1. Das Fest der Verkündigung Mariens ist zugleich das Fest des „Ave Maria“, denn den Worten, welche der heilige Erzengel Gabriel an diesem Tag an die allerseligste Jungfrau richtete, verdanken wir den „englischen Gruß“. Der heilige Thomas von Aquin lehrt uns darüber, daß dieser drei Teile enthält. Er beginnt mit dem Gruß des Engels: „Gegrüßet seist du, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern.“ Es folgen die Worte ihrer Base, der heiligen Elisabeth, welche die Mutter von Johannes dem Täufer gewesen ist: „Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.“ Die Kirche hat den Namen „Maria“ hinzugefügt, denn dieser war im ursprünglichen Gruß des Engels nicht enthalten. Dennoch entspricht seine Einfügung vollkommen den Worten des heiligen Gabriel.
2. Der heilige Thomas weist darauf hin, „daß es schon in ältester Zeit etwas sehr Großes war, wenn Engel den Menschen erschienen, und man es den Menschen zum höchsten Lobe anrechnete, wenn sie den Engeln Ehrfurcht erwiesen“, so wie es z.B. bei Abraham war. „Daß aber ein Engel einem Menschen Ehrfurcht erwies, das war etwas Unerhörtes, bis der Erzengel Gabriel die allerseligste Jungfrau grüßte, indem er ehrerbietig zu ihr sprach: 'Gegrüßet seist du!'“ Es mag dies ein Grund für das Erschrecken der allerseligsten Jungfrau gewesen sein und zeigt, daß hier wirklich etwas ganz Neues, Unerhörtes geschah.
3. Der Grund, warum normalerweise die Menschen den Engeln Ehrfurcht zu erzeigen haben und nicht umgekehrt, liegt darin, „daß die Engel höhere Wesen als die Menschen sind“, und das in dreifacher Hinsicht: Erstens hinsichtlich ihrer Würde, denn die „Engel besitzen eine rein geistige Natur, die Menschen hingegen eine der Verwesung unterworfene“; zweitens in der Gottesnähe, denn die „Engel sind gewissermaßen Hausfreunde Gottes, da sie Ihm zur Seite stehen; die Menschen hingegen sind durch die Sünde gleichsam Gott entfremdet und von Ihm entfernt“; drittens endlich in „Hinsicht auf die Fülle des göttlichen Gnadenlichtes“, an welchem die Engel „in höchstem Maße“ teilnehmen. „Deshalb erscheinen sie auch stets von Licht umflossen. Die Menschen hingegen nehmen an jenem Gnadenlichte nur in beschränktem Maße teil, so daß sie immer mit etwas Dunkelheit erscheinen.“
4. Wenn also nun der Engel die Jungfrau grüßt, so entnehmen wir daraus, daß sie ihrerseits dem Engel in dieser dreifachen Hinsicht überlegen war. Zunächst nämlich übertraf sie die Engel durch Fülle an Gnade, was der heilige Erzengel andeutete durch die Worte: „Du bist voll der Gnade.“ Diese Gnadenfülle ist wiederum eine dreifache. Einmal besteht sie in bezug auf ihre Seele. Die Gnade wird einer Seele von Gott verliehen, um das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Da die allerseligste Jungfrau die Gnade im höchsten Maße besaß, hat sie „die Sünde mehr gemieden als irgendein Heiliger nach Christus, und auch alle Tugenden ausgeübt“. Während sich andere Heilige mehr in der einen oder anderen Tugend auszeichnen, etwa in der Demut oder Keuschheit, und uns daher als Vorbilder für je bestimmte Tugenden vorgestellt werden, so ist die allerseligste Jungfrau vollkommen und Vorbild in allen Tugenden.
Zweitens äußerte sich die Gnadenfülle durch ihr Überströmen von der Seele auf den Leib. Die Seele der allerseligsten Jungfrau „war so von Gnade erfüllt, daß diese auf den Leib überströmte, so daß er den Sohn Gottes empfangen konnte“. Drittens ist kennzeichnend für ihre Gnadenfülle, daß diese auf alle Menschen überströmt. Wenn ein Heiliger soviel Gnade besitzt, daß sie „zum Heile vieler anderer hinreicht“, ist es schon etwas Großes. Das Höchste ist aber, so viel Gnade zu besitzen, daß sie „zum Heile aller Menschen der Welt hinreichte“. Eben das war nächst Christus bei der allerseligsten Jungfrau der Fall. „Darum kannst du von ihr in jeder Gefahr Hilfe erlangen und Beistand bei guten Werken jeglicher Art.“ Wie wir sehen, ist dieser in der Kirche von jeher geübte fromme Brauch theologisch fest begründet.
„So ist also die allerseligste Jungfrau voll der Gnade und übertrifft die Engel durch ihre Gnadenfülle. Deshalb wird sie mit Recht 'Maria' genannt, was soviel bedeutet wie 'die in sich Erleuchtete' und auch 'die Erleuchterin der anderen', nämlich aller Menschen der Welt. Deshalb wird sie auch mit der Sonne und dem Mond verglichen.“
5. Doch nicht nur an Gnadenfülle, sondern auch an Gottesnähe übertrifft die allerseligste Jungfrau die Engel, was der heilige Gabriel andeutet mit den Worten: „Der Herr ist mit dir.“ Für den Erzengel Gabriel ist auch der göttliche Sohn „Herr“, für sie ist er ihr Sohn. Der Heilige Geist wohnt mit der Fülle Seiner Gnade in ihr, weshalb sie auch „Tempel des Herrn“ genannt wird oder „Heiligtum des Heiligen Geistes“. Sie steht somit in einem viel innigeren und vertrauteren Verhältnis zur ganzen heiligsten Dreifaltigkeit als die Engel, weshalb von ihr gesungen wird: „Du bist die edle Ruhestatt der Heiligsten Dreifaltigkeit“. Als Mutter des Herrn ist die allerseligste Jungfrau selbst Herrin, und „mit Recht kommt ihr daher der Name 'Maria' zu, der in der syrischen Sprache 'Herrin' bedeutet“.
Wie an Gnadenfülle und Nähe zu Gott, so übertrifft die allerseligste Jungfrau die Engel auch an Reinheit, „denn sie war nicht nur in sich rein, sondern hat auch anderen die Reinheit vermittelt“. Sie war vollkommen frei von jeder Schuld, von der Erbsünde wie von jeder persönlichen Sünde und daher auch von jeder Strafe. Es wurde nach der Ursünde ein dreifacher Fluch über die Menschen ausgesprochen. Der Fluch über die Frau bestand darin, „daß sie in Verderbnis empfangen, mit Beschwerden tragen und in Schmerzen gebären werde“. Die allerseligste Jungfrau war von diesem Fluch ausgenommen, denn „sie hat den Erlöser ohne Verderbnis empfangen, unter Tröstungen getragen und in Freuden geboren“. Der Fluch für den Mann besagte, daß er im Schweiße seines Angesichtes sein Brot essen solle. Davon war Maria als Frau ohnehin nicht betroffen.
Der Fluch für alle Menschen aber besteht darin, daß alle sterben und zum Staube zurückkehren müssen. Auch dieser Fluch galt nicht für die allerseligste Jungfrau. Wenn wir auch allgemein annehmen, daß sie wie Christus freiwillig den Tod auf sich nahm, so wurde sie doch nicht der Verwesung überlassen, sondern mit dem Leib in den Himmel aufgenommen. Der heilige Thomas: „Wir glauben nämlich, daß sie nach dem Tode wieder auferweckt und in den Himmel emporgetragen wurde. 'Erhebe Dich, Herr, zu Deiner Ruhe, Du und die Lade Deiner Majestät!' (Ps. 131,8).“
„So war die allersligste Jungfrau also von jedem Fluche ausgenommen, und deshalb ist sie gebenedeit unter den Weibern, denn sie allein hat den Fluch aufgehoben, den Segen gebracht und die Pforte des Paradieses geöffnet. Mit Recht kommt ihr daher der Name 'Maria' zu, der auch 'Meerstern' bedeutet: denn wie die Schiffer durch den Meerstern zum Hafen geführt werden, so werden die Christen durch Maria zur himmlischen Herrlichkeit gelangen.“
6. Zu den Worten der heiligen Elisabeth: „Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“, führt der heilige Thomas folgendes aus: „Der Sünder sucht manchmal in einem Ding etwas und kann es nicht erlangen, während der Gerechte es erlangt. So verlangte Eva nach der Frucht, fand aber in ihr nicht, was sie begehrt hatte. Hingegen fand die allerseligste Jungfrau in ihrer Frucht alles, was Eva begehrt hatte.“ Maria ist hier wirklich ganz der „Anti-Typus“ von Eva. Das ist der berühmte Gegensatz „Eva – Ave“, von dem auch der Hymnus „Ave Maris Stella“ singt: „Sumens illud Ave Gabrielis ore, Funda nos in pace, Mutans Hevae nomen. - Aus des Engels Munde Ward die frohe Kunde, Uns den Frieden spende, Evas Namen wende.“
Erstens nämlich suchte Eva in der verbotenen Frucht die Gottähnlichkeit. Der Teufel hatte ihr versprochen, sie werde sein wie Gott, „erkennend Gutes und Böses“ (Gen 3,5). Doch als Lügner und Vater der Lüge hat der Teufel gelogen, und so wurde Eva durch den Genuß der verbotenen Frucht keineswegs Gott ähnlicher, sondern vielmehr unähnlicher, da sie sich durch die Sünde von Ihm abgewandt hatte, weshalb sie auch aus dem Paradies vertrieben wurde. „Die allerseligste Jungfrau hingegen, und alle Christen, haben die Gottähnlichkeit durch die Frucht ihres Leibes erlangt, denn durch Christus werden wir mit Gott verbunden und Ihm ähnlich.“ Es ist klar, daß Maria in ganz besonders überragender Weise durch ihre Frucht Gott ähnlich ist.
Zweitens suchte Eva Genuß in der Frucht, „weil sie wohlschmeckend war“. Sie fand aber nicht den Genuß, sondern erkannte sogleich ihre Nacktheit und empfand Schmerz. „Aber in der Frucht der allerseligsten Jungfrau finden wir Süßigkeit und Heil: 'Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, hat das ewige Leben' (Joh. 6,45).“ Drittens schließlich suchte Eva in der Frucht Schönheit, denn sie war von schönem Aussehen. „Aber weit schöner ist der allerseligsten Jungfrau Frucht, denn sie ist der Abglanz von der Herrlichkeit des Vaters.“
So konnte also Eva in ihrer Frucht nicht finden, was sie suchte, wie dies bei den Sündern stets der Fall ist, die in ihren Sünden nicht finden, was sie eigentlich suchen. „Und daher müssen wir das, was wir begehren, in der Frucht der Jungfrau suchen. Diese Frucht ist von Gott gebenedeit, und Er hat sie mit jeglicher Gnade erfüllt, die auch uns zuteil wird, wenn wir sie verehren. So ist also die Jungfrau gebenedeit, und noch mehr gebenedeit die Frucht ihres Leibes.“
7. Der Zusatz, welchen wir heute beim „Ave Maria“ beten: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“, war zur Zeit des Aquinaten noch nicht üblich. Er kam erst im 16. Jahrhundert in Gebrauch und findet sich seit 1568 im Brevier. Er ist jedoch durch den 450jährigen Gebrauch in der Kirche geheiligt und ein mächtiges Gnadenmittel, vor allem zur Erlangung der Gnaden für einen guten Tod. „Und nach diesem Elende zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes, o gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria!“