1. „Zu uns komme Dein Reich“, so beten wir täglich viele Male im „Vaterunser“. Was aber ist eigentlich genau damit gemeint? Zum heutigen Christkönigsfest kann es sicher nicht schaden, sich darüber ein wenig tiefere Gedanken zu machen und deshalb beim heiligen Thomas von Aquin anzuklopfen.
2. Dieser stellt in seiner Auslegung des „Vaterunser“ die Frage: „Da das Reich Gottes von jeher bestand, warum bitten wir denn, daß es kommen möge?“ Eine berechtigte Frage, denn schließlich ist es ja undenkbar und ganz unmöglich, daß Gott als der Schöpfer, Erhalter und Lenker der Welt nicht dauernd in ihr herrscht. „Dazu ist zu sagen, daß jene Worte in dreifachem Sinn ausgelegt werden können“, antwortet unser Aquinate.
Erstens nämlich kann es geschehen, „daß ein König das Herrschaftsrecht über ein Reich zwar besitzt, daß diese Herrschaft im Reiche aber nicht allgemein offenbar ist, weil sich noch nicht alle Bewohner des Reiches ihr unterworfen haben; erst dann also wird sein Herrschaftsrecht offenbar werden, wenn alle Bewohner des Reiches sich ihm unterworfen haben.“ Hier geht es also um jene Geschöpfe, die einen freien Willen haben und sich daher der Unterwerfung widersetzen können. „Gott aber ist aus sich selbst und Seiner Natur nach Herr über alles, und Christus hat von Gott die Herrschaft über alles empfangen; deshalb muß Ihm alles untertan sein.“ Eben das proklamieren wir am Christkönigsfest. „Ihm wurde die Herrschaft, die Ehre und das Reich gegeben“ (Dan 7,14). Der Heiland selbst bekennt: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18). Das aber „ist jetzt noch nicht Wirklichkeit“, sagt der engelgleiche Lehrer, „sondern wird es erst am Ende der Zeiten sein. Deshalb beten wir: 'Zu uns komme Dein Reich'...“
Konkret bitten wir damit um drei Dinge, wie der heilige Thomas sagt: „um die volle Unterwerfung der Gerechten, um die Bestrafung der Sünder und um die Vernichtung des Todes“. Er erklärt dazu: „Die Menschen werden Christus entweder freiwillig oder unfreiwillig unterworfen. Da aber der Wille Gottes so wirksam ist, daß er sich unbedingt erfüllt, und da Gott will, daß alles Christus unterworfen werde, muß von jenen zwei Möglichkeiten eine notwendig Wirklichkeit werden: entweder erfüllt der Mensch den Willen Gottes, indem er sich Seinen Geboten unterwirft – und das tun die Gerechten; oder Gott bringt Seinen Willen zur Geltung, indem Er die Ungehorsamen bestraft – dies geschieht an Seinen Feinden und den Sündern am Ende der Zeiten.“ Davon spricht der heilige Paulus in 1 Kor 15,25: „Er muß ja herrschen, bis Er alle Feinde unter Seine Füße gelegt hat“ (vgl. Ps. 109,1).
Viele Menschen, Gläubige wie Ungläubige, erliegen hier einer Fehlsicht. Sie meinen, Gott würde den Sündern und Frevlern alles durchgehen lassen. In Wahrheit übt Er nur Langmut, da Er weiß, daß sie Ihm nicht entgehen werden. Er will aber, daß alle Menschen gerettet werden und dazu sich freiwillig Seinen Geboten unterwerfen. Darum gibt Er auch den Sündern viele Gelegenheiten, umzukehren und die Unterwerfung zu vollziehen, da Er ja nicht will, daß jemand verlorengehe. Am Ende jedoch wird Seine Gerechtigkeit den vollen Sieg davontragen.
„Den Gerechten ist es daher gegeben, zu bitten, daß das Reich Gottes komme, nämlich, daß sie Gott ganz untertan seien. Für die Sünder enthält die Bitte aber etwas Schreckliches, da sie nichts anderes besagt, als daß sie nach dem Willen Gottes gerichtet werden mögen.“ Das gilt natürlich nur für die unbußfertigen Sünder, die sich bis zum Ende allen Anrufungen der Gnade hartnäckig widersetzen; bevorzugt bitten wir jedoch um die Bekehrung der Sünder, damit auch sie zu den Gerechten gehören und „Gott ganz untertan“ seien.
„Schließlich wird der Tod als der Feind des Lebens vernichtet werden“, fährt der heilige Thomas fort, auch hier dem heiligen Paulus folgend, der in 1 Kor 15,26 schreibt: „Als letzter Feind wird vernichtet werden der Tod.“ „Dies wird bei der Auferstehung geschehen“, sagt der Aquinate, gemäß dem Brief des heiligen Paulus an die Philipper: „Er wird unseren armseligen Leib zur Gleichgestalt mit dem Leibe Seiner Herrlichkeit verwandeln“ ( Phil 3,21). Diese volle Herstellung der Herrschaft Christi am Ende der Zeiten ist also der eine Sinn unserer Bitte.
3. Zweitens kann unter dem Himmelreich auch „die Herrlichkeit des Paradieses verstanden werden“. Der heilige Lehrer erläutert: „'Reich' bedeutet nämlich nichts anderes als 'Regierung'. Die beste Regierung ist nun da, wo nichts gegen den Willen des Regenten geschieht. Der Wille Gottes ist aber das Heil der Menschen, denn 'Er will, daß alle Menschen gerettet werden' [1 Tim 2,4], und dies wird vor allem im Paradies der Fall sein, wo nichts mehr dem Heil der Menschen entgegenstehen wird.“ Denn so heißt es im Evangelium: „Die Engel werden alle Ärgernisse und die Übeltäter aus Seinem Reiche zusammenlesen und sie in den Feuerofen werfen“ (Mt 13,41). „In dieser Welt aber ist vieles, was dem Heil der Menschen entgegensteht“, wie der Aquinate bemerkt. „Wenn wir also beten: 'Zu uns komme Dein Reich', so bitten wir um Teilhabe am Himmelreich und an der Herrlichkeit des Paradieses.“
Drei Gründe nennt uns der Doctor Angelicus, welche dieses Reich „höchst ersehnenswert“ machen: Zunächst wegen der „höchsten Gerechtigkeit, die in ihm herrscht“, gemäß dem Propheten Isaias: „Dein Volk werden lauter Gerechte sein“ (Is 60,21). „Hienieden sind die Guten mit den Bösen zusammen; dort aber wird es keine Bösen und keine Sünder geben.“ Der heilige Johannes prophezeit uns in seiner Offenbarung über die himmlische Stadt Jerusalem: „Nichts Unreines wird in sie eingehen und niemand, der Greuel begeht und Lüge, sondern nur jene, die eingeschrieben sind im Lebensbuch des Lammes“ (Off 21,27).
Außerdem ist es ersehnenswert wegen „der vollkommensten Freiheit“. Hienieden nämlich „gibt es keine volle Freiheit, obwohl alle naturgemäß nach ihr verlangen; dort aber werden alle jeder Knechtschaft vollkommen ledig sein, und es werden dort nicht nur alle freie, sondern auch alle Herrscher sein, denn alle werden mit Gott eines Willens sein, so daß Gott will, was die Heiligen wollen, und die Heiligen was immer Gott will; so geschieht mit dem Willen Gottes auch ihr Wille, und daher werden alle regieren, weil der Wille aller geschieht.“ „Die Schöpfung selbst wird von der Knechtschaft der Verderbnis erlöst werden und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes erlangen“, sagt der heilige Paulus (Röm 8,21). „Du hast uns zu einem Königtum gemacht für unseren Gott“, heißt es in der Offenbarung des heiligen Johannes (Off 5,10), und er beschreibt: „Und ich sah Throne, und sie [die Gerechten] setzten sich darauf, und das Gericht wurde ihnen übergeben … Sie wurden lebendig und traten die Herrschaft an mit Christus für tausend Jahre“ (Off 20,4). „Und Gott wird die Krone aller sein“, fügt der Aquinate hinzu. „An jenem Tage wird der Herr der Heeresscharen die Krone der Herrlichkeit sein, ein Kranz der Freude dem Reste Seines Volkes“ (Is 28,5). Das ist die wahre Erfüllung dessen, was die liberalen Demokratien so vergeblich auf falschen Wegen zu erreichen suchen. Sie nämlich versuchen, sich der Herrschaft Gottes und Christi zu entziehen und meinen dadurch Freiheit und Herrschaft zu erlangen, während doch das Gegenteil zum Ziel führen würde.
Überdies ist das Paradies ersehnenswert wegen „dem wunderbaren Überfluß, den das Himmelreich bietet“. Denn in „Gott allein wird der Mensch alles in höherer und vollkommenerer Weise finden, wonach er in dieser Welt sucht“. Das ist eine sehr wichtige und erwägenswerte Wahrheit für uns Menschen, die wir stets auf diese oder jene Weise nach dem Glück haschen und es hier nicht finden. „Kein Auge hat es gesehen, außer Dir, o Gott, was Du denen bereitet hast, die auf Dich harren“, sagt schon der Prophet Isaias, und der heilige Paulus wiederholt es in seinem Brief an die Korinther: „Vielmehr ist es, wie geschrieben steht: Was kein Auge sah und kein Ohr vernahm und was in keines Menschen Herz drang, was Gott denen bereitet, die Ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Der Heiland selbst verspricht Seinen Jüngern, sie würden für alles, was sie in dieser Welt zurücklassen, hundertfaches erhalten, was auf die alles übertreffenden Güter des Paradieses anspielt.
4. Als dritte Möglichkeit, so fährt der heilige Thomas fort, kann unter dem Himmelreich „die Herrschaft über die Sünde verstanden werden“. „In dieser Welt herrscht manchmal die Sünde, und zwar dann, wenn der Mensch so veranlagt ist, daß er dem Drang zur Sünde leicht folgt und nachgibt. In deinem Herzen herrsche aber Gott, und dies ist der Fall, wenn du bereit bist, Gott zu gehorchen und alle Seine Gebote zu befolgen.“ Wie der heilige Paulus an die Römer schreibt: „In Christus Jesus seid ihr tot für die Sünde und lebt für Gott. Darum soll die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe“ (Röm 6,11f). „Wenn wir also beten: 'Zu uns komme Dein Reich', so bitten wir, daß in uns nicht die Sünde, sondern Gott herrschen möge.“ Dann gilt für uns das herrliche Wort: „Sion, dein Gott ist wieder König“ (Is 52,7).
5. Insgesamt, so lehrt uns der Aquinate, werden wir durch diese Bitte dann „zu jener Seligkeit gelangen, von der es heißt: 'Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen' [Mt 5,4]“. Denn wenn „nun nach der ersten Auslegung der Mensch wünscht, daß Gott der Herr über alles sei, so rächt er ein ihm zugefügtes Unrecht nicht selbst, sondern behält Gott die Rache vor; denn wenn du dich selbst rächtest würdest du nicht bitten, daß Sein Reich komme“. Der heilige Paulus: „Rächet euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorngericht; denn es steht geschrieben: 'Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr' (Dt 32,35)“ (Röm 12,19).
„Wenn du aber nach der zweiten Auslegung Sein Reich als die Herrlichkeit des Paradieses erwartest, so darf dich der Verlust irdischer Güter nicht bekümmern.“ Darum sagt der Heiland: „Sorgt euch nicht ängstlich um euer Leben, was ihr essen oder trinken, noch für euren Leib, was ihr anziehen werdet. … Macht euch nicht Sorge und sagt nicht: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns bekleiden? Denn nach all dem trachten die Heiden. Es weiß ja euer Vater im Himmel, daß ihr all dessen bedürft. Sucht zuerst Sein Reich und Seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch dazugegeben werden“ (Mt 6,25.31-33).
„Wenn du schließlich nach der dritten Auslegung darum bittest, daß Gott und Christus in dir herrschen mögen, so mußt du sanftmütig sein, da Christus überaus sanftmütig gewesen ist.“ Nach den Worten des Heilands: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir: denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen, und ihr werdet Erquickung finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft, und meine Bürde leicht“ (Mt 29f). Eben dies ist das sanfte Joch und die leicht Bürde der Königsherrschaft Christi und Seines heiligsten und göttlichen Herzens.