Vater unser, der Du bist im Himmel

1. Die Bittage erinnern uns an die Notwendigkeit des Bittgebetes. Denn nach den Worten des Heilands: „Bittet, und ihr werdet empfangen“, ist es ein Gesetz, daß wir die Gnaden und Wohltaten, die wir benötigen, nur erlangen, indem wir darum beten. Es ist daher für uns von großer Wichtigkeit zu wissen, wie und worum wir beten sollen, um es in der rechten Weise zu tun. Das haben auch die Apostel so empfunden, deshalb baten sie den Heiland: „Herr, lehre uns beten!“ Der Heiland hat dieser Bitte nur zu gern entsprochen, und so lehrte Er uns das Gebet des Herrn, das Vaterunser. Damit wir jedoch das Vaterunser richtig und mit Andacht beten, ist es nützlich, es uns vom heiligen Thomas von Aquin erklären zu lassen.

2. „Wir beten also 'Vater'“, beginnt der große Aquinate. „Dabei ist zweierlei zu beachten: Inwiefern ist Gott unser Vater? und: Was sind wir Ihm als Vater schuldig?“ Aus drei Gründen, fährt der engelgleiche Lehrer fort, wird Gott „Vater“ genannt. Erstens wegen „der besonderen Art unserer Erschaffung, denn er hat uns Ihm ähnlich, nach Seinem Ebenbild geschaffen, das Er den anderen, niedrigeren Geschöpfen nicht einprägte“. „Lasset uns den Menschen schaffen nach Unserem Bild und Gleichnis“, spricht Gott im Anfang der Schöpfung (Gen 1,26). Das ist es, was den Menschen vom Tier und jeder anderen körperlichen Kreatur unterscheidet. Er ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, er ist Ihm ähnlich, darum darf er Ihn auch zurecht Vater nennen. Schon Moses schärft daher in seinem letzten Buch dem Volk Israel erneut ein: „Er ist dein Vater, der dich schuf“ (Deut 32,6).

Zweitens ist Gott unser Vater wegen „der besonderen Art, wie Er uns regiert“. Gott ist ja nicht nur Schöpfer, sondern auch Lenker und Erhalter der Welt. Doch „obwohl Er alles regiert, so regiert Er uns doch wie Kinder, die anderen aber wie Diener“. „Du bist es, der den Himmel ausspannt wie ein Zeltdach, der das Grundgebälk für seine Kammern in den Wassern festigt, der sich als Wagen und Wolken ausersieht, einherfährt auf des Windes Flügeln, der sich die Winde macht zu seinen Boten, zu seinen Dienern Feuerflammen“ (Ps 104,2-4). Vom Menschen aber heißt es: „Mit großer Ehrfurcht leitest du uns“ (Weish 12,18).

Drittens und vor allem nennen wir Gott unseren Vater, weil „Er uns an Kindes Statt annahm“, indem Er uns die heiligmachende Gnade verlieh. „Denn alle, die vom Geiste Gottes getrieben werden, diese sind Kinder Gottes. Denn ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, um euch wiederum zu fürchten, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba (Vater)! Denn der Geist gibt selbst unserem Geiste Zeugnis, daß wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, so sind wir auch Erben: Erbe Gottes und Miterben Christi“ (Röm 8,14-17). „Weil ihr aber Kinder seid, so sandte Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der da ruft: Abba, Vater! So ist er denn nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, auch Erbe durch Gott“ (Gal 4,6f). „Den anderen Geschöpfen hat Er gleichsam nur Geschenke gegeben“, staunt der heilige Thomas, „uns aber die Erbschaft, weil wir Seine Kinder sind, und wenn Kinder, dann auch Erben.“

3. Da Gott also unser Vater ist, so „sind wir Ihm viererlei schuldig“, nämlich Ehre, Nachfolge, Gehorsam und Geduld in den Züchtigungen. „Wenn Ich der Vater bin, wo ist dann Meine Ehre?“ fragt Gott vorwurfsvoll durch den Mund des Propheten Malachias (Mal 1,6). Diese Ehre aber besteht zum einen „in dem Lob Gottes, das aber nicht nur aus dem Munde, sondern auch aus dem Herzen kommen soll“. „Das Opfer des Lobes ehre Mich“, heißt es im Psalm (Ps 49,23). Doch beim Propheten Isaias klagt der Herr: „Nur im Munde führt Mich dieses Volk; nur mit den Lippen ehrt es Mich; doch fern hält es von Mir sein Herz, und die Verehrung, die sie Mir erweisen, besteht in angelernten Menschenformeln“ (Is 29,13). Ferner besteht die Ehre Gottes „in der Reinheit des Leibes“. Das ergibt sich daraus, daß wir als Kinder Gottes Seinen Geist in uns tragen. „Oder wisset ihr nicht, daß eure Glieder ein Tempel des Heiligen Geistes sind, der in euch ist, den ihr von Gott habt, und daß ihr nicht euer eigen seid? Denn um hohen Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlichet und traget Gott in eurem Leibe!“ (1 Kor 6,19f). Schließlich ehren wir Gott „in der Gerechtigkeit des Urteils gegenüber dem Nächsten“, ist doch auch der Nächste ein Kind Gottes. Und: „Die Ehre des Königs liebt das gerechte Urteil“ (Ps 98,4).

Die Nachfolge des himmlischen Vaters besteht zunächst „in der Liebe, die im Herzen getragen werden muß“. „Du wirst mich Vater nennen und wirst nicht aufhören, in Meiner Spur zu gehen“, fordert Gott, der Herr, uns durch den Propheten Jeremias zur Nachfolge auf (Jer 3,29). Der heilige Paulus erklärt, wie wir das tun sollen: „Suchet denn Gott nachzuahmen im Gedanken, daß ihr geliebte Kinder seid, und wandelt in der Liebe“ (Eph 5,1). Daraus ergibt sich ferner die Nachfolge „in der Barmherzigkeit, die mit der Liebe verbunden sein und sich in Werken erweisen muß“. „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“, mahnt uns der Heiland kurz und bündig (Lk 6,36). Er selber ging mit dem allerbesten Beispiel voran. Schließlich sollen wir Gott, dem Vater nachfolgen „in der Vollkommenheit, weil Liebe und Barmherzigkeit vollkommen sein müssen“. Wieder sagt es uns der Heiland mit Seinen so schlichten und unendlich tiefen Worten: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 6,48).

Wir schulden unserem himmlischen Vater kindlichen Gehorsam. Oder „sollen wir nicht willig uns unterordnen dem Vater unserer Seelen, um das Leben zu gewinnen?“ (Hebr 12,9). Diesen Gehorsam schulden wir in erster Linie „wegen Seiner Herrschaft über uns, denn Er ist unser Herr“. „Alles was der Herr sagt, wollen wir tun und Ihm gehorchen“, gelobte Moses am Berg Sinai (Ex 24,7), wo er die steinernen Tafeln empfing, die mit den Worten beginnen: „Ich bin der Herr, dein Gott“ (Ex 20,2). Wir schulden außerdem Gehorsam „wegen Seines Beispiels, indem der wahre Sohn dem Vater 'gehorsam war bis zum Tode' (Phil 2,8)“. Christus als der eingeborene, wahre Sohn des Vaters, ist ja unser Vorbild in allem. Endlich schulden wir Gott Gehorsam „wegen Seines Wohlgefallens“. Ein Kind, das seinen Vater liebt, sucht ja vor allem, ihm zu gefallen. So kann es sagen: „Ich werde spielen vor dem Herrn, der mich erwählt hat“ (Weish 8,30).

Schließlich schulden wir unserem himmlischen Vater Geduld in den Züchtigungen, geschehen sie doch nur aus übergroßer Liebe und zu unserem Besten. „Die Züchtigungen des Herrn, mein Sohn, verwirf nicht, und laß den Mut nicht sinken, wenn du von Ihm gestraft wirst; denn wen der Herr liebt, den züchtigt Er, und hat Wohlgefallen an ihm, gleich wie ein Vater an seinem Sohne“ (Prv 3,11f).

4. Wir nennen Gott nicht nur unseren Vater, sondern wir beten „Vater unser“. „Das Wort 'unser' zeigt an, daß wir dem Nächsten zweierlei schuldig sind“, erklärt der heilige Thomas, und zwar erstens „Liebe, denn sie sind unsere Brüder, weil wir ja alle Kinder Gottes sind“. So kann der heilige Johannes sagen: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, der er nicht gesehen hat. Und wir haben dieses Gebot von Ihm: wer Gott liebt, liebt auch seinen Bruder“ (1 Jo 4,20f). Zweitens sind wir ihnen schuldig „Ehrerbietung, weil sie Kinder Gottes sind“. „Denn es heißt in der Schrift: 'Haben wir denn nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen?' (Mal 2,10).“ Darin besteht die wahre Menschenwürde, die von uns verlangt: „Kommt einander mit Eherbietung zuvor“ (Röm 12,10).

5. Und warum fügt der Heiland noch hinzu: „Der Du bist im Himmel“? Der heilige Lehrer erklärt: „Der Betende muß vor allem Vertrauen haben, dies ist besonders wichtig.“ Wie schon der heilige Jakobus sagt: „Er bete im Glauben, ohne zu zweifeln“ (Jak 1,6). „Deshalb schickt der Herr, indem Er uns beten lehrt, das voraus, wodurch in uns das Vertrauen erweckt wird: die Güte des Vaters.“ Wie der Heiland uns belehrt: „Wenn ihr, die ihr böse seid, euren Kindern Gutes zu geben wißt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die Ihn darum bitten!“ (Lk 11,13). „Deshalb spricht Er 'Vater unser' und fügt, um die Größe der Macht des Vaters hervorzuheben, noch hinzu: 'Der du bist im Himmel'.“ Es gibt ja zwei Gründe, warum wir an der Hilfe eines anderen Zweifel haben können: Weil er uns entweder nicht helfen will oder nicht helfen kann. Gott aber will uns helfen, weil Er der gütige Vater ist, und Er kann uns helfen, weil Er der allmächtige Vater ist. Darum haben wir keinen Grund zum Zweifel, sondern allen Grund zum Vertrauen.

6. „Der Du bist im Himmel“ kann sich „aber auf dreierlei beziehen“. Erstens auf „die Vorbereitung des Betenden“, denn diese besteht vor allem „in der Nachahmung des Himmlischen, da das Kind den Vater nachahmen soll“, dann „in der Betrachtung des Himmlischen, weil die Menschen ihre Gedanken häufiger dorthin zu richten pflegen, wo sie den Vater haben und was sie sonst noch lieben“, schließlich „in dem Streben nach dem Himmlischen, so daß wir von Ihm, der im Himmel ist, nur Himmlisches erbitten“. So lesen wir in der Schrift: „Wie wir das Bild des Irdischen getragen haben, werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen“ (1 Kor 15,49), weshalb wir das Himmlische nachahmen sollen; „Wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein“ (Mt 6,21), weshalb wir das Himmlische betrachten sollen, damit „unser Wandel im Himmel“ ist, wie der heilige Paulus sagt (Phil 3,20); „Suchet, was oben ist, wo Christus zur Rechten des Vaters thront“ (Kol 31,), weshalb wir nur Himmlisches erbitten sollen.

Zweitens kann es sich beziehen auf „die Geneigtheit Gottes, uns zu erhören; denn 'Er ist allen nahe, die Ihn anrufen' (Ps 144,18)“. Denn: „Die Worte 'im Himmel' kann man auch auffassen als 'in den Heiligen', denn Gott wohnt in den Heiligen, nach den Worten der Schrift: 'Du bist in uns, Herr' (Jer 14,9). Die Heiligen werden daher auch 'Himmel' genannt, und es heißt von ihnen: 'Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes' (Ps 18,1).“ So erinnern uns diese Worte zum einen an die Gemeinschaft der Heiligen, die unsere Fürsprecher sind und an deren Verdiensten wir Anteil erlangen, zum zweiten an die uns selbst innewohnende heiligmachende Gnade. Gott nämlich „wohnt in den Heiligen durch den Glauben“, wie der heilige Paulus sagt: „Christus wohnt durch den Glauben in euren Herzen“ (Eph 3,17). Er wohnt in ihnen durch die Liebe, nach den Worten des heiligen Johannes: „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Jo 4,16). Und Er wohnt in ihnen durch „die Erfüllung der Gebote“, denn so sagt der Heiland selbst: „Wenn jemand Mich liebt, so wird Er Mein Wort halten, und Mein Vater wird ihn lieben. Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Jo 14,23).

Drittens können sich die Worte beziehen auf „die Kraft und Wirksamkeit Gottes, um uns zu erhören“. „Wir können nämlich unter den Worten 'im Himmel' auch den sichtbaren Himmel verstehen, nicht als ob Gott im sichtbaren Himmel eingeschlossen wäre, da Ihn ja 'der Himmel und die Himmel der Himmel nicht fassen können' (1 Kg 8,27), sondern im Hinblick auf Seine Allwissenheit, mit der Er von der Höhe herabsieht, auf Seine erhabene Macht und auf Seine Unveränderlichkeit in der Ewigkeit, weshalb es auch von Christus heißt: 'Sein Thron ist des Himmels Tagen gleich' (Ps 88,30).“

7. Demgemäß wird uns durch die Worte „Der Du bist im Himmel“ auch „Vertrauen auf das Gebet gegeben, und zwar aus drei Gründen“. Der erste Grund ist die „Macht dessen, zu dem wir beten“. „Auf diese Macht wird hingewiesen, wenn unter 'Himmel' der sichtbare Himmel verstanden wird, und wenn Er auch von keinem materiellen Ort umfaßt werden kann, so sagt man doch von Ihm, Er sei im sichtbaren Himmel, um damit die Größe Seiner Macht und und die Erhabenheit Seiner Natur anzudeuten.“ Die Größe Seiner Macht wird dadurch angedeutet, „da wir ja in dem Sinne von Gott sagen, Er sei im Himmel, weil Er der Herr der Himmel und der Sterne ist“, was vor allem jene widerlegt, die dem törichten Glauben anhangen, „daß durch den schicksalhaften Einfluß der Himmelskörper alles mit Notwendigkeit geschehe, so daß es unnütz wäre, zu Gott zu beten“ - ein auch heute noch weitverbreiteter Aberglaube. Die Erhabenheit der göttlichen Natur wird dadurch zum Ausdruck gebracht, weil der Himmel „unter den sinnlichen Dingen das höchste ist“ und so auf die „alles menschliche Denken und Begehren übersteigende“ Größe Gottes hinweist und somit jede körperliche Vorstellung von Gott zurückweist. „Daher ist alles Denkbare und Wünschbare geringer als Gott.“

Der zweite Grund ist die „Freundlichkeit Gottes“. „Diese wird deutlich, wenn wir unter 'Himmel' die Heiligen verstehen. Da einige behaupten, Gott kümmere sich infolge Seiner Erhabenheit um die menschlichen Dinge nicht, muß dagegen betont werden, daß Er uns nahe, ja ganz in uns ist, da es heißt; Er sei im Himmel, nämlich in den Heiligen, die 'Himmel' gennant werden“, wie wir oben gesehen haben. „Du bist in uns, o Herr, und Dein heiliger Name ist angerufen über uns“, heißt es beim Propheten Jeremias (Jer 14,9). „Die Betenden haben also Grund zu vertrauen, weil Gott uns so nahe ist, und weil wir durch den Beistand der Heiligen das erlangen können, worum wir bitten.“ Deshalb heißt es in der Heiligen Schrift: „Wenn du betest, geh in dein Kämmerlein“ (Mt 6,6,), nämlich in das innere Kämmerlein der Herzens, wo wir Gott finden, und: „Betet füreinander, damit ihr das Heil erlangt; viel vermag das eindringliche Gebet eines Gerechten“ (Jak 5,16).

Der dritte Grund ist schließlich die „Angemessenheit“ und „Zweckmäßigkeit des Gebetes“. „Diese erlangt das Gebet, wenn wir die Worte 'Der Du bist im Himmel' in dem Sinne auffassen, daß wir unter 'Himmel' die geistigen und ewigen Güter verstehen, in denen die Seligkeit beruht. Dadurch wird in uns die Sehnsucht nach dem Himmlischen erweckt, denn unsere Sehnsucht muß dorthin gerichtet sein, wo wir den Vater haben, weil dort unser Erbteil ist“, weshalb uns der Apostel mahnt: „Suchet was oben ist“ (Kol 3,1), nämlich „das unvergleichliche, fleckenlose unverwelkliche Erbe, das euch im Himmel hinterlegt ist“ (1 Petr 1,4). Ferner „werden wir dadurch zu einem himmlischen Leben angeleitet, damit wir dem himmlischen Vater gleichförmig werden“. Und „beides – die Sehnsucht nach dem Himmlischen und das himmlische Leben – erzeugt die rechte Verfassung und die Angemessenheit des Gebetes“. Daher sind gerade die Tage vor Christi Himmelfahrt, da sich unser Blick bereits himmelwärts richtet, die rechte Zeit, dieses Gebet mit neuem Eifer und größerer Andacht zu verrichten.