Jerusalem oder Babylon

1. In Unserem Herrn Jesus Christus, dem Gottmenschen, haben sich Gottheit und Menschheit in einzigartiger und erhabener Weise zu einer untrennbaren Einheit verbunden. Zwar existieren in Ihm nach wie vor beide Naturen, die göttliche und die menschliche, ganz, unversehrt und unvermischt, und doch in so enger Weise vereint, daß die Gottheit die Menschheit gewissermaßen ganz durchdringt. Denn beide Naturen gehören derselben Person an, nämlich der zweiten Person der heiligsten Dreifaltigkeit, dem Sohn Gottes. Wir nennen das die „hypostatische Union“.

Dies hat zur Folge, daß auch die Menschheit Unseres Herrn Jesus Christus ganz und gar vergöttlicht und anbetungswürdig ist. Sogar Seinem Leib und dessen einzelnen Teilen und Organen schulden wir göttliche Verehrung. So beten wir das heiligste Herz Jesu an, Seine heiligen fünf Wunden oder Sein heiligstes Antlitz. Die Hirten vom Felde, die drei Weisen aus dem Morgenland, Maria und Joseph, sie alle beteten das Kind in der Krippe an, denn dieses Kind war Gott.

Daher hat auch die allerseligste Jungfrau nicht nur einfach ein Kind geboren, sondern den kindgewordenen Gott. Sie ist Gottesgebärerin, wie das Konzil zu Ephesus festgestellt hat. Das ist der Grund all ihrer Vorzüge und Privilegien, der Unbefleckten Empfängnis, ihrer Gnadenfülle, ihrer besonderen Stellung im Heilswerk als Miterlöserin und Gnadenmittlerin bis hin zu ihrer Aufnahme in den Himmel mit Leib und Seele. Unter allen Heiligen nimmt sie eine absolute Sonderstellung ein, sie steht über allen, und ihr gebührt ein besonderer Kult, die Hochverehrung.

Unser Herr Jesus Christus hat Sich gewürdigt, nicht nur eine menschliche Natur anzunehmen, die Er sich gewissermaßen als Braut antraute, sondern auch eine Art Erweiterung oder Fortsetzung davon, welche wir die heilige Kirche nennen. Die heilige, katholische Kirche ist die makellose Braut Christi, sie ist in gewisser Weise die fortgesetzte Menschwerdung oder Inkarnation Gottes. Sie ist wesentlich göttlich und menschlich, und beide Elemente sind in ihr ebenfalls untrennbar zu einer einzigartigen Einheit verbunden.

2. Der große Dogmatiker Matthias Joseph Scheeben schreibt in einem Aufsatz mit dem Titel „Die theologische und praktische Bedeutung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes, besonders in seiner Beziehung auf die heutige Zeit“ von einem dreifachen „Gnadenthron“, auf welchem sich die göttliche Weisheit, der Sohn Gottes, in Seiner Kirche niedergelassen hat. „Die Weisheit, die aus dem Munde des Allerhöchsten vor aller Kreatur hervorgegangen ist und mit ihrer Macht und Herrlichkeit die ganze Welt erfüllt, sucht auf Erden einen Ruheplatz, und der Vater spricht zu ihr: 'In Jacob wohne, und in Israel nimm dein Erbteil, und in meinen Auserwählten schlage deine Wurzel'. So hat sie dann 'inmitten des bevorzugten Volkes, des Erbteils Gottes, in der Versammlung der Heiligen sich niedergelassen, indem sie in der heiligen Wohnung auf Sion sich festsetzte und in Jerusalem ihre Macht entfaltete', und von dieser Stätte aus, als ein edler Baum, mit ihren Blüten, ihren Früchten und ihrem Dufte alles um sich her erfreute, erquickte und belebte, was der heilige Schriftsteller in einer Menge der reizendsten Bilder weiter ausführt. Von hier aus lädt sie dann auch die Menschen ein, nach ihr zu begehren und mit ihren himmlischen Früchten sich zu nähren, und sagt zu ihnen: 'Wer mich ißt, wird noch hungern, und wer mich trinkt, wird noch dürsten; wer auf mich hört, wird nicht zu Schanden werden, und wer in mir seine Werke tut, wird nicht sündigen; wer mich verherrlicht, wird das ewige Leben haben.' 'Das Alles', fügt der heilige Schriftsteller hinzu, 'ist das Buch des Lebens, das Testament des Allerhöchsten, und die Erkenntnis der Wahrheit.'“

Scheeben fährt fort: „Alles dieses gilt aber in viel höherer Weise von der Wohnung der ewigen Weisheit im Israel des neuen Bundes, in der Kirche, in welcher die Weisheit durch die Annahme des Fleisches persönlich sich niedergelassen. Auch dieses geistige Israel hat zum Mittelpunkte eine Stadt Gottes, einen heiligen Berg und einen heiligen Tempel, in welchem die ewige Weisheit ihre dauernde Wohnung aufgeschlagen, und von wo aus, als von ihrem Throne, sie ihre Macht und Herrlichkeit offenbart und die Auserwählten zu sich einlädt, auf welchem und in welchem sie dauernd Wurzel in der Gemeinschaft der Heiligen schlägt und sich festsetzt. Als ein solcher Thron der ewigen Weisheit ist naturgemäß zu betrachten vor allem die heilige Eucharistie, in welcher die Weisheit substantiell mit ihrer Fülle von Gnade und Wahrheit unter uns wohnt; sodann an zweiter Stelle die heilige Jungfrau, durch welche sie mit ihrer Gnadenfülle in die Kirche eingetreten ist, und in deren Schoß sie zuerst Wurzel geschlagen hat; endlich an dritter Stelle der Stuhl der Wahrheit, von welchem herab sie ihr Licht in die Kirche leuchten läßt; und in der Tat werden von alters her die Äußerungen des Propheten in dieser dreifachen Richtung angewandt. Wie daher beim alten Israel der heilige Stolz des auserwählten Volkes sich auf Sion konzentrierte, auf die daselbst ruhende Bundeslade mit dem Manna und den Gesetzestafeln, und wie seine Frömmigkeit in der Pietät gegen dieses dreifache Heiligtum ihren spezifischen Ausdruck fand: so konzentriert sich im neuen Israel der heilige Stolz des auserwählten Volkes, das Bewußtsein seiner Gemeinschaft und Verbindung mit der ewigen Weisheit auf Maria als die lebendige Stadt Gottes und die geistliche Bundeslade, auf welcher für uns das wahre Manna und die Sonne der Gerechtigkeit selbst aufgegangen; auf die Eucharistie, in der die ewige Weisheit als Brot des Lebens wesenhaft wohnt, und auf den Lehrstuhl der Wahrheit, den Christus inmitten seiner Kirche aufgerichtet hat; und die spezifisch kirchliche, die katholische Frömmigkeit mit ihrer übernatürlichen, zarten und lieblichen Gottinnigkeit charakterisiert sich zu allermeist durch die Pietät, welche sie der ewigen Weisheit auf diesem dreifachen von ihrer Majestät erfüllten Throne darbringt. Der begeisterte Anschluß an diesen dreifachen Thron Christi ist zu allen Zeiten der Höhenmesser des katholischen Lebens gewesen und wurde stets als der unzweideutige Ausdruck echt kirchlicher und katholischer Gesinnung betrachtet, weil er nichts anderes ist als der Anschluß an den in seiner Kirche gegenwärtigen und lebendig, objektiv mit ihr verbundenen Christus.“

Das gilt freilich auch umgekehrt. „Wir sagen also: Wie die wahre katholisch-kirchliche Pietät in der erhabenen Auffassung und der entsprechenden gläubigen Verehrung des dreifachen Gnadenthrones Christi, in der Eucharistie, in der heiligen Jungfrau und im Heiligen Stuhle, vorzugsweise sich kundgibt; so hat die antikirchliche, die Kirche zerreißende und erniedrigende Richtung in der abendländischen Häresie, die im Gegensatze zur morgenländischen durch freiere, lebendigere und praktischere Bewegung und darum auch mehr durch auflösende und zersetzende Tendenzen sich auszeichnet, sowohl in ihrem offenen Kampf außerhalb der Kirche, als in ihrem schlangenartigen Auftreten innerhalb der Kirche stets durch die gemeinschaftliche Anfeindung dieses dreifachen Gnadenthrones sich bemerklich macht. Beide Tatsachen aber haben darin ihren tiefsten Grund, daß die Eucharistie, Maria und der Heilige Stuhl die vorzüglichsten Bindeglieder sind, durch welche die Kirche als die wahre und volle, feste und lebendige Gemeinschaft mit Christus hergestellt, erhalten und dargestellt wird.“

3. In diesem dreifachen „Gnadenthron“ also manifestiert sich die enge, unauflösliche Verbindung zwischen Christus und Seiner Kirche, weshalb auch die Kirche notwendig und wesentlich heilig sein muß. Scheeben schreibt dazu: „Die Heiligkeit der Kirche als der durch den Heiligen Geist befruchteten und erleuchteten Braut Christi hat eine doppelte Seite. Nach der einen Seite hin besteht sie in der unentweihten übernatürlichen Fruchtbarkeit ihres Schoßes, durch welche die Kirche vermitteltst der Sakramente die sündhaften Menschen zu heiligen Kindern Gottes wiedergebiert und das in ihnen erzeugte göttliche Leben nährt, fördert, heilt und entwickelt; nach der anderen Seite hin liegt sie in der unentweihten Reinheit ihres mit dem Honig himmlischer Weisheit erfüllten Mundes, durch welche sie den Kindern Gottes die heilige Lehre ihres himmlischen Vaters verkündet und sie vermittelst derselben zu einem gottähnlichen heiligen Leben erzieht – die Heiligkeit des Lebens und der Werke der Kinder der Kirche ist nur die Frucht und das Zeugnis dieser doppelten Heiligkeit ihres Schoßes und ihres Mundes. Nach der zweiten Seite hin ist die Heiligkeit der Kirche identisch mit ihrer Unfehlbarkeit, wofern jedoch die letztere in lebensvoller Beziehung gedacht wird zum Lichte des Heiligen Geistes, aus der sie entspringt, und zu dem heiligen Leben in und aus dem Lichte der göttlichen Wahrheit, welches sie leiten und regeln soll.“

Er führt aus: „Wie nun die Heiligkeit der Kirche nach der ersten Seite hin am vollkommensten sich darin ausspricht, daß sie in der Eucharistie Christus selbst in geheimnisvoller Weise wiedergebären und den Kindern Gottes als Nahrung und Wurzel ihres übernatürlichen Lebens ins Herz legen kann: so kulminiert sie nach der anderen Seite hin darin, daß das sichtbare Oberhaupt der Kirche, durch dessen Mund Christus selbst seine Kinder leitet und weidet, nur eine durchaus reine, gesunde und heilige Lehre verkünden kann und durch seine unantastbare Autorität in Stand gesetzt ist, alle unreinen, ungesunden und unheiligen Lehren von ihnen zu entfernen und fern zu halten. Ja, die Unfehlbarkeit des Oberhauptes der Kirche ist nicht bloß die Krone ihrer Heiligkeit; ohne dieselbe kann man kaum von der Heiligkeit der lebendigen Kirche sprechen. Wo sollen wir auch in der Kirche ihre unbefleckte und unbefleckbare Heiligkeit suchen, wie noch die Kirche in ihrem lebendigen Organismus als heilig denken, wenn ihr Haupt, der wesentliche Teil dieses Organismus, von dem alle Teile desselben abhängen und in Bewegung gesetzt werden, nicht heilig ist, in dem Sinne nämlich, daß von ihm kein Einfluß ausgehen kann, der das innere Leben des ganzen Körpers durch Verkündung unheiliger Grundsätze im Prinzip vergiften und verpesten würde? Wo hätte ferner die Kirche im ganzen Bereiche ihres Organismus den unentweihten heiligen Mund, aus welchem ihre Kinder die heilige Lehre des Heils und des Lebens mit aller Sicherheit empfangen, und durch welchen alle unheiligen Irrtümer, als ihrem Geiste fremd abgewiesen und ausgeschieden werden könnten, wenn es nicht der Mund ihres sichtbaren Oberhauptes ist?“

Wohlgemerkt, der „Fürst der Neuscholastik“ betont hier, „daß das sichtbare Oberhaupt der Kirche ... nur eine durchaus reine, gesunde und heilige Lehre verkünden kann (!)“, daß „von ihm kein Einfluß ausgehen kann (!), der das innere Leben des ganzen Körpers durch Verkündung unheiliger Grundsätze im Prinzip vergiften und verpesten würde“! Das wäre unvereinbar mit der Unfehlbarkeit und Heiligkeit der Kirche, es „kann“ nicht sein! Die „Unfehlbarkeit des Oberhauptes der Kirche“ ist nicht irgendeine Eigenschaft, die der Papst nach Belieben an- oder abstellen kann, die er bei Bedarf zuschaltet wie einen „Turbo“, aber ebensogut abgeschaltet lassen kann. Sie gehört wesentlich zum päpstlichen Amt und seinen Äußerungen. Sie ist so wenig von ihm trennbar wie die Menschheit Christi von Seiner Gottheit. Die Auffassung, der Papst könne manchmal unfehlbar sein und manchmal nicht, löscht seine Unfehlbarkeit insgesamt aus, so wie die Häresie, daß in Jesus Christus Gottheit und Menschheit nicht wesentlich und untrennbar in der göttlichen Person des Logos geeinigt sind, den Gottmenschen auslöscht. Natürlich ist der Unterschied, daß der Papst eine rein menschliche Person ist und bleibt und daher nicht persönlich als Mensch unfehlbar ist, sondern nur insofern er sein höchstes Lehramt „ex cathedra“ ausübt, was beispielsweise bei einem ökumenischen Konzil jedoch fraglos der Fall ist. Die Meinung jedenfalls, die „konziliaren Päpste“ seien zwar wahre Päpste, würden jedoch – z.B. bei Heiligsprechungen – nicht mehr oder nicht immer unfehlbar handeln, weil sie an ihre Unfehlbarkeit nicht glaubten, scheint unhaltbar zu sein.

4. Scheeben: „Die unversöhnlichen Gegner der päpstlichen Unfehlbarkeit halten freilich mit den Jansenisten die Kirche selbst dann noch für heilig, wenn ihr Haupt ein Jahrtausend lang 'ein entstellender, krankhafter, atembeklemmter Auswuchs am Organismus der Kirche gewesen' (Janus S. IX.) und durch seinen Mund Jahrhunderte lang gottwidrige Irrtümer gepredigt habe, und wenn, wie jetzt, das Haupt mit dem gesamten Lehrkörper einen fundamentalen Irrtum mit äußerster Energie aufrecht halten soll. Kann man eine Kirche, bei der eine so tiefgreifende und allgemeine Entweihung möglich ist, noch heilig nennen?“ An dieser Stelle müssen wir an die „Traditionalisten“ unserer Tage denken, welche immer noch die „konziliare Kirche“ für die heilige katholische Kirche halten, wie unlängst erst wieder der „Pius-Generalobere“, welcher bei einer Weihehandlung im argentinischen La Reja sagte: „Die offizielle Kirche ist jene, die sichtbar ist, das ist die katholische Kirche...“ Auf der anderen Seite aber sprechen sie von „der inneren Zerrissenheit und Treulosigkeit der Kirche (!) gegenüber Christus“, beklagen, daß „Verwirrung, Apostasie und Tatenlosigkeit beinahe die ganze Kirche (!) erfasst haben“ und „in Rom unsägliche Häresien hoffähig werden“, ja daß die Kirche „vom liberalen Geist durchdrungen, entstellt und fast unkenntlich geworden“ sei. Einer von ihnen wetterte gar gegen ein „durch und durch verdorbenes Rom, ein Rom der totalen Ökumene, ein Rom der entdogmatisierten Barmherzigkeit, ein Rom der protestantischen Mahlmesse, ein Rom der Unterhöhlung des Papsttums“, und nannte dieses Rom „für unseren Glauben von größter Gefährlichkeit“. Wie berechtigt wäre da die Frage: „Kann man eine Kirche, bei der eine so tiefgreifende und allgemeine Entweihung möglich ist, noch heilig nennen?“

Scheeben kennt natürlich auch die Einwände, die stets stereotyp erhoben werden. „Um zu zeigen, daß der Papst nicht das heilige Fundament der Kirche sein könne, weist man hin auf die Fehler und Sünden und auf das zuweilen in der Tat keineswegs heilige Leben einzelner Päpste. Allein das beweist wiederum nur, daß die Päpste nicht durch ihr persönliches Leben und Tun das Fundament der Heiligkeit der Kirche sind; dieses ist aber auch so wenig notwendig, als die Heiligkeit der Kirche als solche in der persönlichen Heiligkeit aller ihrer Glieder besteht. Vielmehr ist die Heiligkeit der Lehre der Päpste gerade deshalb um so notwendiger für die Heiligkeit der Kirche, weil das Leben der Päpste nicht immer das heiligste ist. Denn so lange das böse Beispiel oder unheilvolle Schritte durch die eigene Lehre der Päpste gerichtet werden, können sie der Kirche nicht wesentlich schaden; so lange ist die lokale Krankheit des Hauptes keine Krankheit zum Tode für den ganzen Körper; so lange gilt das Wort: 'Was sie euch sagen, das tut, aber nach ihren Werken tut nicht'; sobald aber auch die authentische Lehre des Heiligen Stuhles gefälscht werden könnte, würde die Heiligkeit der Kirche im Prinzip gefährdet, würde die Krankheit derselben unheilbar, und müßte der andere Spruch des Heilandes Platz greifen: 'Wenn das Auge verdunkelt ist, wird der ganze Körper finster sein.'“

Noch einen weiteren Zusammenhang deckt Scheeben auf: „Übrigens vergesse man nicht, daß, wenn schon die Heiligkeit der Lehre bei den Päpsten nicht ihre persönliche Heiligkeit einschließt, so doch die unfehlbare Lehrautorität des Heiligen Stuhles als die fruchtbare Mutter all der Heiligkeit des Lebens erscheint, welche sich wirklich in der Kirche kund gibt, und daß gerade die schönsten und edelsten Blüten der Heiligkeit in ihrem Lichte entspringen, gedeihen und glänzen. Der demütige Gehorsam und die unerschütterliche Festigkeit des Glaubens, diese beiden Wurzeln der wahren Heiligkeit, entspringen und betätigen sich bei den Heiligen vorzugsweise in der Unterwerfung und dem Vertrauen gegen die Lehrautorität des Heiligen Stuhles; seine Lehre vor allem bewahrt sie vor den gefährlichen Extremen und leitet sie auf der goldenen Mittelstraße zur höchsten Höhe der Vollkommenheit; und seine Autorität ist es allein, welche ihren Tugenden den Glanz und die Krone verleiht, durch welche sie der Gegenstand der Verwunderung und Nachahmung für alle Kinder der Kirche werden.“ Das ist wohl der Grund, warum wir heute so vergeblich nach lebenden Heiligen Ausschau halten. „Es ist eine merkwürdige, wohl zu beachtende Erscheinung: wie einerseits die Heiligen vor allen Menschen die Heiligkeit des Heiligen Stuhles achten und ehren, und von ihm wiederum, wie sonst nirgendwo, geachtet und geehrt worden, so sind auch andererseits die Verächter der Heiligkeit des Heiligen Stuhles in der Regel zugleich Verächter der Heiligen und umgekehrt.“ So kommt es zu den unheiligen „Heiligen“ der „Konziliaren Kirche“, und selbst diese stellen für „Traditionalisten“ keinen Hinderungsgrund dar, in letzterer die Kirche Jesu Christi zu erblicken.

5. Scheeben stellt fest, daß „die Gegner der päpstlichen Unfehlbarkeit mehr oder minder naturalistischen und rationalistischen Anschauungen und Tendenzen huldigen, und diese gerade bei der Bekämpfung unseres Dogmas klarer als je zur Schau getragen haben“. „Diese Anschauung wenden sie natürlich auf die Kirche an, wie wir eben schon an ihren Theorien über den Organismus der Kirche gesehen, und glauben erst dann eine wahrhaft würdige Auffassung von derselben zu haben, wenn sie dieselbe recht menschlich denken und den Maßstab der übrigen menschlichen Gesellschaften an dieselbe anlegen. Wofern sie noch katholisch sein wollen, lassen sie allerdings auch etwas Übernatürliches und Göttliches, wenigstens dem Namen nach, in der Kirche zu, finden es aber nur in dem im Schoße der Kirche niedergelegten übernatürlichen Schatz von Gnade und Wahrheit – der freilich wiederum so natürlich als möglich gedacht wird – und in der göttlichen Einsetzung einer zur Verwaltung dieses Schatzes und zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung eingesetzten Hierarchie, die für Hütung und Verteilung des Schatzes sorgen soll, so gut sie eben kann und will. Die Konstitution oder Verfassung des Organismus der Kirche behält aber trotz seiner göttlichen Anordnung und seines mehr oder minder übernatürlichen Wirkungskreises den Typus der rein menschlichen gesellschaftlichen Ordnungen; die Kirche wird nicht gedacht als durch ihre hierarchischen Organe eingebaut in einen göttlichen Felsengrund, angegliedert an ein göttliches Haupt und innerlich verbunden mit dem eigenen Geiste Gottes. Basis, Wurzel und Seele des sozialen Organismus der Kirche sucht man in der Natur, während das Übernatürliche in der positiven künstlichen Kombination der natürlichen Elemente bestehen soll.“ So ist es für sie auch möglich, sich einen Papst und ein ökumenisches Konzil zu denken, die grauenhafte Irrtümer lehren, weil sie im Moment gerade ihre Unfehlbarkeit nicht gebrauchen wollen bzw. nicht die Kombination aller Elemente gegeben war, welche zur Unfehlbarkeit nötig sind.

„Hätte man einen richtigen Begriff von dem übernatürlichen Schatze der Gnade und Wahrheit, der in der Kirche niedergelegt ist, so wäre eine solche Auffassung ihres Organismus unmöglich. Begriffe man die Gnade und Wahrheit, die uns durch Christus geworden, nicht als eine bloße Nachhilfe, die der Natur zur freien Verfügung und zur gefälligen Benutzung dargeboten ist, sondern als einen Strom übernatürlichen, himmlischen, göttlichen Lichtes und Lebens, das sich aus dem Herzen des Sohnes Gottes durch die Kirche als seinen mystischen Leib ergießen soll: dann würde man begreifen, daß er die Glieder der Kirche mit ihrem gottmenschlichen Haupte verketten und seinerseits seine ganze Kraft und Wirksamkeit aus diesem schöpfen muß, daß die Verwalter der Gnadenmittel und der Lehre in Wirklichkeit die Kanäle und Organe des fortdauernden, lebendigen übernatürlichen Stromes der Gnade und der Wahrheit, des Lebens und Lichtes sind, der vom Haupte aus in alle Glieder des Leibes der Kirche sich ergießt; man würde folglich auch keinen Anstand nehmen, in den hierarchischen Organen, wie eine übernatürliche Fruchtbarkeit in Bezug auf die Gnade, so auch eine übernatürliche Erleuchtung in Bezug auf die Lehre der Wahrheit anzuerkennen.“

Die „Traditionalisten“ stellen sich die Sache ja gerne so vor, als sei die Kirche ein Eisenbahnzug, der irgendwann aus dem Geleis gesprungen ist, welches sie „Tradition“ nennen. Würde der entgleiste Zug wieder auf die Geleise gestellt, so hätte die „Kirche“ ihre „Tradition“ wieder gefunden. Sie selbst verharren auf den Schienen an dem Punkt, an welchem das Unglück geschehen ist, so etwa um das Jahr 1962 herum, und warten auf bzw. bemühen sich um die Rückkehr des Zuges auf die Geleise, die „Bekehrung der Kirche“ bzw. „Bekehrung Roms“. Damit verkennen sie völlig die Natur der Kirche und das Wesen der Tradition. Die Tradition ist nichts der Kirche äußerliches, sondern ganz und gar innerlich. Sie verhält sich zur Kirche wie die Gene zum Lebewesen und wie der Blutkreislauf zum Organismus. Sie prägt und formt die Kirche in all ihren Erscheinungen und durchströmt sie mit göttlichem Leben und Kraft, deren „Kanäle und Organe“ die „Verwalter der Gnadenmittel und der Lehre“ sind, also Papst und Bischöfe. Eine „Kirche“, welche ihre „Tradition“ verloren hat und diese erst „wiederfinden“ muß, deren Hierarchie nicht mehr Kanäle und Organe der Tradition sind, kann unmöglich die wahre Kirche sein.

6. Uns steht fest, daß es sich bei der „Konziliaren Kirche“ nicht um die Kirche Jesu Christi handelt. Den dreifachen Gnadenthron hat man in ihr entfernt. Durch die „Neue Messe“ und die „neuen“ Sakramentsriten insbesondere der Bischofsweihe hat man die eucharistische Gegenwart des Heilands weitgehend zum Verschwinden und den Gnadenstrom der Sakramente zum Versiegen gebracht. Mit der Degradierung der allerseligsten Jungfrau zu einem Mitglied der Kirche hat man sie aus der hypostatischen Ordnung herausgenommen, um sie „auf das Niveau aller anderen Glieder des mystischen Leibes Christi herabzusetzen, als prima inter pares“. Die Cathedra Petri hat man vom unfehlbaren Thron der Wahrheit in einen Lehrstuhl der Lüge und der Häresien umgewandelt. Diese „Kirche“ ist in nichts mehr heilig und bringt daher auch keine Heiligkeit und keine Heiligen hervor.

7. In der Offenbarung des heiligen Johannes wird uns die Kirche unter dem Bild der heiligen Stadt Jerusalem beschrieben mit ihrem Berg Sion als Ort der göttlichen Gegenwart. „Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herniederkommen von Gott, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine laute Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott“ (Off 21,2f). Wir sehen deutlich den göttlichen Ursprung der Kirche und die Gegenwart und das Wirken Gottes in ihr. „Und es kam einer von den sieben Engeln, welche die sieben Schalen hatten, voll der sieben letzten Plagen, und redete mit mir und sprach: Komm her, ich will dir die Braut, das Weib des Lammes zeigen“ (Off 21,9). Sie ist die geschmückte Braut des Lammes, Unseres Herrn Jesus Christus, ganz heilig, ganz makellos, ganz schön. „Und er führte mich im Geiste hinweg auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt, Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel von Gott; und sie hatte die Herrlichkeit Gottes. Ihr Lichtglanz war gleich einem sehr kostbaren Edelstein, wie ein kristallheller Jaspisstein... Und ich sah keinen Tempel in ihr, denn der Herr, Gott, der Allmächtige, ist ihr Tempel, und das Lamm. Und die Stadt bedarf nicht der Sonne, noch des Mondes, auf daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe ist das Lamm“ (Off 21,10-11.22-23). Der Glanz der Kirche, das in ihr strahlende Licht, ihre Schönheit und Heiligkeit ist Gott selbst, ist der Gottmensch Jesus Christus.

Auf der anderen Seite finden wir die Stadt „Babylon, die große, die mit dem Weine der Wut ihrer Hurerei alle Nationen getränkt hat“ (Off 14,8). Sie ist in allem das gerade Gegenteil der himmlischen Braut des Lammes. Durch ihre „Zauberei sind alle Nationen verführt worden“ (Off 18,23), „die auf der Erde wohnen, sind trunken geworden von dem Weine ihrer Hurerei“ (Off 17,2). „Und er führte mich im Geiste hinweg in eine Wüste; und ich sah ein Weib auf einem scharlachroten Tiere sitzen, voll Namen der Lästerung, das sieben Köpfe und zehn Hörner hatte. Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und Edelgestein und Perlen, und sie hatte einen goldenen Becher in ihrer Hand, voll Greuel und Unreinigkeit ihrer Hurerei; und an ihrer Stirn einen Namen geschrieben: Geheimnis, Babylon, die große, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde“ (Off 17,3-5). Ihr ganzer Prunk ist ein rein äußerer und irdischer Protz, ihr Kennzeichen ist die „Hurerei“, d.h. die Häresie und Apostasie, die „Zauberei“ und die „Lästerung“ oder Blasphemie. Ob die „Konziliare Kirche“ wohl eher mit der heiligen Stadt Jerusalem oder der großen Stadt Babylon Ähnlichkeit hat?