Der Sophist befand sich auf Jagd nach dem verderblichen Gelichter der „Rigoristen“ und „Eiferer“, die immer in seine Gefolgschaft einbrachen und diese durcheinanderbrachten, indem sie von der „Konzilskirche“ redeten - als ob es eine solche überhaupt gäbe und es nicht vielmehr Tatsache sei, daß es „keine andere Kirche als die römisch-katholische“ gibt! Freilich konnte man beklagen, daß diese „vom liberalen Geist durchdrungen, entstellt und fast unkenntlich geworden“ sei. Nie und nimmer könne man aber „von einer real existierenden anderen Kirche sprechen, sondern von der Entstellung und dem Niedergang der wahren römisch-katholischen Kirche“, so das Credo des Sophisten. Eine „schlimme Krankheit“ habe deren Autoritäten befallen und es gehe nicht an, „gegen die kranke, aber von Gott gesetzte Autorität der Kirche anzukämpfen“.
Solcherart in seine redlichen Gedankengänge vertieft, traf er eines Tages bei seinem Streifzug im Wald ein Mädchen, das eine rote Haube trug und mit einem Korb, worin sich Wein und Kuchen befanden, unterwegs war zu seiner Großmutter, die ein Häuschen im Walde bewohnte. Der Sophist, nachdem er sich überzeugt hatte, daß er es bei dem Mädchen mit der auffälligen roten Kappe nicht etwa mit einem „Rigoristen“ zu tun habe, erbot sich schließlich, sie mit seinem Gewehr zum Haus ihrer Großmutter zu begleiten, damit sie nicht etwa gefährlichen „Eiferern“ in die Hände fiel.
Unterdessen war jedoch der Böse Wolf in das Haus der Großmutter eingedrungen, hatte sie – ungeachtet ihres zähen Alters – gefressen und sich mit ihrer Haube und Brille versehen in ihr Bett gelegt, um als Nachtisch auf den deutlich zarteren Happen des Mädchens zu warten. Als das Rotkäppchen eintrat, erschrak es sehr über die „Großmutter“, die dort auf einmal im Bett lag, und machte sofort kehrt, um zu fliehen. „Halt, gemach!“ bremste da der Sophist, der hinter dem Mädchen ins Zimmer gekommen war. „Wo willst du hin? Wieso läufst du davon?“ „Nichts wie weg!“ rief das Kind, „da im Bett liegt nicht meine Großmutter, sondern der Böse Wolf! Der will mich verschlingen!“
„Aber nein“, beruhigte der Sophist das Mädchen. „Das kann gar nicht sein. Höre: In diesem Haus wohnt doch nur deine Großmutter. Du hast nur diese Großmutter. Also kann nur sie es sein, die dort im Bett liegt. Es ist ja ihr Bett und sie trägt ja auch ihre Haube und ihre Brille. Sie ist nur krank, darum liegt sie auch im Bett.“ „Aber warum hat sie so große Augen und so große Ohren und so einen großen Mund?“ „Sie ist eben von ihrer Krankheit durchdrungen, entstellt und fast unkenntlich geworden.“ „Was?!“ rief das Mädchen entgeistert. „Ja. Man kann nicht von einer real existierenden anderen Großmutter sprechen, sondern nur von der Entstellung und dem Niedergang der wahren Großmutter“, fuhr der Sophist ungerührt fort. „Sie sind ja verrückt! Hilfe! Lassen Sie mich gehen! Und nehmen Sie endlich Ihr Gewehr und schießen Sie den Wolf tot!“ „Nichts da, hiergeblieben!“ fuhr der Sophist sie an. „Eine schlimme Krankheit hat deine Großmutter befallen, aber es geht nicht an, deswegen gegen deine kranke, dir von Gott gegebene Großmutter anzukämpfen.“
Dem Bösen Wolf, der vom Bett aus mit zunehmender Verblüffung und offenem Maul diesem Dialog gelauscht hatte, wurde die Sache allmählich doch zu sonderbar. Schnell sprang er hervor, verschlang das Mädchen und auch den Sophisten. Und noch während er mit sattem, vollem Bauch zum Wald trottete, hörte man aus seinem Wanst die dumpfe Stimme des Sophisten: „...nur deine kranke Großmutter, hörst du, Mädchen?“