Der Sophist zeigte sich einst entrüstet und setzte sich an seinen Schreibtisch, um einen Aufsatz zu verfassen. Ein „Kardinal“ hatte ihn mit seinen Aussagen zu Ehe und Familie so erbost, daß er nicht länger hintanhalten konnte und seine Meinung zu Papier bringen mußte. Zwar, so seine „captatio benevolentiae“, finde sich in den Ausführungen des „Kardinals“ „durchaus der eine oder andere schöne und richtige Gedanke“, auch habe er „völlig recht, wenn er feststellt, die zunehmende Zahl von zerbrochenen Familien bedeute für die Zukunft der Kirche eine Tragödie“. Doch schon hier vermisse man leider „die tieferen Gründe für eine solche Entwicklung“. Vollends die spärlichen „Haare zu Berge stehen“ lasse einem jedoch die Aussage des „Kardinals“ zur „Unauflösligkeit“ (eher wohl: „Unauflöslichkeit“) der Ehe, daß nämlich „viele verlassene Partner ... um der Kinder willen auf eine neue Partnerschaft und auf eine neue zivile Eheschließung angewiesen“ seien, „die sie ohne Schuld nicht wieder aufgeben können“. Hier sagt der Sophist nun „klipp und klar: Eine solche neue Verbindung ist und bleibt ein Anschlag auf die Unauflöslichkeit der Ehe und stellt eine schwere Sünde dar“.
Geradezu detektivisch findet er etwas weiter im Text „eine wahre Offenbarung des Denkens des Kardinals und seiner Gesinnungsfreunde“: „Das Konzil hat jedoch, ohne die verbindliche dogmatische Tradition anzutasten, Türen geöffnet.“ Das sei es genau, was er, der Sophist, und seine Gesinnungsfreunde „seit Jahren“ beklagten: „Das Konzil hat Türen hin zum Irrtum geöffnet und damit den nachkonziliaren Zusammenbruch wesentlich verursacht.“ Gar „Unbarmherzigkeit“ macht er dem „Kardinal“ zu Vorwurf, als dieser mit Benedikt XVI. argumentiert, welcher die „geistige Kommunion“ für „wiederverheiratete Geschiedene“ zugestanden hat, und diese auf die sakramentale Kommunion ausweiten will. „Die geistige Kommunion setzt die Reue über die Sünden voraus“, erläutert der Sophist, „und fleht Gott um Hilfe an, um einen Ausweg aus dieser Lage zu finden, während die sakramentale Kommunion den sündhaften Zustand sanktioniert, Scheidung und Konkubinat segnet und den Sünder auf seinem Weg des zeitlichen und ewigen Verderbens bestätigt. … Kann es also eine größere Unbarmherzigkeit den Seelen gegenüber und ein größeres Unrecht hinsichtlich der Lehre der Kirche geben?“ Das „Kompendium zum Katechismus der katholischen Kirche“ (gemeint ist die „Konzilskirche“; Anm.) sage „mit der ganzen Tradition ..., die Sünder zurechtzuweisen sei ein geistiges Werk der Barmherzigkeit“. Somit kommt der Sophist zu seinem Urteil: „Hier sieht man, wie die Männer der Kirche nach dem Konzil den übernatürlichen Gesichtspunkt des Heiles der Seele fast vollständig aus dem Blick verloren haben. Offensichtlich weiß der Kardinal nicht zu unterscheiden zwischen dem Verwerfen der Sünde und der Barmherzigkeit dem Sünder gegenüber.“
Befriedigt legte der Sophist die Feder beiseite und dachte an jene „Männer der Kirche“, die „nach dem Konzil den übernatürlichen Gesichtspunkt des Heiles der Seele fast vollständig aus dem Blick verloren haben“, mit welchen man gleichwohl in hoffnungsvollen Verhandlungen stand, von ihnen in jene „katholische Kirche“ aufgenommen zu werden, welche die „Türen hin zum Irrtum geöffnet“ hatte. Wenn man die „Türen hin zum Irrtum geöffnet“ hatte, warum sollte man sie dann nicht auch zu ihm, dem Sophisten, und seinen Gesinnungsfreunden öffnen?
Unterdessen war es Abend geworden, und der Sophist begab sich nach draußen, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten. Dabei geriet er in die Dunkelheit und den Wald, wo er auf einer Lichtung ein merkwürdiges Häuschen mit einem brennenden Feuer davor gewahrte. Neugierig trat er näher und sah ein wunderliches kleines Männlein, welches närrisch um das Feuer sprang und hüpfte und dabei lustig vor sich hin sang: „Heute back' ich, morgen brau' ich, übermorgen hol' ich der Königin ihr Kind. Ei, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß'.“ „Heda!“ rief er das Männlein an, „hören Sie: Was soll dieser läppische Tanz und dieses sonderbare Sprüchlein?“ Das Männlein hielt erschrocken inne und trat auf ihn zu. „Wer – wer seid Ihr? Ein Bote der Königin?“ „Nein, ich bin der Sophist!“ „Ah, das ist gut, denn die Königin darf nichts von dem erfahren, was Ihr gesehen und gehört habt.“ „Wieso nicht?“ examinierte ihn streng der Sophist. „Äh – weil sie mir ihr Kind versprochen hat, wenn ich ihr helfe, Stroh zu Gold zu spinnen, und nun will sie den Vertrag nicht halten, was sie aber muß, es sei denn, sie erriete meinen Namen.“
„Sie reden irre!“ fuhr der Sophist ihn an. „Nein, nein, ganz gewiß. Seht Ihr, es war so: Das arme Mädchen hatte den Auftrag, Stroh zu Gold zu spinnen, dann würde der König sie heiraten, andernfalls man sie töten würde. Ich habe ihr nur geholfen, und da hat sie mir ihr Kind als Lohn versprochen.“ „Nun“, räusperte sich der Sophist, „darin ist durchaus der eine oder andere schöne Gedanke, z.B. daß der König das Mädchen zur Frau nehmen und Sie dem Mädchen helfen wollten, und Sie hatten auch recht, wenn Sie feststellten, daß der angedrohte Tod für die Zukunft des Mädchens eine Tragödie bedeutete. Allein vermisse ich noch die tieferen Gründe für diese Entwicklung.“ „Ja, wißt Ihr, der Vater des Mädchens, ein einfacher Müllersmann...“, hub das Männlein an. „Genug“, winkte der Sophist ab, „ich will es gar nicht wissen. Was mir jedoch wahrhaft die Haare zu Berge stehen läßt, ist der Gedanke, daß das Mädchen um des Goldes willen auf den Handel mit dem Kind angewiesen war, den sie nun ohne Schuld nicht mehr aufgeben kann. Ich sage dazu klipp und klar: So etwas ist und bleibt ein Anschlag auf das Wohl des Kindes und stellt eine schwere Sünde dar.“
Das Männlein sah etwas betreten drein. „Nun ja, seht Ihr, das Mädchen hatte sonst nichts mehr anzubieten. Die Türen waren ja zu, man hatte sie eingeschlossen...“ „Ha!“ unterbrach ihn der Sophist. „Das ist ja eine wahre Offenbarung des Denkens dieses Königs und seiner Gesinnungsfreunde! Zu Ihnen hat man die Türen natürlich weit geöffnet, damit Sie eintreten und den schändlichen Kindeshandel treiben konnten!“ „Äh nein, ich, äh....“ „Schweigen Sie!“ unterbrach ihn der Sophist. „Es war doch sozusagen eine Notlage...“ wagte das Männlein dennoch schüchtern einzuwerfen. „In einer Notlage“, erläuterte der Sophist, „fleht man Gott um Hilfe an, um einen Ausweg aus der Lage zu finden, während der schändliche Handel um Ehe, Gold und ein Kind die Sünde sanktioniert und den Sünder auf seinem Weg des zeitlichen und ewigen Verderbens bestätigt. Kann es eine größere Unbarmherzigkeit dem Mädchen gegenüber und ein größeres Unrecht gegen ihr armes Kind geben?“ Das Männlein stand still und stumm. Der Sophist jedoch fuhr voll Eifer fort: „Sagt nicht das Kompendium zum Katechismus der katholischen Kirche mit der ganzen Tradition, die Sünder zurechtzuweisen sei ein geistiges Werk der Barmherzigkeit? Ich will mich sogleich hinsetzen und einen Aufsatz verfassen, um aufzuzeigen, wie dieser König und seine Leute den übernatürlichen Gesichtspunkt des Heiles der Seele fast vollständig aus dem Blick verloren haben. Offensichtlich weiß der König nicht zu unterscheiden zwischen der Gier nach Gold und der Barmherzigkeit dem Mädchen gegenüber...“ In Gedanken schon ganz bei seinem Schreibtisch machte er sich eilends auf den Weg.
„Hallo“, rief das Männlein ihm nach, „hallo - und werdet Ihr nun der Königin meinen Namen verraten?“ „Was für einen Namen? Stören Sie mich nicht“, herrschte der Sophist ihn an, „ich habe jetzt keine Zeit für solche Spielereien. Ich muß einen wichtigen Aufsatz schreiben.“ Vor sich hin gestikulierend verschwand er im Wald. Das Männlein aber machte einen Sprung in die Luft und nahm sein Tänzchen wieder auf: „Heute back' ich, morgen brau' ich, übermorgen hol' ich der Königin ihr Kind. Ei, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß'.“