Ludwig Maria war überzeugt, daß die Ganzhingabe an Maria eines der vorzüglichsten Mittel ist, ein wahrhaft Gott wohlgefälliges, also heiliges Leben zu führen. Wer sich jedoch Maria in dieser Weise weihen will, der muß sich immer wieder darüber Gedanken machen, was diese Ganzhingabe alles umschließt und bedeutet. Lassen wir uns darum vom hl. Ludwig Maria erklären, wie eine „zärtliche und wahre Andacht zur Allerseligsten Jungfrau“ konkret aussehen muß.

1. Grundlagen der Andacht zu Maria
Nun komme ich endlich zum wirksamsten Mittel, zum wunderbarsten aller Geheimnisse, um die göttliche Weisheit zu erlangen und zu bewahren, und das ist eine zärtliche und aufrichtige Andacht zu Maria.
Niemand außer Maria hat je Gnade gefunden bei Gott (vgl. Lk. 1,30), für sich selbst und für das ganze Menschengeschlecht. Sie allein hatte die Fähigkeit, der Ewigen Weisheit die menschliche Natur zu geben und sie zur Welt zu bringen, und nur sie allein besitzt durch die Wirkung des Heiligen Geistes die Macht, die menschgewordene Weisheit in den Auserwählten gleichsam zu verkörpern.
Die Patriarchen, die Propheten und Heiligen des Alten Bundes haben um die Menschwerdung der Ewigen Weisheit geschrien, geseufzt und gebetet; aber keiner aus ihnen konnte sie verdienen. Maria allein stieg durch die Erhabenheit ihrer Tugenden bis zum Throne der Gottheit empor und verdiente diese unendliche Wohltat. Sie wurde Mutter, Herrin und Thron der göttlichen Weisheit.
a) Maria, die würdigste Mutter Jesu
Maria ist die würdigste Mutter Jesu; denn sie hat ihm die menschliche Natur gegeben und hat ihn der Welt geschenkt als die Frucht ihres Leibes: „Und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus.“
Überall also, wo Jesus ist, sei es im Himmel oder auf Erden, in den Tabernakeln oder in unseren Herzen, überall kann man in Wahrheit sagen, daß er die Frucht und die Gabe Mariä ist, daß Maria allein der Baum des Lebens ist, der keine andere Frucht als Jesus hervorbringt. Wer daher immer diese bewunderungswürdige Frucht in seinem Herzen haben will, der muß den Baum besitzen, der sie hervorbringt. Wer Jesus haben will, muß Maria haben.
b) Maria, die Herrin der göttlichen Weisheit
Maria ist die Herrin der göttlichen Weisheit, nicht als ob sie größer wäre als die göttliche Weisheit, die wahrer Gott ist, oder ihr gleich wäre. Solches zu meinen oder zu sagen, wäre eine Gotteslästerung! Aber da Gott der Sohn, die Ewige Weisheit, sich Maria als seiner Mutter vollkommen unterworfen hat, so hat er ihr eine mütterliche und natürliche Gewalt über sich selbst gegeben, die unbegreiflich ist, und zwar nicht nur für die Zeit seines Erdenlebens, sondern auch im Himmel, weil die Glorie nicht nur die Natur nicht zerstört, sondern vervollkommnet. Deshalb ist Jesus im Himmel ebenso sehr wie ehemals das Kind Mariä und Maria seine Mutter.
In dieser Eigenschaft besitzt sie Macht über ihn und er ist ihr in gewissem Sinne untertan, weil er es so will (hl. Bonaventura). Das heißt, Maria erlangt von Jesus durch ihr mächtiges Gebet und ihre Gottesmutterschaft alles, was sie will; sie gibt ihn, wem sie will und sie bringt ihn jeden Tag in den Seelen hervor, wo sie will.
Wie glücklich ist eine Seele, welche die Huld Mariä gewonnen hat! Sie darf sicher sein, daß sie bald die Weisheit besitzen werde. Denn da Maria jene liebt, die sie lieben (vgl. Sprw. 8,17), so teilt sie ihnen mit vollen Händen ihre Güter und vor allem das unendliche Gut aus, in welchem alle anderen eingeschlossen sind: Jesus, die Frucht ihres Leibes.
Wenn man also in Wahrheit sagen kann, Maria sei in gewissem Sinne die Herrin der menschgewordenen Weisheit, was müssen wir dann denken von ihrer Macht, die sie über alle Gnaden und Gaben Gottes besitzt, und von der Freiheit, mit der sie davon austeilt, ganz nach ihrem Gutdünken!
Sie ist nach dem Ausspruch der Kirchenväter der unermeßliche Ozean aller Herrlichkeiten Gottes, die große Schatzkammer aller seiner Güter, der unerschöpfliche Schatz des Herrn, die Schatzmeisterin und Ausspenderin aller seiner Gaben.
Es ist der Wille Gottes, daß, nachdem er ihr seinen Sohn geschenkt, wir alles aus ihrer Hand empfangen, und es steigt kein himmlisches Geschenk auf die Erde nieder, das nicht durch sie wie durch einen Kanal hindurchginge.
Aus ihrer Fülle haben wir alle empfangen, und wenn sich in uns eine Gnade, einige Heilshoffnung findet, so ist dies ein Gut, das uns durch sie von Gott zukommt.
Sie ist in solchem Maße Herrin über die Güter Gottes, daß sie (wem sie will, soviel sie will, wann sie will und wie sie will) alle Gnaden Gottes, alle Tugenden Jesu Christi und alle Gaben des Heiligen Geistes, alle Güter der Natur, der Gnade und der Glorie austeilt.
Das sind Gedanken und Aussprüche der Kirchenväter, deren lateinische Texte ich nur der Kürze halber nicht anführe.
Aber so große Gaben diese erhabene und liebenswürdige Königin uns auch spendet, so ist sie doch nicht zufrieden, solange sie uns nicht die menschgewordene Weisheit, ihren Sohn Jesus Christus, geben kann, und tagtäglich ist sie damit beschäftigt, Seelen zu suchen, die der Ewigen Weisheit würdig wären, damit sie ihnen Jesus schenken könne.
c) Maria, der königliche Thron der Ewigen Weisheit
Maria ist überdies der königliche Thron der Ewigen Weisheit. In Maria offenbart die Ewige Weisheit ihre Größe, in Maria entfaltet sie ihre Schätze, in Maria findet sie ihre Wonne. Und es gibt keinen Ort im Himmel und auf Erden, wo die Ewige Weisheit eine größere Pracht entfaltete und soviel Wohlgefallen fände, als in der unvergleichlichen Maria.
Darum nennen die Kirchenväter Maria das Heiligtum der Gottheit, die Ruhe und Freude der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, den Thron Gottes, die Stadt Gottes, den Altar Gottes, den Tempel Gottes, die Welt Gottes und das Paradies Gottes. Alle diese Bezeichnungen und Lobsprüche sind sehr wahr in bezug auf die verschiedenen Wunder, die der Allerhöchste in Maria gewirkt hat.
Nur durch Maria kann man also die Weisheit erlangen. Wenn wir aber ein so großes Geschenk wie die Weisheit es ist, empfangen haben, welche Wohnung werden wir ihr anweisen? Was für ein Haus, was für einen Sitz, was für einen Thron werden wir dieser so reinen und strahlenden Fürstin geben, vor der die Sonnenstrahlen nur Staub und Finsternis sind?
Vielleicht antwortest du mir, sie verlange nur nach unserem Herzen und dieses also müßten wir ihr geben und dort ihr Wohnung anweisen. Aber wissen wir denn nicht, daß unser Herz befleckt, unrein, fleischlich und von tausend Leidenschaften erfüllt und daher unwürdig ist, einen so hohen und heiligen Gast zu besitzen? Und hätten wir auch hunderttausend Herzen wie das unsrige, um sie ihr als Thron anzubieten, so würde sie noch immer mit Recht unsere Bemühungen geringschätzen, für unsere Bitten ein taubes Ohr haben und uns sogar der Kühnheit und Unverschämtheit zeihen, daß wir sie an einem so verdorbenen und ihrer Majestät unwürdigen Orte unterbringen wollten. Was tun also, um unsere Herzen ihrer würdig zu machen? Höre den guten Rat, vernimm das bewunderungswürdige Geheimnis:
Lassen wir Maria, um uns so auszudrücken, in unser Haus einziehen, indem wir uns ihr ohne jeden Vorbehalt als ihre Diener und Sklaven weihen. Übergeben wir in ihre Hände und zu ihrer Ehre das Teuerste, was wir haben, ohne uns irgendetwas vorzubehalten, und diese gute Herrin, die sich nie an Freigebigkeit übertreffen ließ, wird sich uns auf eine unaussprechliche, aber wahrhaftige Weise schenken, und in ihr wird die Ewige Weisheit wie auf einem glorreichen Throne ihre Wohnung aufschlagen.
d) Maria, der heilige Magnet
Maria ist der heilige Magnet, der überall, wo er ist, die Ewige Weisheit so heftig anzieht, daß sie nicht widerstehen kann. Dieser Magnet hat die Ewige Weisheit für alle Menschen auf die Erde herabgezogen und er zieht sie noch tagtäglich in jeden einzelnen herab, in dem er sich befindet.
Ist Maria einmal in uns, so erlangen wir durch ihre Vermittlung leicht und in kurzer Zeit die göttliche Weisheit. Von allen Mitteln, Jesus Christus zu besitzen, ist Maria das sicherste, das leichteste, das kürzeste und heiligste.
Wenn wir die schwersten Bußwerke verrichteten, die beschwerlichsten Reisen und härtesten Arbeiten unternähmen, ja sogar all unser Blut vergössen, um die Ewige Weisheit zu erlangen, aber die Fürbitte Maria und die Andacht zu ihr würde sich nicht zu all diesen Anstrengungen gesellen, so wären sie unnütz und unfähig, uns die Weisheit zu erlangen. Wenn aber Maria ein Wort für uns einlegt, wenn ihre Liebe in uns ist, wenn wir gezeichnet sind mit dem Merkmal ihrer treuen Diener, die ihre Wege bewahren, dann werden wir bald und mit wenig Aufwand die göttliche Weisheit besitzen.
e) Maria, die Mutter aller Glieder Christi
Beachte, daß Maria nicht nur die Mutter Jesu, des Hauptes aller Auserwählten ist, sondern auch die Mutter aller seiner Glieder, und zwar in dem Sinne, daß sie dieselben hervorbringt, in ihrem Schöße trägt und durch die Gnade Gottes, welche sie ihnen mitteilt, zur himmlischen Glorie gebiert.
Dies ist die Lehre der Kirchenväter, unter anderen des heiligen Augustinus, welcher sagt, die Auserwählten seien im Schoße Mariä geborgen und sie bringe sie erst zur Welt, wenn sie in die Glorie eingehen.
Überdies hat Gott Maria befohlen, in Jakob zu wohnen, in Israel ihr Erbe zu nehmen und in den Auserwählten und Vorherbestimmten Wurzel zu schlagen.
f) Folgerungen
Aus diesen Wahrheiten ergibt sich:
1. Daß man sich umsonst schmeichelt, ein Kind Gottes und Jünger der Weisheit zu sein, wenn man kein Kind Mariä ist.
2. Um zur Zahl der Auserwählten zu gehören, ist erfordert, daß Maria in uns wohne und durch eine zarte und wahre Andacht zu ihr Wurzel schlage.
3. An ihr ist es, uns in Jesus Christus hervorzubringen und Jesus Christus in uns bis zur Vollkommenheit und Fülle seines Alters, so daß sie von sich mit mehr Wahrheit sagt, was der heilige Paulus auf sich anwendet: Ich bilde euch tagtäglich in mir, meine lieben Kinder, bis Jesus Christus, mein Sohn, in euch vollkommen gestaltet ist. (vgl. Gal. 4,19)

2. Die wahre Andacht zu Maria
Es fragt mich vielleicht jemand, der die Allerseligste Jungfrau zu verehren verlangt, worin die wahre Andacht zu Maria denn bestehe. Ich antworte in wenigen Worten: sie besteht in einer tiefen Hochachtung vor ihrer Größe und Würde, in einer großen Dankbarkeit für ihre Wohltaten, in einem großen Eifer für ihre Ehre, in der beständigen Anrufung ihrer Hilfe, in einer vollständigen Abhängigkeit von ihrer Macht und einem festen und zärtlichen Vertrauen auf ihre mütterliche Güte.
Wir müssen uns recht hüten vor den falschen Andachten zu Maria, deren sich der Teufel bedient, um manche Seelen zu täuschen und in Verdammnis zu stürzen. Ich halte mich nicht dabei auf, sie zu schildern. Es genügt, zu sagen, daß die wahre Andacht zur Allerseligsten Jungfrau:
1) immer innerlich ist, ohne Heuchelei und ohne Aberglauben;
2) zärtlich, ohne Gleichgültigkeit und Ängstlichkeit;
3) beharrlich, ohne Wankelmut und Untreue;
4) heilig, ohne Vermessenheit und Unordnung.
Wir dürfen nicht zur Zahl jener falschen heuchlerischen Verehrer gehören, die ihre Andacht nur auf den Lippen und in ihrem Äußeren zeigen.
Wir dürfen auch nicht zur Zahl jener nörgelnden und engherzigen Verehrer gehören, welche fürchten, Maria zu viel Ehre zu erweisen, und die meinen, den Sohn zu entehren, wenn man die Mutter ehrt.
Wir dürfen nicht zu jenen gleichgültigen und eigennützigen Verehrern gehören, welche weder zärtliche Liebe, noch kindliches Vertrauen zu Maria besitzen und die nur dann ihre Zuflucht zu ihr nehmen, wenn es sich um Erwerbung oder Bewahrung zeitlicher Güter handelt.
Wir dürfen nicht zu jenen unbeständigen und leichtsinnigen Verehrern gehören, welche nur nach der Laune gehen und zeitweise Verehrung gegen die Allerseligste Jungfrau haben, zur Zeit der Versuchung aber sich ihrem Dienste entziehen.
Endlich müssen wir uns wohl hüten, zur Zahl jener vermessenen Verehrer zu gehören, welche unter dem Scheine einiger äußerer Andachtsübungen, denen sie obliegen, ein in die Sünde verstricktes Herz verbergen; die sich einbilden, sie werden wegen ihrer Andachtsübungen zur Allerseligsten Jungfrau nicht ohne Beichte sterben und so gerettet werden, mögen sie unterdessen noch so sehr sündigen.
Unterlassen wir hingegen nicht, in die Bruderschaften, namentlich in die des heiligen Rosenkranzes, einzutreten, um darin die Pflichten zu erfüllen, die so sehr zur Heiligung beitragen.

3. Die vollkommene Andacht zu Maria
Aber die vollkommene und nützlichste aller Andachten zur Allerseligsten Jungfrau besteht darin, sich ganz Jesu und Maria in der Eigenschaft eines Sklaven zu weihen, indem man ihr rückhaltlos und auf ewig seinen Leib und seine Seele, seine äußeren und inneren Güter, den genugtuenden und verdienstlichen Wert aller seiner guten Handlungen und sein eigenes Verfügungsrecht darüber und endlich alle Güter schenkt und weiht, die man in der Vergangenheit empfangen, gegenwärtig besitzt und in Zukunft besitzen wird.
Da es mehrere Bücher gibt, die über diese Andacht handeln, beschränke ich mich darauf, zu sagen, daß ich niemals eine Andachtsübung zu Maria gefunden habe, die besser begründet wäre, da sie sich ja auf das Beispiel Jesu stützt, die für Gott glorreicher, für die Seele heilsamer, den Feinden des Heiles schrecklicher, die endlich süßer und leichter wäre, als diese.
Wenn diese Andacht auf rechte Weise geübt wird, so wird Jesus Christus, die Ewige Weisheit, nicht nur in eine Seele herabgezogen, sondern wird in ihr zurückgehalten und vor dem Tode bewahrt. Denn, lieber Leser, was würde es uns nützen, tausend Geheimnisse zu suchen und tausend Anstrengungen zu machen, um den Schatz der Weisheit zu erlangen, wenn wir nach deren Empfang das Unglück hätten, ihn durch unsere Untreue wieder zu verlieren, wie Salomon? Er war weiser, als wir es vielleicht je sein werden, und in allem war er stärker, erleuchteter: dennoch wurde er getäuscht und besiegt und fiel in Sünde und Torheit und versetzte alle, die nach ihm kamen in zweifaches Staunen, nämlich über sein Licht und seine Finsternis, über seine Weisheit und die Torheit seiner Sünden. Man kann sagen, wenn einerseits sein Beispiel und seine Bücher alle seine Nachkommen aneifern mußten, nach der Weisheit zu trachten, so mußte doch andererseits sein tatsächliches Verderben oder wenigstens der wohlbegründete Zweifel an seiner Rettung eine unermeßliche Zahl von Seelen abhalten, nach einem an sich wohl schönen, aber so leicht verlierbaren Gute zu streben.
Um also in gewissem Sinne weiser zu sein, als Salomon, müssen wir alles, was wir besitzen und selbst das Gut aller Güter, Jesus Christus, in die Hände Maria legen, damit sie es uns bewahre. Wir sind zu gebrechliche Gefäße. Legen wir nicht ein so kostbares Gut und das himmlische Manna hinein. Wir haben zu zahlreiche, zu schlaue und erfahrene Feinde gegen uns; bauen wir nicht auf unsere Kraft und Klugheit. Wir haben mit unserer Unbeständigkeit und unserem natürlichen Leichtsinn zu traurige Erfahrungen gemacht; hegen wir Mißtrauen gegen unsere Weisheit und unseren Eifer.
Maria ist weise: legen wir alles in ihre Hände; sie weiß am besten über uns und all das Unsrige zur größeren Ehre Gottes zu verfügen.
Maria ist liebevoll: sie liebt uns als ihre Kinder und Diener. Opfern wir ihr alles auf, wir werden nichts verlieren, sie wird alles zu unserem Vorteil gereichen lassen.
Maria ist freigebig: sie gibt mehr zurück, als man ihr gibt. Übergeben wir ihr alles, was wir besitzen, ohne den geringsten Vorbehalt, wir erhalten dafür hundertfaches.
Maria ist mächtig: nichts ist imstande, ihr das zu entreißen, was in ihre Hände gelegt wurde. Übergeben wir uns ganz ihren Händen; sie wird uns verteidigen und uns den Sieg über alle Feinde verleihen.
Maria ist treu: sie läßt nichts von dem, was man ihr anvertraut, abhandenkommen oder verlorengehen. Sie ist die getreueste Jungfrau gegen Gott und gegen die Menschen. Sie hat getreulich alles bewahrt und behütet, was Gott ihr anvertraut hat, ohne den geringsten Teil davon zu verlieren, und sie bewahrt noch immer mit besonderer Sorgfalt alle, die sich gänzlich unter ihren Schutz und Schirm gestellt haben.
Vertrauen wir also alles ihrer Treue an; klammern wir uns an sie wie an eine Säule, die nicht gestürzt, wie an einen Anker, der nicht losgerissen, oder vielmehr wie an den Berg Sion, der nicht erschüttert werden kann (vgl. Ps. 124,1).
Mögen wir von Natur aus noch so blind, schwach und unbeständig sein, mögen unsere Feinde noch so zahlreich und boshaft sein, niemals werden wir uns dann täuschen oder irregehen, und niemals werden wir dann das Unglück haben, die Gnade Gottes und den unendlichen Schatz der Ewigen Weisheit zu verlieren.