Der Sophist litt einst großen Schmerz, denn der „Heilige Vater, Papst Franziskus“, hatte „zum Abschluss des Jahres des Glaubens sein Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute veröffentlicht“. Diesem Dokument, so rügte der Sophist, fehlte es „an Präzision, Prägnanz und Klarheit“ und es sei „nicht von Widersprüchen frei“. „Ohne jeden Zweifel“ enthalte freilich das Schreiben „eine ganze Reihe positiver Gesichtspunkte und Erwägungen, die nicht verschwiegen werden dürfen“, weshalb er denn auch gleich „eine Anzahl von ihnen“ anführte. Jedoch, so dozierte er und hob mahnend den Zeigefinger: „Bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu, sagt das klassische Sprichwort: Das Gute fließt aus der Fülle; ist dagegen ein wesentlicher Teil einer Sache schlecht, so ist das Ganze schlecht“, und so könnten denn die „guten und erfreulichen Gesichtspunkte im päpstlichen Schreiben“ nicht „hinwegtäuschen über den festen Willen, das Zweite Vatikanum nicht nur dem Buchstaben, sondern dem (Un-)Geist nach zu verwirklichen“. Im Fazit stellte er somit schmallippig und mit gehobenen Augenbrauen fest: „Das päpstliche Schreiben Evangelii Gaudium mag wie Saatkörner verstreut richtige Gesichtspunkte enthalten. Im Ganzen aber ist es nichts anderes als die Fortentwicklung des Zweiten Vatikanischen Konzils in dessen unannehmbarsten Aussagen. Wir sehen in ihm nicht 'Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren' (Nr. 1), sondern einen weiteren verhängnisvollen Schritt für den Niedergang der Kirche, den Zerfall ihrer Lehre, die Zersetzung ihrer Strukturen und selbst das Erlöschen ihres missionarischen Geistes, der immer wieder beschworen wird. So wird Evangelii Gaudium zum Dolor Fidelium, zum Leid und Schmerz der Gläubigen.“ Also belehrte der Sophist seinen „Heiligen Vater“ und tadelte oberlehrerhaft dessen „päpstliches Schreiben“.
Als er sich sodann im Freien erging, um seinem „Leid und Schmerz“ ein wenig Luft zu machen, begegnete ihm eine merkwürdige Prozession von sieben Zwergen, die einen gläsernen Sarg trugen, darin tot ein schönes, schwarzhaariges Mädchen lag. Just als der Trauerzug am Sophisten vorbeikam, gerieten die Zwerge ins Stolpern, der Sarg polterte herab, das Mädchen purzelte heraus, und aus ihrem Mund fiel ein Stück Apfel, woraufhin das Mädchen die Augen aufschlug und wieder lebendig ward. „Wo bin ich?“ fragte sie, „was ist geschehen?“ Doch gleich erinnerte sie sich, daß ihre böse Stiefmutter sie aus Neid mit einem Apfel vergiftet hatte. Das schien nun dem Sophisten doch eine arge Ungezogenheit, daß ein Mädchen seiner Mutter so etwas zutraute! „Höre“, so fuhr er das Mädchen an, „es ist ausgesprochen ungehörig, seine eigene Mutter in dieser Weise zu beschuldigen! Nie wird eine liebe Mutter ihrem Kind so etwas antun!“ „Meine böse Stiefmutter“, entgegnete das Mädchen etwas kleinlaut.
Der Sophist überhörte dies und referierte weiter über den Gehorsam und die Ehrfurcht, die ein Kind seiner Mutter schulde, denn schließlich seien die elterlichen Autoritäten von Gott eingesetzt. „Aber Sie“, wagte nun das Schneewittchen etwas schüchtern einzuwenden, „Sie selber kritisieren doch auch Ihren Heiligen Vater und sind ihm ungehorsam, und dabei ist dieser doch von Gott als Stellvertreter Christi eingesetzt!“ „Aber das ist doch ganz etwas anderes als seine Mutter des Mordes am eigenen Kind zu beschuldigen!“ „Wieso? Immerhin werfen Sie ihm vor, für 'den Niedergang der Kirche, den Zerfall ihrer Lehre, die Zersetzung ihrer Strukturen und selbst das Erlöschen ihres missionarischen Geistes' verantwortlich zu sein, und das durch ein 'päpstliches Schreiben'. Ist das nicht noch schlimmer als seine eigene Mutter des Mordes an ihrem Kind zu beschuldigen?“ „Papperlapapp, das verstehst du nicht! Deinem Gerede fehlt es an Präzision, Prägnanz und Klarheit, und es ist nicht von Widersprüchen frei“, erwiderte der Sophist von oben herab. „Schließlich ist das nur der Papst, und der kann sagen was er will, ich bleibe doch katholisch. Denn ich bin der Sophist, und du bist nur ein Kind! Quod licet Iovi, non licet bovi, sagt das klassische Sprichwort!“
Dennoch versuchte das Mädchen einen weiteren Einwand: „Wenn es aber nun einmal wahr ist, daß meine Stiefmutter mir einen vergifteten Apfel gegeben hat...“ „Ohne jeden Zweifel war der Apfel nicht ganz vergiftet, sondern enthielt noch eine ganze Reihe positiver, guter und erfreulicher Gesichtspunkte und Bestandteile, z.B. Vitamine, Mineralstoffe...“ „Ja, aber haben Sie nicht selbst gesagt: Ist ein wesentlicher Teil einer Sache schlecht, so ist das Ganze schlecht?“ „Trotzdem dürfen die wie Saatkörner verstreuten richtigen Bestandteile nicht verschwiegen werden!“ „Aber die gute Hälfte vom Apfel hat doch meine Stiefmutter selber gegessen“, maulte das Mädchen leise, doch der Sophist überhörte auch das. „Freilich“, so sinnierte er stattdessen vor sich hin, „können uns diese guten und erfreulichen Gesichtspunkte nicht hinwegtäuschen über den festen Willen, hier eine Vergiftung nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem (Un-)Geist nach zu verwirklichen.“ Bedächtig abwägend wiegte er sein Haupt hin und her und kam, da er ja ein ausgewogenes Urteil suchte, zu keinem rechten Schluß. „Einerseits... andererseits...“, murmelte er, „indes... sodann...“
Das Mädchen war unterdessen hungrig geworden, schließlich war sie schon einige Tage im Sarg gelegen. Da sah sie ein Apfelstück am Boden und steckte es unbedarft in ihren Mund, ohne zu beachten, daß es eben jenes vergiftete Stückchen war, das sie vorhin ausgespien hatte. Die Zwerge schrien noch „Halt!“, doch zu spät: Schneewittchen war tot, und jetzt endgültig, denn der Apfel war diesmal nirgends mehr steckengeblieben. Traurig luden sie das Mädchen wieder in ihren Sarg und zogen weiter. „Ja, ja“, stellte der Sophist zufrieden fest, nun doch zu einer Lösung gelangt zu sein: „So wird die Freude über die Rettung des Schneewittchen zum Leid und Schmerz der Zwerge!“ Er setzte eine leidende Miene auf und schloß sich dem Trauerzug an.