Einleitung
Angesichts des unvorstellbaren Glaubensabfalles im einstmals christlichen Abendland seit Mitte des 20. Jahrhunderts stellt sich die Frage nach dem tieferen Grund für diese Entwicklung. Was veranlaßt die Mehrheit der heute lebenden Menschen, den Glauben aufzugeben und sich von Gott abzuwenden? Was führt sie zu der Überzeugung, man könne auch ohne Glauben, man könne ohne Gott leben? Oder was begründet in ihnen schließlich die Überzeugung, es gebe überhaupt keinen Gott?
Forscht man nach den Gründen für diesen großen Glaubensabfall, so begegnen einem viele unterschiedliche Meinungen. Eines aber durchtönt die Vielfalt der Anschauungen, nämlich die Überzeugung, daß der Fortschritt in den Wissenschaften einen entscheidenden Einfluß auf diese Entwicklung hatte. Dies wird allein schon daraus ersichtlich, daß die große Mehrheit der heutigen Wissenschaftler nicht mehr an Gott glaubt, die meisten also Atheisten geworden sind. Geschichtlich betrachtet hatte die Auseinandersetzung zwischen dem Glauben und der Wissenschaft viele Gesichter. Diese reichen von einer ungetrübten Einmütigkeit bis hin zur offenen Feindschaft. Dabei ist das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft für das Denken des Menschen entscheidend, denn dem Menschen ist es ein grundlegendes Bedürfnis, sein Wissen in ein System einzubinden. Aus diesem Grund muß er den Glauben mit der Wissenschaft vereinen, denn nur so ist eine universale Weltdeutung möglich. Der wissenschaftlich denkende Mensch ist gezwungen sich zu fragen, welchen Stellenwert der Glaube in seinem System hat, denn sowohl der Glaube als auch die Wissenschaft beanspruchen, universale Weltdeutung zu sein. Seit der Aufklärung nun verschärften sich die Differenzen zwischen Glauben und Wissenschaft, und das Verhältnis beider wurde allmählich zu einem Gegensatz. Die moderne Wissenschaft begann, ausschließlich für sich eine geschlossene, allgemeine, vor den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vertretbare Welterklärung zu beanspruchen, wobei sie allein die Materie und ihre Wirkweise als genügenden Grund der Weltwerdung postulierte, also Gott ganz ausschloß. Dieses Postulat versuchte man im Laufe der Zeit wissenschaftlich weiter zu untermauern und damit den eigenen Anspruch in der Öffentlichkeit zu festigen.
Man hätte aufgrund dieser Entwicklung in den modernen Wissenschaften eigentlich erwarten müssen, daß es für jeden katholischen Wissenschaftler fortan zu einer Existenzfrage geworden sei, ob er auf dieser Basis überhaupt mit der modernen Wissenschaft zusammenarbeiten könne. Aber offensichtlich war (und ist) das nicht der Fall, vielmehr hat man den Eindruck, diese Problematik wurde (und wird) nur von sehr wenigen wahrgenommen und vor allem seit dem "Zweiten Vatikanischen Konzil" kaum noch ernst genommen. Darum soll in dieser Arbeit der Versuch gemacht werden, anhand der Auseinandersetzung des kirchlichen Lehramtes mit dem ersten Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Problematik zu erarbeiten. Dabei beispielhaft die Auseinandersetzung mit dem ersten Modernismus heranzuziehen, bietet sich insofern besonders an, als wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits schon eine vehemente Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Glaube feststellen können – man denke nur an Ernst Haeckel und seinen monistischen Bund – andererseits aber auch noch auf eine klare Stellungnahme des Lehramtes, die wahre Orientierung im Kampf mit dem Modernismus gewährt, zurückgreifen können, was man später immer mehr wird vermissen müssen.
1. Die Prinzipien bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft und Glaube nach dem (I.) Vatikanischen Konzil
Bevor wir die Auseinandersetzung zwischen der modernen Wissenschaft und dem Glauben darstellen können, ist es zunächst notwendig, den Grundsatz in Erinnerung zu rufen, den die Kirche in bezug auf das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft immer vertreten und verteidigt hat. Das (I.) Vatikanum sagt dazu in der Dogmatischen Kostitution über den Glauben „Dei Filius“, Kap. 4, Glaube und Vernunft (3. Sitzung 24. April 1870): „Auch dies hielt und hält das fortwährende Einverständnis der katholischen Kirche fest, daß es eine zweifache Ordnung der Erkenntnis gibt, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden ist: und zwar im Prinzip, weil wir in der einen Ordnung mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer dem, wozu die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten [Kan. 1].“
Die Väter des Konzils betonen, daß eine zweifache Ordnung des Erkennens existiert. Einerseits sind wir fähig mit unserer natürlichen Vernunft diese Welt in ihrem besonderen Sein zu erkennen, um daraus „durch das, was gemacht ist“, Gott als Schöpfer aller Dinge zu erschließen. Anderseits können wir durch den übernatürlichen, göttlichen Glauben so in unserer Seele erleuchtet werden, daß uns der natürlichen Vernunft an sich verborgene Einsichten in die Geheimnisse Gottes gewährt werden. Dabei ist jedoch zu beachten: „Zwar erlangt die vom Glauben erleuchtete Vernunft, wenn sie fleißig, fromm und nüchtern forscht, sowohl aufgrund der Analogie mit dem, was sie auf natürliche Weise erkennt, als auch aufgrund des Zusammenhanges der Geheimnisse selbst untereinander und mit dem letzten Zweck des Menschen mit Gottes Hilfe eine gewisse Erkenntnis der Geheimnisse, und zwar eine sehr fruchtbare; niemals wird sie jedoch befähigt, sie genauso zu durchschauen wie die Wahrheiten, die ihren eigentlichen Erkenntnisgegenstand ausmachen. Denn die göttlichen Geheimnisse übersteigen ihrer eigenen Natur nach so den geschaffenen Verstand, daß sie, auch wenn sie durch die Offenbarung mitgeteilt und im Glauben angenommen wurden, dennoch mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt bleiben, solange wir in diesem sterblichen Leben 'ferne vom Herrn pilgern: im Glauben nämlich wandeln wir und nicht im Schauen' [2 Kor 5,6f]“ (DH 3016).
Der Glaube schenkt uns ein besonderes, gottgegebenes Wissen über Gott und andere Wahrheiten. Dieses Wissen bleibt für uns jedoch, solange wir in diesem Leben weilen, immer dunkel. Die Glaubenswahrheit ist uns nicht in derselben Weise einsichtig wie Erkenntnisse über die natürlichen Dinge. „Denn die göttlichen Geheimnisse übersteigen ihrer eigenen Natur nach so den geschaffenen Verstand, daß sie, auch wenn sie durch die Offenbarung mitgeteilt und im Glauben angenommen wurden, dennoch mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt bleiben, solange wir in diesem sterblichen Leben 'ferne vom Herrn pilgern: im Glauben nämlich wandeln wir und nicht im Schauen'.“ Trotz des Dunkels des Glaubens ist aber immer zu beachten und festzuhalten, daß der Glaube dennoch ein wahres Wissen verleiht! Beide, Glaube und Vernunft, sind wahre Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, wenn sie auch der Art nach verschieden sind. Der Glaube steht sogar grundsätzlich über der Erkenntnis der Vernunft, weil er auf die Autorität des sich offenbarenden Gottes gegründet ist.
Daraus schließt nun das Vatikanische Konzil für das Verhältnis von beiden: „Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben [vgl. 2776; 2811]: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch kann jemals Wahres Wahrem widersprechen. Der unbegründete Anschein eines solchen Widerspruchs aber entsteht vor allem daraus, daß entweder die Lehrsätze des Glaubens nicht im Sinne der Kirche verstanden und erläutert wurden oder Hirngespinste für Aussagen der Vernunft gehalten werden. 'Wir definieren' also, 'daß jede der Wahrheit des erleuchteten Glaubens entgegengesetzte Behauptung völlig falsch ist' [5. Konzil im Lateran: 1441]“ (DH 3017).
Wenn also beide, Glaube und Vernunft, wahre Erkenntnis gewähren, so ist es unmöglich, daß zwischen diesen ein Widerspruch entstehen kann, „denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch kann jemals Wahres Wahrem widersprechen.“ Kommt es aber trotzdem zu einem Widerspruch zwischen Glaube und Vernunfterkenntnis, dann liegt dies an der mangelnden Einsicht des Menschen in eine dieser beiden Quellen der Erkenntnis. Es ist nämlich möglich, „daß entweder die Lehrsätze des Glaubens nicht im Sinne der Kirche verstanden und erläutert wurden oder Hirngespinste für Aussagen der Vernunft gehalten werden.“ Dabei ist aber immer zu beachten, daß der (durch die Göttliche Autorität verbürgte und darob unfehlbare) Glaube über der (so leicht irrtumsfähigen) menschlichen Vernunft steht. Aus diesem Grunde definieren wir also, schließt darum das Konzil, „daß jede der Wahrheit des erleuchteten Glaubens entgegengesetzte Behauptung völlig falsch ist“ [5. Konzil im Lateran: 1441].
„Weiter hat die Kirche, die zusammen mit dem apostolischen Amt der Lehre den Auftrag empfangen hat, die Hinterlassenschaft des Glaubens zu hüten, von Gott auch das Recht und die Pflicht, 'Erkenntnis', die fälschlich diesen Namen trägt [vgl. 1 Tim 6,20], zu ächten, damit keiner durch Philosophie und eitlen Trug getäuscht werde [vgl. Kol 2,8; Kan. 2]. Deswegen ist nicht nur allen gläubigen Christen verboten, solche Meinungen, von denen man erkennt, daß sie der Lehre des Glaubens entgegengesetzt sind - vor allem, wenn sie von der Kirche verworfen wurden -, als rechtmäßige Folgerungen der Wissenschaft zu verteidigen, sondern sie sind vielmehr durchaus verpflichtet, sie für Irrtümer zu halten, die den trügerischen Schein von Wahrheit vor sich hertragen“ (DH 3018).
Die Folgerungen der Konzilsväter sind eindeutig: Wenn der Glaube göttliches Wissen verbürgt, so ist er allein die letzte Norm menschlichen Wissens. Die Kirche hat darum die Aufgabe und „die Pflicht, 'Erkenntnis', die fälschlich diesen Namen trägt [vgl. 1 Tim 6,20], zu ächten, damit keiner durch Philosophie und eitlen Trug getäuscht werde [vgl. Kol 2,8; Kan. 2].“ Die Kirche als von Gott eingesetzte Hüterin des Glaubensgutes muß allen Irrtümern entgegentreten und den Glauben, d.i. die göttliche Sicht der Welt, rein bewahren. Dabei ist leicht ersichtlich, zu welch schwerer Aufgabe diese Verteidigung werden muß, sobald die Wissenschaft glaubenslos wird. Denn niemals wird diese glaubenslose Wissenschaft eine derartige Einmischung dulden, sondern im Gegenteil, sie wird ihre vermeintlichen Erkenntnisse als „Beweis“ für die Unrichtigkeit des Glaubens ins Feld führen. Deshalb genügt es auch nicht mehr, von katholischer Seite aus gesehen, allein den Glauben zu verteidigen, man muß in gleicher Weise versuchen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse richtig zu beurteilen, auf ihre ideologische Seite hin zu hinterfragen und, wenn nötig, neue wissenschaftliche Wege zu gehen.
Das (I.) Vatikanische Konzil formuliert uns hierzu die theoretische Grundlage: „Auch können Glaube und Vernunft nicht nur niemals untereinander unstimmig sein, sondern sie leisten sich auch wechselseitig Hilfe [vgl. 2776; 2811]; denn die rechte Vernunft beweist die Grundlagen des Glaubens und bildet, von seinem Licht erleuchtet, die Wissenschaft von den göttlichen Dingen aus; der Glaube aber befreit und schützt die Vernunft vor Irrtümern und stattet sie mit vielfacher Erkenntnis aus. Deswegen ist es weit gefehlt, daß die Kirche der Pflege der menschlichen Künste und Wissenschaften Widerstand leiste; vielmehr unterstützt und fördert sie diese auf vielfache Weise. ... Auch verbietet sie keineswegs, daß diese Wissenschaften in ihrem jeweiligen Bereich ihre eigenen Prinzipien und ihre eigene Methode anwenden; diese gerechtfertigte Freiheit anerkennend, achtet sie aber eifrig darauf, daß sie nicht der göttlichen Lehre widerstreiten und so Irrtümer in sich aufnehmen oder in Überschreitung ihrer eigenen Grenzen das, was des Glaubens ist, in Beschlag nehmen und durcheinanderbringen“ (DH 3019).
Die Konzilsväter geben den Grundsatz, der das Verhältnis von katholischem Glauben und den Wissenschaften ordnet, an: „Glaube und Vernunft (können) nicht nur niemals untereinander unstimmig sein, sondern sie leisten sich auch wechselseitig Hilfe.“ Da die natürliche und die übernatürliche Wahrheit ein- und derselben Quelle entspringen, folgt daraus wesensnotwendig, daß es zwischen echten Erkenntnissen auf beiden Bereichen der Wissenschaft keine Widersprüche geben kann, sondern sich im Gegenteil die wahren Ergebnisse gegenseitig bereichern und stützen. Solange jede Wissenschaft ihre Methoden richtig anwendet und ihre eigenen Grenzen einhält, wird es keine Differenzen geben.
Dabei muß die natürliche Vernunft jedoch immer anerkennen: „Die Lehre des Glaubens, die Gott geoffenbart hat, wurde nämlich nicht wie eine philosophische Erfindung den menschlichen Geistern zur Vervollkommnung vorgelegt, sondern als göttliche Hinterlassenschaft der Braut Christi anvertraut, damit sie treu gehütet und unfehlbar erklärt werde. Daher ist auch immerdar derjenige Sinn der heiligen Glaubenssätze beizubehalten, den die heilige Mutter Kirche einmal erklärt hat, und niemals von diesem Sinn unter dem Anschein und Namen einer höheren Einsicht abzuweichen [Kan. 3]“ (DH 3020).
Das Konzil betont noch einmal ganz entschieden, die Wissenschaft habe nicht das Recht, die Wahrheit des Glaubens mit der Begründung zu relativieren, sie habe nunmehr „höhere“ Einsichten gewonnen, welche die „alten“ (Glaubens-) Einsichten in einem neuen Licht erscheinen lassen. Immer ist die Wahrheit des Glaubens als eine gnadenhafte Teilhabe an der göttlichen Erkenntnis die „höhere“ Erkenntnis, und nach dieser Erkenntnis muß sich auch jede wahre wissenschaftliche Erkenntnis ausrichten, will sie nicht in die Irre gehen. Dies zeigt aber, daß letztlich nur eine den Glauben anerkennende Wissenschaft wahre Wissenschaft sein kann, eine glaubenslose Wissenschaft wird notwendig zur Ideologie entarten.
2. Das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft nach der Lehre des Modernismus
Das kirchliche Lehramt hat die theoretische Grundlage für das Verhältnis von Glaube und Vernunft geklärt. Aber wie so oft im Leben ist auch hier die Theorie einfacher als die praktische Verwirklichung derselben. Die „Vernunft“ existiert schließlich nicht als solche, losgelöst von Raum und Zeit, sondern sie existiert konkret in den Menschen, welche ihrerseits wiederum in einer ganz konkreten Gedankenwelt und Umwelt leben. Was darum der Mensch für vernünftig hält, das hängt wesentlich von der jeweiligen Weltanschauung ab. Dominiert der Glaube, so wird das dem Glauben entsprechende auch als vernünftig angesehen werden. Dominiert dagegen eine monistische Wissenschaft, so wird diese als „einseitige Projektion des Lebens auf die Wirklichkeit“, die nur „dessen Beziehung zur Materie“ in Betracht zieht, das für vernünftig halten, was ihrem Selbstverständnis entspricht (Pius XII., Weihnachtsbotschaft vom 24. Dezember 1953, Nr. 1 der Reihe „Lehret sie alles Halten“, „Rex Regum“ Verlag, Jaidhof 1997, S. 6). Der Glaube wird darauf keinen Einfluß nehmen können.
Im Folgenden wollen wir nun den Schritt von der Theorie zur Praxis anhand des Modernismus Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen und an diesem Beispiel zeigen, welche Schwierigkeiten im Laufe der Zeit entstanden waren. Lassen wir dazu zunächst den Modernismus selber zu Wort kommen. In dem Dekret des heiligen Officiums, Lamentabili vom 3. Juli 1907, läßt der heilige Pius X. mehrere Sätze der Modernisten zusammenstellen, welche die Hauptirrtümer derselben darstellen.
Für unser Thema interessant sind vor allem die Sätze 5, 64, 65 und 58.
Satz 5: „Da in der Hinterlassenschaft des Glaubens nur geoffenbarte Wahrheiten enthalten sind, steht es der Kirche in keiner Hinsicht zu, über Behauptungen der menschlichen Wissenschaften ein Urteil zu fällen“ (DH 3405)
Dieser Satz 5 ist genau das Gegenteil dessen, was die Kirche im Vatikanischen Konzil feierlich definiert hat und im Abschnitt 1. kurz dargestellt wurde. Er macht deutlich, daß der Modernismus einen ganz anderen Grundsatz bezüglich des Verhältnisses von Glaube und Wissenschaft vertritt. Der Grundsatz, welchen die Modernisten anwenden, beruht letztlich auf einer falschen, vollkommenen Trennung von Glaube und Vernunft, die der heilige Papst Pius X. in seiner Enzyklika „Pascendi Dominici Gregis“ folgendermaßen darlegt:
Auch die Trennung von Glauben und Wissen(schaft), die sie erklären, läßt keine andere Schlußfolgerung (nämlich, daß sie zum Pantheismus und zum Atheismus führen; d.Verf.) zu. Den Gegenstand des Wissens ( * und der Wissenschaft) sehen sie in der Wirklichkeit des Erkennbaren - den des Glaubens hingegen in der Wirklichkeit des Unerkennbaren. Die Unerkennbarkeit rührt daher, daß zwischen dem dargebotenen Gegenstand und dem Verstande keinerlei gegenseitiges Verhältnis besteht. Dieses fehlende gegenseitige Verhältnis kann aber nie, auch nicht nach der Lehre der Modernisten, gewonnen werden. Darum wird das Unerkennbare dem Glaubenden genauso wie dem Philosophen für immer unerkennbar bleiben. Hält man also an irgendeiner Religion fest, so handelt es sich dabei um eine Beziehung zu einer unerkennbaren Wirklichkeit.
((Hl.) Papst Pius X., Apostolisches Rundschreiben Pascendi Dominici Gregis vom 8. September 1907; Freude an der Wahrheit Nr. 20, Karl Haselböck, Wien 1977/1991, S. 55f.)
Von dieser völligen Trennung beider Erkenntnisbereiche aus wird also behauptet, nur die Wissenschaft hätte es mit dem Erkennbaren zu tun, während der Glaube das Unerkennbare zum Gegenstand habe. Daher gelte es zu beachten, daß keiner dem anderen fachlich irgendetwas zu sagen habe und es von da her auch keine eigentlichen Widersprüche geben könne, der Glaube mache keine (natur-) wissenschaftlichen Aussagen und die (Natur-) Wissenschaft keine Aussagen bezüglich des Glaubens. Aus diesem Grunde „steht es der Kirche in keiner Hinsicht zu, über Behauptungen der menschlichen Wissenschaften ein Urteil zu fällen“!
Um diese Lehre des Modernismus besser verstehen zu können, muß man die Philosophie beachten, in welcher diese erkenntnistheoretische Grundhaltung des Modernismus wurzelt. In der Enzyklika „Pascendi“ geht Pius X. auch darauf näher ein:
Beginnen wir mit der Philosophie (* - die höchste der rein natürlichen Wissenschaften). Als Grundlage der Religionsphilosophie (* =die rein natürliche Wissenschaft über die Verbindung des Menschen mit Gott) betrachten die Modernisten die unter dem Namen Agnostizismus (* = Lehre von der völligen Unerkennbarkeit Gottes) bekannte Doktrin. Nach ihr ist die menschliche Vernunft gänzlich auf die Phänomene (* = alles das, was mit den Fünf Sinnen wahrnehmbar ist) beschränkt: das heißt, auf die Gegenstände, welche äußerlich in Erscheinung treten, und wie sie in diese äußere Erscheinung treten. Diese Grenzen zu überschreiten hat sie weder das Recht noch die Fähigkeit. Darum vermag sie sich auch nicht zu Gott zu erheben und auch nicht Seine Existenz aus den sichtbaren Dingen zu erkennen. Es folgt also, daß Gott auf keinen Fall direkt Gegenstand der Wissenschaft (* = des vernunftgemäß geordneten Aufbaues des Wissens) sein könne; und was die Geschichte betrifft: daß Gott in keiner Weise als Gegenstand der Geschichte (* NB: also letztlich als nicht wirklich existierend!) anzusehen sei.
((Hl.) Papst Pius X., Apostolisches Rundschreiben Pascendi Dominici Gregis vom 8. September 1907; Freude an der Wahrheit Nr. 20, Karl Haselböck, Wien 1977/1991, S. 6)
Aus dem philosophischen System des Agnostizismus folgt die Unfähigkeit der menschlichen Vernunft, die Grenzen der sinnlichen Phänomene zu überschreiten. Der Mensch kann nur die sichtbaren Dinge erkennen, die „unsichtbaren“ Dinge entziehen sich der Vernunft. Der Agnostizismus verwechselt „unsichtbar“ mit „unerkennbar“, bzw. er setzt beides einfach gleich. Daraus folgt für diese Philosophie weiter: Der Menschen ist unfähig, sich mittels der Vernunft zum „unsichtbaren“ Gott zu erheben, weshalb auch Gott nicht Gegenstand der Wissenschaft sein kann. Die Wissenschaft hat nach dem Agnostizismus ausschließlich die Aufgabe, die äußeren Phänomene zu erforschen, Gott gehört aber nicht zu diesen! Woher kommt diese verkehrte Sichtweise? Pius XII. spricht in seiner Weihnachtsansprache von 1953 von Menschen der Finsternis, die er auffordern möchte, „die gegenwärtige Ursache zu erkennen, die sie für das Göttliche blind und unempfindlich macht. Es ist die übermäßige, manchmal ausschließliche Hochschätzung des sogenannten 'technischen Fortschritts'. Dieser, zuerst als allmächtiger Mythus und Glückspender erträumt und dann mit allem Eifer bis zu den kühnsten Eroberungen vorangetrieben, hat sich als letztes Ziel des Menschen und des Lebens dem allgemeinen Bewußtsein aufgedrängt und hat damit die Stelle jedes religiösen und geistigen Ideals eingenommen. Heute erkennt man immer deutlicher, daß seine ungebührliche Verhimmelung die Augen der modernen Menschen geblendet, ihre Ohren taub gemacht hat, so daß sich an ihnen bewahrheitet, was das Buch der Weisheit bei den Götzendienern seiner Zeit geißelte (Weish. 13, 1). Sie sind unfähig, aus der sichtbaren Welt den zu erkennen, der 'ist', den Meister aus seinem Werk zu entdecken; mehr noch bleiben heute für die, die im Finstern wandeln, die übernatürliche Welt und das Werk der Erlösung, das alle Natur übersteigt und von Jesus Christus vollbracht worden ist, in völlige Dunkelheit gehüllt“ (Pius XII., Weihnachtsbotschaft vom 24. Dezember 1953, Nr. 1 der Reihe „Lehret sie alles Halten“, „Rex Regum“ Verlag, Jaidhof 1997, S 4).
Ist aber der Vernunft einmal der Weg zu Gott versperrt, wie gelangt der Mensch sodann zu Gott? Wie kann sodann der Modernismus eine Religion noch begründen? Folgen wir dazu weiter den Gedanken Pius X. in seiner Enzyklika:
Der Agnostizismus bildet jedoch nur den negativen Teil der modernistischen Lehre (* d. h.: Gott als Person wird dabei verschwiegen); der positive ( * d. h.: ihre Behauptungen) besteht in dem, was sie die vitale Immanenz ( * = „Gott“ besteht nur in der „lebendigen Innerlichkeit“ des Menschen) nennen. Der Übergang von dem einen zum anderen ist folgender: Die Religion, die natürliche wie die übernatürliche, muß wie jede andere Tatsache eine Erklärung zulassen. Nachdem aber die Modernisten die natürliche Theologie (* = Vernunftdenken über Gott) beseitigt und durch Leugnung der Beweggründe des Glaubens ( * = dessen vernunftgemäße Voraussetzungen) zur (göttlichen) Offenbarung den Weg versperrt, ja jede äußere Offenbarung ( * = Heilige Schrift und Überlieferung, vermittelt durch das Kirchliche Lehramt) als solche zu einer Unmöglichkeit gemacht haben, sucht man außerhalb des Menschen vergebens nach einer solchen Erklärung.
(Ebd. S. 7f)
Sobald man die Religiösität von der Vernunft trennt, kann es keine objektiv wahrnehmbare Offenbarung geben und somit ist der Weg zur göttlichen Offenbarung überhaupt versperrt, jede äußere Offenbarung Gottes wird zu einer Unmöglichkeit. Die Folge davon ist wiederum, der wahre Gott wird für den Menschen unerreichbar! Das ist die gemeinsame Voraussetzung, welche der Modernismus mit der modernen Wissenschaft akzeptiert. Deshalb gibt es für die Modernisten nur noch eine Möglichkeit, Religiösität zu begründen:
Sie muß also im Menschen zu finden sein; und weil die Religion eine Art Einrichtung des Lebens ist, darum kann diese Erklärung nur im Leben des Menschen liegen. Daher das Prinzip der religiösen Immanenz ( * d. h.: Religion ist auf das innere das Menschen beschränkt). ... Weil also Gott der Gegenstand der Religion ist, so ergibt sich der Schluß, daß der Glaube, der Anfang und die Grundlage einer jeden Religion (* hier: = Verbindung mit Gott), in einem tiefinnerlichen Gefühle bestehe, welches aus dem Bedürfnis nach dem Göttlichen entspringt. Nun kann aber dieses "Bedürfnis nach dem Göttlichen" an und für sich nicht in den Bereich des Bewußten gehören, weil es nur unter besonders günstigen Bedingungen fühlbar wird; zunächst bleibt es vielmehr unterhalb des Bewußtseins verborgen, oder wie sie es mit einem aus der modernen Philosophie entlehnten Ausdruck sagen: im Unterbewußtsein. Dort liegt auch seine Wurzel verborgen, und sie bleibt unentdeckter.
(Ebd. S. 8)
Für den Modernisten ist der Glaube ein „religiöses Gefühl“, ein „Bedürfnis nach dem Göttlichen“, das dem Unterbewußtsein des Menschen entspringt. Die Wurzel dieses Gefühls ist darum unentdeckbar, unerkennbar, d.h. mit Hilfe der Vernunft nicht zu fassen. Es braucht wohl nicht eigens betont werden, daß dieser Glaube der Modernisten nichts mehr mit dem katholischen Glauben gemeinsam hat, von dem das Vatikanum sagt: „Dieser Glaube aber, der der Anfang des menschlichen Heiles ist [vgl. 1532], ist nach dem Bekenntnis der katholischen Kirche eine übernatürliche Tugend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben, daß das von ihm Geoffenbarte wahr ist, nicht etwa wegen der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern wegen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen kann [vgl. 2778; Kan. 2]. 'Der Glaube ist nämlich' nach dem Zeugnis des Apostels 'die Gewißheit zu erhoffender Dinge, der Beweis des nicht Sichtbaren' [Hebr 11,1]“ (DH 3008). Während der wahre Glaube „der Beweis des nicht Sichtbaren“ ist, ist der Glaube der Modernisten ein subjektives Wunschdenken, eine irrationale Äußerung des Unbewußten. Dieser Glaubensbegriff beinhaltet zwei Schlußfolgerungen: 1. Es gibt keinen objektiven Unterschied mehr zwischen den verschiedenen Äußerungen dieses Unbewußten (= Konfessionen). Das ist die Grundlage des Ökumenismus. 2. Ein Glaube, der bloßes subjektives Wunschdenken ist, kann keine der Wissenschaft gleichrangige Erkenntnis mehr verbürgen. D.h. aber, er darf kein Urteil über wissenschaftliche Erkenntnisse machen, da er die objektive Wirklichkeit niemals erreicht.
Pius X. erläutert diese Ansicht noch näher:
Nun könnte jemand vielleicht fragen, wie denn dieses "Bedürfnis nach dem Göttlichen", welches der Mensch in sich selbst verspüren soll, zur Religion werde. Darauf lautet die Antwort der Modernisten: Wissenschaft und Geschichte sind nach zwei Seiten hin begrenzt: erstens nach außen auf die sichtbare Welt, und zweitens nach innen auf das Bewußtsein. Ist eine dieser Grenzen erreicht, dann geht es für sie nicht weiter; denn darüber hinaus liegt das Unerkennbare. Angesichts dieses Unerkennbaren nun: sowohl des (Unerkennbaren), welches außerhalb des Menschen und jenseits der sichtbaren Natur; als auch des (Unerkennbaren), welches innerhalb im Unterbewußtsein verborgen ruht, erregt das "Bedürfnis nach dem Göttlichen" in einem religiös gestimmten Gemüte - in Übereinstimmung mit den Ideen des Fideismus (* = blinder Glaube ohne die Verstandesgrundlage) - ein Gefühl von eigener Art, ohne daß ein Urteil des Verstandes vorausgeht. In diesem Gefühle ist aber die Wirklichkeit Gottes selbst, sowohl als dessen Gegenstand als auch als dessen tiefste Ursache, enthalten: und es vereinigt den Menschen gewissermaßen mit Gott. Dieses Gefühl ist es, was die Modernisten "Glauben" nennen: es ist ihnen der Anfang der Religion. ...
((Hl.) Papst Pius X., Apostolisches Rundschreiben Pascendi Dominici Gregis vom 8. September 1907; Freude an der Wahrheit Nr. 20, Karl Haselböck, Wien 1977/1991, S. 6f.)
Nach dem Modernismus liegt also die Religion in einem Gefühl ganz eigener Art begründet. Der Glaube ist darum nicht mehr im katholischen Sinne Anerkennung der göttlichen Offenbarung, sondern der Mensch „spürt“ Gott, er erlebt Gott in seinem Inneren und zwar, „ohne daß ein Urteil des Verstandes vorausgeht“. Trotzdem wird seltsamerweise behauptet: „In diesem Gefühle ist aber die Wirklichkeit Gottes selbst.“ Dabei stellt sich jedoch sofort die Frage: Woher soll diese Wirklichkeit Gottes kommen? Aus dem Gefühl? Aber die Wirklichkeit welchen Gottes verbürgt das religiöse Gefühl? Schließlich kann man selbst einem Satanisten „religiöse Gefühle“ nicht absprechen, nur daß es völlig irregeleitete „religiöse Gefühle“ sind. Welchen Wert haben aber dann solche Gefühle? Pius X. erklärt uns auch dazu die Ansicht der Modernisten:
Ihre Philosophie, oder besser ihre Träumerei, ist hier aber noch nicht zu Ende. Sie finden in dem beschriebenen Gefühle nicht nur den Glauben, sondern sie behaupten: bei dem Glauben und in dem so verstandenen "Glauben" sei der Ort, wo die Offenbarung liege. Was könnte jemand zur Offenbarung noch mehr verlangen? Solle man es nicht "Offenbarung" oder doch den "Anfang der Offenbarung" nennen, wenn jenes "religiöse Gefühl" im Bewußtsein auftaucht? Solle man nicht sagen, daß Gott selbst in eben diesem religiösen Gefühle, wenn auch eher unkenntlich, sich dem Gemüte "offenbar" mache? Weiters unterstellen sie dann: Weil Gott zugleich Gegenstand und Ursache des Glaubens ist, so handelt jene „Offenbarung" von Gott und rührt auch von ihm her. Sie umfasse Gott zugleich als den offenbarenden und als den Geoffenbarten.
(Ebd. S. 7ff.)
Wenn jegliches „religiöse Gefühl“ schon Glaube ist, so ist dieses Gefühl der Ort, an dem uns Gott begegnet, es ist wahre „Offenbarung“, oder zumindest "Anfang der Offenbarung". Diese Offenbarung hat nur einen entscheidenden Nachteil, es gibt in ihr nicht mehr „wahr“ und „falsch“. Denn mit welchem Recht sollte nach den Modernisten ein Mensch sagen können, „Meine religiöse Erfahrung ist richtig, Deine aber ist falsch!“, wenn es keine vernünftige Grundlage des Glaubens mehr gibt? Von diesem Glaubensbegriff her ist nun auch leicht zu verstehen, daß eine solche Träumerei, wie es Pius X. nennt, keine ernstzunehmende Wissenschaft mehr begründen kann. Jeder kann schließlich etwas anderes „fühlen“, d.h. aber, jeder kann etwas anderes glauben. Selbst Widersprüche müssen darum geduldet werden, denn wer könnte letztlich entscheiden, wer von den sich Widersprechenden nun recht habe und wer nicht? Die „Offenbarungen“ (= Erfahrungen) dieser modernistischen Religion haben ausschließlich einen subjektiven Wert, denn sie stehen letztlich in keiner Beziehung zur äußeren, objektiven Wirklichkeit. Daraus ist nunmehr leicht einzusehen, wie obiger Satz 5 des Dekretes Lamentabili als Schlußfolgerung dieser Philosophie des modernistischen Glaubens zustande kommt. Dieser Glaube kann freilich niemals behaupten, eine wissenschaftliche Erkenntnis sei falsch, darum also „steht es der Kirche in keiner Hinsicht zu, über Behauptungen der menschlichen Wissenschaften ein Urteil zu fällen“.
Der Glaube, nach der Lehre des Modernismus, enthält ausschließlich religiöse „Wahrheiten“ (= Gefühle), das ist sein festumrissener Bereich: „In der Hinterlage des Glaubens sind nur geoffenbarte Wahrheiten enthalten“, behauptet man. Dieser Satz könnte zwar auch noch richtig zu verstanden werden, aber unter der Voraussetzung des modernistischen Glaubensbegriffes ist er ganz und gar falsch. Denn richtig verstanden würde daraus keineswegs folgen, daß es der Kirche nicht zustehe, über Behauptungen menschlicher Wissenschaften zu urteilen, sondern genau das Gegenteil. Wenn der Glaube göttlich verbürgte Wahrheit schenkt, so leitet sich daraus unmittelbar das Recht ab, ein Urteil über die menschlichen Wissenschaften sprechen zu dürfen, ja zu müssen. Denn es gibt eine ganze Reihe menschlicher Wissenschaften, welche das Materialobjekt wenigsten zum Teil mit der Glaubenslehre gemeinsam haben. Das gilt vor allem von vielen philosophischen Disziplinen, z. B. der natürlichen Gotteslehre und der Ethik, aber auch von der Geschichte und der literarischen Kritik. Und selbst auf dem Gebiete der Anthropologie und Psychologie haben Naturwissenschaften und Glaubenslehre mannigfache Berührungspunkte. Darum haben Irrtümer in diesen Bereichen der Wissenschaften immer auch einen Einfluß auf den Glauben. Die Praxis beweist dies auch zur Genüge, denn naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden von den Atheisten vorrangig als Einwand gegen Glaubenswahrheiten benützt und stellen damit einen wesentlichen Teil der Selbstrechtfertigung des heutigen Atheismus dar.
Kommen wir nunmehr zu Satz 64 des Dekretes Lamentabili. Dieser lautet:
Satz 64: „Der Fortschritt der Wissenschaften erfordert, daß die Vorstellungen der christlichen Lehre von Gott, von der Schöpfung, von der Offenbarung, von der Person des Fleischgewordenen Wortes und von der Erlösung umgebildet werden“ (DH 3464).
Satz 64 vollzieht den dialektischen Sprung vom übernatürlichen göttlichen Glauben zum Glauben an die modernen Wissenschaften. Nachdem man die Religion von der Vernunft getrennt und in der Bereich der Innerlichkeit (= des irrationalen Gefühls) verbannt hat, stellt sich für den Modernisten die Frage nach dem Wissen neu. Sobald nämlich die Wissenschaften neue Erkenntnisse gewinnen, welche mit dem „Glauben“ nicht übereinstimmen, erfordert dies eine Stellungnahme auf Seiten des „Glaubens“. Da jedoch nunmehr die Wissenschaft mit ihrem Fortschritt die Führung auf dem Gebiete des Wissens übernommen hat, muß man sich fragen: „Kann der Glaube überhaupt vernünftigerweise einen Einwand gegen wissenschaftliche Erkenntnisse erheben?“ Die Antwort kann nur heißen: „Nein!“ Da der „Glaube“ im Sinne der Modernisten sich schon prinzipiell der Wissenschaft untergeordnet hat, oder man könnte auch sagen, in den wissenschaftlichen Fortschritt eingeordnet hat, muß er sich ständig der Wissenschaft angleichen. Von der modernistischen Ideologie aus gesehen ist dies nur konsequent! Denn die subjektive religiöse Erfahrung der Modernisten ist, wie wir schon gezeigt haben, keine eigentliche Vernunfterkenntnis, sie ist ihrem Wesen nach ein sich ständig änderndes, rein subjektives Gefühl. In diesem Strom der sich ständig ändernden Erlebnisse können darum allein die Wissenschaften der Vernunft eine gültige Orientierung geben. (Genau betrachtet ist zwar auch diese Orientierung dem Selbstverständnis dieser Wissenschaften entsprechend immer nur relativ, denn der Fortschritt hört niemals auf, er geht immer weiter und niemals weiß man, was das Morgen bringt, aber das scheint niemanden zu stören.)
Entsprechend folgert Satz 65:
Satz 65: „Der heutige Katholizismus kann mit der wahren Wissenschaft nicht vereinbart werden, wenn er nicht in ein undogmatisches Christentum verwandelt wird, das heißt, in einen weiten und liberalen Protestantismus“ (DH 3465).
Wenn man das modernistische System akzeptiert, ist das in Satz 65 Gesagte die einzig mögliche, logische Konsequenz. Eine Glaubensaussage, welche im Widerspruch zu der „wahren“ Wissenschaft steht, ist für einen Modernisten unhaltbar, sie muß geändert, muß der wissenschaftlichen Erkenntnis angeglichen werden. Der Glaube seinerseits wird damit als solcher „undogmatisch“, das heißt, es gibt im eigentlichen Sinne keine „Glaubenswahrheiten“ mehr, sondern nur noch sich ständig ändernde „religiöse Erfahrungen“, das sind „subjektive Meinungen“. Damit löst sich schließlich jegliche Religion auf, denn es gibt in diesem undogmatischen Christentum natürlich auch keinen wahren und falschen Gott mehr, sondern jeder hat seinen Gott, so wie er ihn denkt und fühlt und empfindet.
Dementsprechend sagt Satz 58:
Satz 58: „Die Wahrheit ist nicht unveränderlicher als der Mensch selbst, da sie sich ja mit ihm, in ihm und durch ihn entwickelt“ (DH 3458).
Damit stehen wir am Ende der Gedankenreihe, jegliche „Wahrheit“ relativiert sich, sie gleicht sich der Unbeständigkeit des Menschen an. Es ist für uns, wenn wir den Modernismus begreifen wollen, entscheidend einzusehen: In diesen drei, aus dem Dekret Lamentabili zitierten Sätzen bezüglich des Verhältnisses von Glauben und Wissenschaft ist die theoretische Grundlage des ganzen Modernismus enthalten. Der Modernismus hat einen Glaubensbegriff, welcher mit dem katholischen Glauben nur noch den Namen gemeinsam hat. Der Modernist verwendet denselben Begriff „Glauben“ für eine ganz andere Sache. „Glauben“ im katholischen Sinne hat nichts zu tun mit „Glauben“ im modernistischen Sinne. Dies zeigt sich besonders anschaulich in dem unterschiedlichen Verhältnis gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Während im katholischen Sinne „Glaube“ göttliche Wahrheit verbürgt und darum sich jegliche wissenschaftliche Erkenntnis nach dieser göttlichen Wahrheit zu richten hat, kehrt sich beim Modernismus das Verhältnis ins Gegenteil: Der nunmehr undogmatische Glaube richtet sich nach dem jeweiligen wissenschaftlichen Stand und gleicht sich somit ständig dem wissenschaftlichen Fortschritt an.
Diese Haltung der Modernisten gegenüber der modernen Wissenschaft hat eine sehr lange geschichtliche Entwicklung zur Voraussetzung. Man müßte diese eigentlich bis Galileo Galilei zurückverfolgen und sich zudem ausgiebig mit dem Fall Galilei auseinandersetzen, oder besser gesagt mit dem, was die Feinde der Kirche aus diesem Fall gemacht haben, um den tieferen Grund für diese theologische Wendung noch besser verstehen zu können. Dies würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen. Für uns genügt es, darauf hinzuweisen, welch ungeheurer Druck im Laufe der Jahrhunderte von Seiten der (Natur-) Wissenschaft gegen die Lehre der Kirche Jesu Christi, also gegen den katholischen Glauben entstanden ist. Dieser Druck steigerte sich so weit, daß in gewissen wissenschaftlichen Kreisen Katholisch-sein mehr und mehr gleichgesetzt wurde mit Rückständig-sein. Das bedeutete aber für einen katholischen Forscher, daß er in einen inneren Zwiespalt geriet – was schließlich bis zu Minderwertigkeitskomplexen bei den Katholiken führte. Der katholische Forscher sah sich dem ständigen inneren Vorwurf ausgesetzt, er habe den Anschluß an die modernen Entwicklungen verpaßt, sein Glaube fordere ein unvernünftiges Opfer von ihm, ein „sacrificium intellectus“, welches die Freiheit der Wissenschaft behindere und zur Unfruchtbarkeit in der Forschung führe.
Lassen wir dazu Oswald Loretz, Professor für Altes Testament, zu Wort kommen, der in seinem Fachgebiet, der Exegese, sich mit unserem Thema beschäftigt hat:
Die Problematik der Inspirationslehre steht seit der Auseinandersetzung mit Galilei in engster Beziehung und Abhängigkeit zur Entwicklung der modernen Wissenschaften. Für dieses Einzelgebiet der Theologie haben die Ereignisse die Unmöglichkeit einer in sich autonomen, vom menschlichen Wissen über die Schöpfung unabhängigen Theologie aufgewiesen. Am Modellfall der Heiligen Schrift wurde so der Zusammenhang alles Wissens in der einen Schöpfung aufgezeigt und die Unhaltbarkeit des traditionellen Verständnisses der Autorität der Heiligen Schrift offenkundig. Dem theologischen Absolutheitsanspruch, die Bibel zur obersten Autorität des menschlichen Wissens in allen Fragen zu erklären, setzte die neue Wissenschaft ihre eigene Autorität und Autonomie entgegen. Kepler und Galilei haben dieser Erkenntnis bereits klaren Ausdruck verliehen. Die Verselbständigung der Naturwissenschaften erzwang so einen radikalen Bruch mit der überlieferten Denkweise.
Da nun von seiten der Theologie versucht wird, nicht nur abstrakt-theoretisch die Eigenständigkeit der Wissenschaften anzuerkennen, sondern sie auch praktisch zu befürworten und die Heilige Schrift nun als Buch verstanden wird, das uns über das von Gott geschenkte Heil unterrichtet, wäre auch zu überdenken, ob der Begriff "Autorität" in Fragen der Heiligen Schrift nicht aufgegeben werden sollte. Sprachlich nähme man dann von einem wesentlichen und zugleich problematischen Anliegen der augustinischen Theologie Abschied.(Oswald Loretz, Das Ende der Inspirations-Theologie, Band I, Verlag Katholische Bibelwerk, Stuttgart, 1974, S 174f.) (Kursive vom Verfasser)
Es ist eine nicht zu übersehene Tatsache: Verbunden mit dem Anwachsen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hat sich ein eigenes Weltbild etabliert, das seinem Wesen nach atheistisch ist. Dieses Weltbild trat allmählich mit dem Anspruch auf, das allein gültige wissenschaftliche System zu sein, d.h. allein vor der Vernunft bestehen zu können. Ganz entgegen der sonst so oft bekundeten Relativität aller wissenschaftlichen Erkenntnis, wird hierin apodiktisch Wahrheit beansprucht und dieser Anspruch mit allen Mitteln der Macht gegen anderslautende Anschauungen durchgesetzt.
Die Mehrheit der Katholiken, hat dies nicht registriert. Vielmehr meinte man und meint man noch heute, es wäre durchaus ein Ausgleich, eine Harmonisierung zwischen den sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Glaubenswahrheiten möglich. (Ein Beispiel einer solch naiven, völlig modernistischen Haltung brachte die Tagespost vom 27. Mai 2000, Seite 5 unter dem Titel, „Alte Begriffe haben ausgedient – Vatikan Astronom: Vorstellungen vom Schöpfergott modernisieren“. Dort heißt es: „Im einzelnen schrieb Coyne, das Gottesbild der Theologen, insofern es um das rationale Begreifen der geoffenbarten Wahrheit gehe, müsse den Entwicklungen des menschlichen Denkens angepaßt werden. Auch die Vorstellung vom Schöpfergott müsse den Begriffen der modernen Kosmologie entsprechen. In diesem Sinne sei Gott als der Schöpfer eines Universums zu begreifen, in dem "das Ziel und der Plan der Schöpfung nicht die einzigen und nicht einmal die wichtigsten Faktoren" seien, sondern in dem "Spontaneität und Unbestimmtheit entscheidend zur Entwicklung eines Universums beigetragen haben, in dem das Leben erschienen ist". Ein "allmächtiger und allwissender Gott im Sinne eines Newtonschen Universums, in dem alles vorherbestimmt und deterministisch ist", entspreche nicht dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand, schrieb der Jesuit weiter, der die vatikanische Sternwarte seit 1978 leitet. ... Trotz weitgehender Übereinstimmung mit der modernen Kosmologie distanzierte sich der Vatikan-Astronom Coyne von einem "Trend" in der heutigen Wissenschaft, die Gott nicht als Person begreife, sondern als bloße Erklärungsformel für die Welt. Für den Theologen und Gläubigen sei Gott jedoch wesentlich mehr als dies und mehr als eine bloße Information, hob der Jesuit Coyne in seinem L'Osservatore-Artikel, der anlässlich der Heilig-Jahr-Feier der Wissenschaftler in der Vatikanzeitung erschien, hervor.“ (Kursive vom Verfasser))
Als Beispiel dazu sei kurz das Urknall-Modell erwähnt. Noch heute wird von den meisten Theologen die These vertreten, dieses Modell bedeute für die Schöpfungstheologie keine Schwierigkeit. Man bildet sich wirklich ein, es sei völlig gleichbedeutend, ob die Schöpfung im Sinne des Schöpfungsberichtes als ein souveräner Akt der schöpferischen Allmacht Gottes verstanden werde, oder ob man diese als eine zufällige Entwicklung durch Milliarden von Jahren hindurch aus einer Urdetonation ungeheuren Ausmaßes zu interpretieren suche. Aber diese Naivität im Urteil über die moderne Wissenschaft konnte natürlich nicht lange gut gehen. Die Schere öffnete sich mit der Zeit immer weiter und schließlich mußte sie einmal soweit auseinanderklaffen, daß sie zerbrach. „Die Verselbständigung der Naturwissenschaften erzwang so einen radikalen Bruch mit der überlieferten Denkweise“, wie es Oswald Loretz ausdrückt. Heute, so meint man, müßte jedem Katholiken die unmittelbar folgende Konsequenz einleuchten, denn schon lange werden von naturwissenschaftlicher Seite die theistischen Versuche, den Schöpfungsglauben zu retten, nicht mehr ernst genommen. Und spätestens seit den Theorien von Stehphen W. Hawkings hat Gott kein Existenzrecht mehr in diesem modernen Wissenschaftssystem.
Ein Hauptfehler auf der Seite der Theologie bestand seit langem in einem grundlegenden Fehlurteil: Man wollte einfach nicht wahrhaben, daß die Naturwissenschaft (und nicht allein diese, auch viele andere Zweige der modernen Wissenschaft) schon lange keine reine Naturwissenschaft mehr war, sondern allmählich zur Philosophie wurde, zu einer allumfassenden, absolute Gültigkeit beanspruchende Weltanschauung. Und diese, unter dem Gewand der Naturwissenschaften verborgene Philosophie, stellt inzwischen ein lückenloses atheistisches System dar, in dem Gott positiv ausgeschlossen ist. Nur von diesem atheistischen System her sind auch alle Ergebnisse dieser modernen Wissenschaft zu beurteilen. Die sogenannte „Wertfreiheit“, welche die moderne Wissenschaft für sich in Anspruch nimmt, ist nur der Deckname für den systemimmanenten Atheismus. Darum ist es auch von vorne herein klar, daß zwischen der Naturwissenschaft im modernen Sinne und dem katholischen Glauben ein kontradiktorischer Widerspruch besteht. Erst, wenn man das berücksichtigt, wird man auch einen Lösungsansatz für eine neue, wahre (d.h. aus dem katholischen Glauben kommende) Naturwissenschaft finden können. Der Katholik muß sich entscheiden: Entweder integriert er sich in das atheistische Wissenschaftssytem – oder er beginnt seinen eigenen Weg zu gehen, der vom katholischen Glauben aus konsequent eine naturwissenschaftliche Weltdeutung wagt!
Daß diese Entscheidung notwendig ist, haben letztlich auch die Modernisten schon vor mehr als hundert Jahren richtig gesehen! Nur haben sie sich damals falsch entschieden! Sie sind vor dem Götzen „moderne Wissenschaft“ in die Knie gegangen und haben diesem ihren Glauben geopfert. Der Modernismus vollzieht einen heimlichen Paradigmenwechsel! Er wechselt von der Seite des katholischen Glaubens auf die Seite der „sicheren“ Naturwissenschaften und gleicht sodann den neuen „Glauben“ diesen „sicheren Erkenntnissen“ der Naturwissenschaften an. Auch dies ist schon von Pius X. in seiner Enzyklika gegen den Modernismus klar erkannt worden:
Wer aber aufgrund dessen meinen wollte, es bestehe überhaupt kein gegenseitiges Unterordnungsverhältnis zwischen dem Glauben und der Wissenschaft der ginge arg in die Irre. Für die Wissenschaft hatte er allerdings vollkommen recht; anders steht es jedoch mit dem Glauben: dieser sei nicht bloß in einer, sondern sogar in dreifacher Hinsicht der Wissenschaft unterworfen. Zuerst müsse nämlich in Betracht gezogen werden, daß an jeglicher religiösen Tatsache - wenn man von der göttlichen Wirklichkeit und der diesbezüglichen Erfahrungen des Glaubenden absieht - alles übrige, und besonders die religiösen Formeln, den Bereich der Phänomene (* des sinnlich Wahrnehmbaren) in keiner Weise überschreitet und somit unter die Wissenschaft fällt. Der Glaubende darf sich ja nach Belieben aus der Welt zurückziehen; aber solange er in dieser Welt weilt, kann er, ob er es will oder nicht will, den Gesetzen, dem Hinschauen auf die Wissenschaft und auf die Geschichte und den Erkenntnissen derselben nicht entfliehen. Wenn gesagt wurde, Gott sei ausschließlich Gegenstand des Glaubens, so gilt das doch nur von der Wirklichkeit Gottes, nicht aber bezüglich der Idee und des Begriffes von Gott. Dieser Begriff (* von Gott) unterliegt der Wissenschaft und weil diese in, wie sie sagen, wissenschaftlich-logischer Ordnung ihre Forschungen anstellt, so befaßt sie sich auch mit dem "Absoluten" und dem "Idealen" (* = dem Bereich der Ideen und Begriffe). Somit hat die Philosophie, das heißt: die Wissenschaft, das Recht, über die Idee und den Begriff von Gott Erkenntnisse anzustellen, diese in deren Entwicklung zu beherrschen und sie, wenn sich etwas Fremdes eingeschlichen haben sollte, abzuändern. ...
Daher die Forderung der Modernisten: die religiöse Entwicklung mit der moralischen und mit der intellektuellen Entwicklung zu verbinden, oder, nach dem Wort eines ihrer erwählten Lehrmeister: sie ihnen zu unterwerfen. Dazu kommt noch, daß der Mensch einen Zwiespalt in sich selbst nicht ertragen kann: und so fühlt auch der Glaubende sich mit innerer Notwendigkeit zu einer solchen Verbindung zwischen Glauben und Wissen gedrängt, um nicht von der allgemeinen Anschauung abzuweichen, welche die Wissenschaft über die Gesamtheit dieser Welt darbietet. So kommt es denn, daß die Wissenschaft vom Glauben völlig unabhängig ist; der Glaube hingegen, trotz der Behauptung, er stehe außerhalb der Wissenschaft, dennoch der Wissenschaft unterworfen sein muß.((Hl.) Papst Pius X., Apostolisches Rundschreiben Pascendi Dominici Gregis vom 8. September 1907; Freude an der Wahrheit Nr. 20, Karl Haselböck, Wien 1977/1991, S. 19f.)
Will man den Modernismus recht verstehen, muß man den geistesgeschichtlichen Hintergrund beachten. Durch den ungeheuren Aufschwung den die Naturwissenschaft seit der Zeit der Aufklärung genommen hat und den Einfluß, welchen der wissenschaftlich-technische Fortschritt auf das Denken des Menschen auszuüben begann, sah sich der glaubende Mensch in seinen Überzeugungen mehr und mehr bedroht. Der Modernismus gibt diesem moralischen Druck nach und verändert entsprechend seinen Glauben. So behauptet etwa R. Bultmann in einem bekanntem Zitat: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.“ (Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. Von H. W. Bartsch, I, Hamburg 1960, 18.). Aber dieser moderne Glaube ist kein übernatürlicher Glaube mehr, er ist nur noch Philosophie, welche zwar noch mit religiösen Formeln spielt, aber im Keime schon den Atheismus in sich trägt. Man könnte auch sagen, der Modernismus ist nichts anderes als ein religiös gefärbter Atheismus. Ebenso urteilt auch Pius X.:
Mit welcher Begründung kommen nun die Modernisten vom Agnostizismus, der in einer bloßen Unkenntnis (* Über Gott) besteht, zum wissenschaftlichen und historischen Atheismus, der dagegen auf einer völligen vergifteten Durchsetzung (* mit der systematischen Leugnung Gottes) beruht? - Der Modernist weiß ja nicht, ob Gott in die Weltgeschichte eingegriffen habe oder nicht. Mit welchem Recht einer logischen Beweisführung darf er nun den Schluß ziehen, man müsse ebendiese Geschichte so erklären, als habe Gott tatsächlich nicht eingegriffen? Das verstehe, wer kann. Trotzdem gilt es für die Modernisten und es steht für sie fest: die Wissenschaft und auch die Geschichte dürften keinen Gott kennen. In deren Bereich gäbe es nur Raum für Phänomene ( * = sinnlich Wahrnehmbares), und darum müsse Gott und alles Göttliche daraus vertrieben werden.
((Hl.) Papst Pius X., Apostolisches Rundschreiben Pascendi Dominici Gregis vom 8. September 1907; Freude an der Wahrheit Nr. 20, Karl Haselböck, Wien 1977/1991, S. 7)
Es ist ein Grundpostulat der modernen, wertfreien Wissenschaft: die Wissenschaft und auch die Geschichte dürften keinen Gott kennen. Mit diesem Postulat entsteht aber ein ganz neues, gegen den Glauben gerichtetes Denken, sodaß ein Katholik bedenken muß:
Dies alles, Ehrwürdige Brüder, steht in Gegensatz zu dem, was Unser glorreicher Vorgänger Pius IX. lehrend überliefert hat (Breve an den Fürstbischof von Breslau vom 15. Juni 1857): In allem was die Religion betrifft, hat die Philosophie nicht zu herrschen, sondern als Magd zu dienen; sie hat nicht vorzuschreiben was man glauben müsse: sondern es in vernünftiger Unterwerfung zu durchdenken; sie hat nicht die Tiefe der göttlichen Geheimnisse zu ergründen, sondern sie fromm und demütig zu verehren. Dieses Verhältnis stellen aber die Modernisten völlig auf den Kopf-, und so läßt sich auf sie anwenden, was ein anderer Unserer Vorgänger, Gregor IX., über einige Theologen seiner Zeit schrieb (Brief an die Professoren der Theologie zu Paris, vom 7. Juli 1228): Einige unter Euch sind vom Geiste der Unwahrheit wie ein Schlauch aufgebläht und suchen durch ruchlose Neuerungen die von den Vätern gesetzten Schranken zu durchbrechen. Sie wollen den Sinn der vom Himmel stammenden Heiligen Schrift ... nach den philosophischen Lehren der Vernunft beugen: um mit vorgespiegelter Wissenschaft zu täuschen, nicht um auch nur irgendwie ihre Hörer zu fördern. ... Durch allerlei fremde Lehren irregeführt, machen sie den Kopf zum Schwanze und zwingen die Königin, ihrer Magd zu dienen.
(Ebd. S. 20f.)
Von solch klarer, heute würde man wohl sofort sagen „polemischer“ Redeweise sind wir inzwischen weit entfernt. Die Wissenschaftsgläubigkeit geht inzwischen so weit, daß kein Theologe es mehr wagt, die wahre Rangordnung der Erkenntnis überhaupt noch zu verteidigen. Wenn man daher zu einer katholischen Grundhaltung zurückkehren möchte, muß man zuerst diese wahre Rangordnung wieder herstellen. Solange man aber die systemimmanenten Widersprüche nicht klar herausgearbeitet hat, wird man nicht in der Lage sein, den Ernst der Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Glauben und den modernen Wissenschaften richtig einzuschätzen. Der erste Modernismus zeigt uns beispielhaft, wie notwendig das ist. Der Katholik kann nicht dauernd in einem inneren Zwiespalt leben – etwa zwischen der Schöpfungsgeschichte und der Evolutionstheorie, um nur ein Beispiel zu nennen – er muß sich früher oder später einmal für eines der Systeme entscheiden. Dabei wird mit der Zeit natürlich die Gefahr immer größer, daß er sich für die „sichere“ Erkenntnis der modernen Wissenschaft entscheidet, also gegen den Glauben. Der erste Modernismus führt uns diesen Prozeß vor Augen – vom übernatürlichen Glauben zum natürlichen Glauben – vom natürlichen Glauben zur Wissenschaftsgläubigkeit – und von der Wissenschaftsgläubigkeit hin zum Atheismus. Alles wohl gemerkt unter dem Mantel der Frömmigkeit. Zur Zeit Gregors IX. war schon dieselbe Grundhaltung bei einigen Gelehrten zu beobachten: „Durch allerlei fremde Lehren irregeführt, machen sie den Kopf zum Schwanze und zwingen die Königin, ihrer Magd zu dienen.“
3. Schlussfolgerungen
Überschaut man nun das ganze System mit einem Blick, so wird sich niemand über Unsere Bezeichnung verwundern, daß Wir mit Bestimmtheit erklären: es ist die Zusammenfassung aller Häresien. Hätte sich jemand die Aufgabe gestellt, Geist und Kern aller Glaubensirrtümer, die es je gegeben hat, zusammenzutragen, so hätte er dies nicht besser verwirklichen können, als es die Modernisten verwirklicht haben. Ja. sie sind noch weiter gegangen als alle und haben nicht bloß die katholische Religion, sondern - wie bereits bemerkt - jegliche Religion ( * NB: also übernatürliche und natürliche!) vollständig vernichtet.
(Ebd. S. 52f)
Bedenkt man dieses Urteil des großen, heiligen Papstes, so wird deutlich, daß der Modernismus nur als System überwunden werden kann. Der Modernismus vergiftet das ganze Denken des Menschen, er macht unfähig zu einer übernatürlichen Religion. Ein wesentlicher Aspekt dieses Systems ist die Wissenschaftsgläubigkeit, wobei man ergänzen muß gegenüber einer wertfreien, d.h. atheistischen Wissenschaft. Solange man darum nicht zu einer kritischen Beurteilung der modernen Wissenschaften zurückfindet, wird man auch den Modernismus nicht wirklich überwinden können, weil man letztlich kein wahrhaft katholisches Weltbild und damit keine katholische Weltsicht und damit wiederum kein katholisches Urteilsvermögen mehr besitzt. Hier wäre ein ungeheures Aufgabenfeld für eine katholische Forschung, das aber seit Jahrzehnten brach liegt, da die katholischen Wissenschaftler durch die Modernismuskrise nicht mehr in der Lage sind, gegenüber der modernen Wissenschaft wissenschaftskritisch zu denken und zu forschen.
Dietrich von Hildebrand stellt ebenfalls fest: „Die Aufgabe, die wissenschaftlichen Beobachtungen und Schlüsse von den philosophischen Voraussetzungen und Interpretationen zu unterscheiden, ist heute dringender als je zuvor. Das ist eine wichtige Aufgabe für christliche Philosophen und Theologen. Indem sie sie erfüllen, werden sie erweisen, daß alle Widersprüche zwischen wissenschaftlichen Entdeckungen und geoffenbarter Wahrheit nur scheinbar bestehen. Die Grundlage für die Erfüllung dieser Aufgabe ist eine tiefe Verwurzelung in der philosophisch erkennbaren Wahrheit und ein unerschütterlicher Glaube an die geoffenbarte Wahrheit, sowie das klare Verständnis für ihren absoluten Primat“ (Dietrich von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, Verlag Josef Habbel Regensburg, Zweite ergänzte Auflage, S 68).
Solange das aber nicht geschieht, besteht keine Hoffnung, den Modernismus überwinden zu können und wieder zu einer wahren, katholischen Weltdeutung zurückzufinden. Im Geheimen wird man doch immer den Götzen „moderne Wissenschaft“ anbeten müssen in der verzweifelten Angst vor immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche den Glauben immer neu in Frage stellen. „Es genügt, laut zu fordern, etwas müsse um der Wissenschaft willen untersucht werden, um alle Einwände dagegen zum Schweigen zu bringen. Die Wissenschaft wird eine Art Götze, dem ohne Zögern alles übrige geopfert wird. So groß die echten Errungenschaften der Wissenschaften sind und auch das Gut, das sie für den Menschen bedeuten vor allem die Entdeckungen der Medizin - so absurd ist es, die Wissenschaft für das größte Gut für den Menschen zu halten oder gar für das höchste Gut in sich“ (Ebd. S 169). Dabei wird man ständig unbewußt gezwungen zu übersehen, daß im Grunde der Glaube als solcher schon lange systemimmanent geleugnet wird. Nur wenn man aus dem System ausbricht und zu den wahren Grundsätzen zurückkehrt, wird man die große Gefahr des Modernismus überwinden können und zu einem wahrhaft katholischen Denken zurückfinden.